Teil 27 * Die Bücher 23

Liebste Marie!

Die Zeit heilt alle Wunden! heißt es. Doch wie viel Zeit muss man da einplanen? Das sagt einem keiner! Mehr als ein halbes Jahr ist vergangen, und nichts ist besser geworden, nichts ist geheilt! Im Gegenteil.

Die Dinge mit Paul spitzen sich zu! Heute war sein Scheidungstermin. Ich hätte mitkommen sollen, zum Händchenhalten, aber es ist der erste Schultag. Er hat natürlich frei bekommen, aber ich habe gar nicht gefragt! Wäre ja auch lächerlich!

Es gab eine Notfallscheidung, weil die Alkoholabhängigkeit Jennys aktenkundig war.
Das Familiengericht hat ihm das alleinige Sorgerecht zugesprochen, das ging auch überraschend problemlos über die Bühne. Ich musste da kurz aussagen, aber es war alles offensichtlich.

Nach einer Wohnung hat er sich natürlich nicht umgesehen, es war ihm alles zu viel.
Um Nico kümmert sich meine Mutter, wenn wir Männer in der Arbeit sind. Ansonsten hausen wir in einem typischen Männerhaushalt, manchmal komme ich mir vor wie bei „Two and a half Men" - nur ohne Frauen!
Nico fängt an zu laufen, ist mega-anstrengend! Irgendwie habe ich manchmal das Gefühl, im falschen Film zu sein!

Anstatt, dass ich mit dir, Marie, mein Leben genieße, lebe ich mit einem Kumpel, der nahe an der psychischen Störung ist, einem zwar süßen, aber manchmal auch nervigen Kleinkind in einer total überfüllten Wohnung, die einmal mein Rückzugsort gewesen war.
Aber so komme ich wenigstens kaum zum Grübeln. Manchmal, wenn mir alles zu viel wird, schnappe ich mir meine Gitarre und haue ab.

Anfangs wollte Paul immer noch mitkommen, doch mittlerweile hat er es schon kapiert, dass er mir diese Zeit geben muss, damit ich nicht komplett durchdrehe.
Ich habe keinen Plan, wie das mit den Vorbereitungen klappen soll in der nächsten Zeit. Mein Computer ist begraben unter Kinderspielzeug, seiner steht auf der Anrichte in der Küche.

Wahrscheinlich bleibe ich einfach nachmittags in der Schule.
Ja, Marie, so ist mein Leben zurzeit!
Wie es wohl dir ergeht?
Hast du dich neu verliebt?
Wohnst du noch in deinem Haus?
Wo arbeitest du?

Ich hoffe nicht, dass Paul jetzt wieder davon anfängt, zu dir zu fahren. Hat er eigentlich deine Adresse?
Von mir bekommt er sie auf alle Fälle nicht, das kann er vergessen!

Ich fange heuer mit einer Fünften an, wir sind Modelschule, starten einen Versuch, bei dem eine Lehrkraft die Schüler in den Hauptfächern von der Fünften bis zum Quali führt. Das wird eine Umstellung, das sind ja für mich Babys. Ich hatte immer nur Sieben, Acht, Neun!

Andererseits ist es wunderbar, denn laut Schülerliste kommt die Hälfte von deiner Grundschule, das heißt, die meisten davon wirst du in deinen Gruppen gehabt habe, was auf eine gute Erziehung hoffen lässt.

Es ist schon seltsam, oder auch nicht, aber alle meine Kollegen sind sich einig, dass du ein ganz besonderes pädagogisches Talent hast, einschließlich meines Chefs. Immer wieder fragten wir uns, warum du nicht auf Lehramt studiert hast, aber dann waren wir auch wieder froh, dass du es nicht gemacht hast. Ich kannte dich ja vom Hörensagen her schon ein paar Jahre, aber da warst du immer die Buchner, sorry!

Eigentlich hätte ja jemand mal erzählen können, wie gut du aussiehst, dann hätte ich dich schon längst anbaggern können! (Grins)
Hätte ja auch nichts geholfen! (Seufz)

So! Der erste Tag ist rum, war ganz erträglich. Sind gar nicht so schlimm, die Kleinen, wie ich befürchtet hatte. Vor allem deine, wie ich es erwartet habe, sind sehr respektvoll, aber durchaus selbstbewusst.

Ich hoffe nur, du hast deinen Job nicht an den Nagel gehängt.
Vielleicht studierst du ja auch doch noch weiter.
Obwohl ich finde, dass du Förderlehrerin bleiben solltest! Weil gerade die schwachen, die auffälligen Schüler jemanden brauchen, der sie aufbaut. Das kann ein Klassenlehre, der allen gerecht werden muss kaum leisten.

Ich finde deinen Beruf unheimlich wichtig. Nur den ganzen Verwaltungskram sollte man euch abnehmen! Das habe ich nie verstanden, wie man eine wichtige pädagogische Fachkraft für Sachen einteilt, die ein Hausmeister genauso machen könnte!

Oder der Quatsch mit der Vertreterei! Jede Schule bräuchte zwei, drei Förderlehrer und eine mobile Reserve dazu, die die Unterrichtsausfälle auffängt!
Warte nur, bis ich Kultusminister bin! Dann ändere ich alles!

Oder - wir beide gründen eine Privatschule! Aber keine für die verzogenen Prinzen und Prinzessinnen, sondern eine für die Unterprivilegierten.
Eine, in der sie nicht lernen, ihre Namen zu tanzen, sondern Rechnen und Schreiben pauken!

Aber eben fördernd und aufbauend, respektvoll und sorgend! Das war eigentlich mein Traum, als ich beschloss, Lehrer zu werden, dass Schule so sein sollte! Aber der Alltag sieht leider anders aus!
Wir sollten das mal ins Auge fassen, schöne, kluge, empathische Marie!

Niklas, der mit einer Frau eine Schule gründen will, von der er nicht einmal weiß. ob sie ihn auf der Straße noch kennen würde oder auch möchte!

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Hallo Kladde!

Mir ist zutiefst langweilig! Ich bin zwar schon ziemlich rund, aber Schwangersein ist ja bei Gott keine erfüllende Tätigkeit.
Ich lese, besuche Sophie in ihrer Boutique, treffe mich mit meiner Mutter in der Stadt zum Essen, gehe mit Hans und Laura ins Kino, aber es bleiben immer noch so viele Stunden am Tag übrig, die ich füllen muss!

Das tue ich dann eben wieder mit Erinnern! Und das ist nicht gut für mich.
Auch nicht gut sind die Geburtsvorbereitungskurse, weil ich die einzige Frau bin, die keinen Partner dabeihat, der mit ihr das Hecheln übt.

Die mitleidigen Blicke gehen schon ziemlich unter das dicke Fell, das ich mir wachsen gelassen habe.
Aber da muss ich durch. Hans hat mir angeboten, dass er mitkommt, aber so weit möchte ich Lauras Freundschaft dann doch nicht strapazieren.

Gestern habe ich doch tatsächlich an der Schule vorbeigeschaut. Es gab ein großes Hallo, das hat mir so gutgetan. Ich hatte Kuchen mitgebracht, das kommt im Lehrerzimmer immer gut an.
Das ist ein seltsames Phänomen: Ganz egal, was da hingestellt wird, wird innerhalb von Stunden verputzt!

Marion saß auf ihrem Platz mit einem verbissenen Blick, schien mich kaum wahr zu nehmen.
Der Chef bat mich ins Rektorat, ließ sich müde auf seine Stuhl sinken. „Die überlebe ich keine zwei Jahre!" begann er. „Mindestens einmal pro Woche rufen Eltern an, weil sie die Kinder so fertig macht! Sie kommt zu spät, geht dafür zu früh, hat ein ärztliches Attest, dass sie keine Pausenaufsicht machen kann, wenn sie kopieren soll, schrottet sie das Gerät innerhalb von Minuten!"

Ich musste mir das Lachen verbeißen. Irgendwie fand ich das Alles sehr lustig! Auf Ideen kam das Mädel!
Der Chef lachte mit. Schon kurios, das Ganze!
„Also, wann fangen Sie wieder an?"
„In zwei Jahren!" antwortete ich.

Dann war die Pause vorbei, die Schüler kamen zurück ins Haus, viele umarmten mich, beschossen mich mit Fragen, warum ich denn nicht mehr da war, erzählten, wie doof die Frau Brunner war. Ich war froh, dass ich einen weiten leichten Mantel anhatte, dass man meine Schwangerschaft nicht gleich bemerkte. Zu leicht hätte es über Geschwisterkinder Niklas zugetragen werden können. Und ich wollte nicht, dass er es so erfuhr!

Oder dass er womöglich dachte, das Kind sei von Benni!
Dass ich womöglich schon schwanger gewesen war, als ich ihn getroffen habe!
Dass ich womöglich sogar versucht habe, ihm ein Kuckuckskind unterzuschieben!
Ich verließ lieber die Schule. Ohne zu bemerken, wohin ich fuhr, bog ich in die Straße ein, an der der Parkplatz seiner Schule lag.

Mein Blick fiel auf sein Auto, ich erstarrte, als er in Gedanken versunken ausstieg.
Ich fuhr beinahe in den nächsten Wagen, als ich an seinem Blick bemerkte, dass er mein Auto erkannte. Ich drückte vor Schreck das Gaspedal durch, raste mit quietschenden Reifen los. Im Rückspiegel sah ich, dass er mir nachrannte.

Er sah so verdammt gut aus! Das war mein erster Gedanke gewesen, als ich ihn gesehen hatte. Die Haare etwas länger, leicht verstrubbelt, braun gebrannt, eine lässige Lederjacke, die langen Beine in engen, verwaschenen Jeans. Das alles hatte mein Gehirn in Sekundenschnelle abgespeichert.

Zu Hause fiel ich, noch immer atemlos, aufs Sofa, ließ wieder einmal die Tränen laufen!
Warum hast du nicht angehalten! fragte mich meine innere Stimme. Er ist dir nachgelaufen! Deinem Auto nachgelaufen! Er wollte dich sehen! Er wollte mit dir sprechen! Du hättest es ihm heute sagen können! Die Stimme brüllte immer lauter, und es half auch nicht, dass ich mir die Ohren zuhielt.

Marie, die wohl nie mehr die Beine auf den Boden bringen wird!


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