Kapitel 57
Vielleicht hatte Barbara ihnen den richtigen Weg gewiesen, damit diese Zwillinge, seine Kinder, das Licht der Welt erblicken konnten?
Er war schon ein wenig esoterisch angehaucht, glaubte an Dinge zwischen Himmel und Erde, die der gesunde Menschenverstand nicht erklären konnte.
Er nahm sich vor, in den nächsten Tagen zu Barbaras Grab zu gehen, ihr seine Kinder und die Liebe seines Lebens vorzustellen, falls sie Anteil an seinem unglaublichen Glück hatte.
Er hielt Anja während der ganzen Zeit fest in seinen Armen. „Irgendjemand hat gewacht die ganze Zeit über uns! Hat uns die unglaublichen Zwillinge geschenkt, hat uns unser Glück und unsere Liebe bewahrt!" flüsterte er
„Vielleicht Barbara?" flüsterte sie zurück. Und wieder einmal war er mehr als überrascht über ihre Fähigkeit, seine Gedanken zu lesen, sich in ihn einzufühlen.
„Ja, vielleicht Barbara!" stieß er hervor.
Als die Kinder wieder auftauchten, hielten die Eltern sich noch immer im Arm, versunken in Gedanken an vergangenes Glück und ein bisschen Leid, aber auch ganz viel zukünftiges Glück.
Sie wischten sich schnell die Augen trocken. „Weint ihr?" fragte Florian ängstlich. Hoffentlich musste der Papa nicht wieder fort!
„Ja!" sagte Anja. „Wir müssen wieder einmal ein wenig weinen, weil wir uns alle so lieb haben!"
Die Eltern setzten sich auf je einen Stuhl, zogen je ein Kind auf ihren Schoß.
Chiara zeigte ihrem Papa das Blatt, das sie in Händen hielt: „Wir haben dir einen Brief geschrieben!" verkündete sie stolz.
Lukas las:
Schön
Es ist schön dass du da bist
Es ist schön dass wir einen Papa haben
Es ist schön dass wir Eltern haben
Es ist schön dass du uns in den Kindergarten bringst
Es ist schön wenn du uns in die Luft wirfst
Es ist schön dass die Mama immer lacht
Es ist schön dass du die Mama verliebt anschaust
Es ist schön dass wir Pommes essen dürfen
Es ist schön dass du singst
Es ist schön dass du uns liebhast
Darunter hatten sie eine Familie gemalt, Eltern mit Zwillingen, alle erstaunlich gut getroffen.
Lukas schob das Blatt Anja hinüber, legte sein Kinn auf Chiaras Kopf, ließ die Tränen laufen. „Das habt ihr sehr schön gemacht!" sagte er leise. „Dankeschön!"
Florian sah ihn ernst an. „Jetzt weinst du, weil du dich freust, oder?"
„Natürlich!"
„Nicht, weil wir so viele Fehler geschrieben haben?" sicherte sich Chiara ab.
Anja stand wortlos auf, Florian setzte sich auf Papas zweites Bein. Sie holte aus dem Schrank einen Rahmen, legte das Blatt hinein, schloss die Klemmen, schob es wieder zu Lukas zurück.
„Das hängen wir jetzt gleich auf! Kommt ihr mit?"
„Genau! Mamas Fotos musst du auch noch aufhängen!"
„Stimmt! Na, da kann ich schon Hilfe brauchen!"
„Stoppt mal kurz! Was wollt ihr heute Abend essen?"
„Pfannkuchen!" kam es wie aus einem Mund.
Lukas und Anja verzogen das Gesicht. Sie hassten beide Süßspeisen als Hauptmahlzeit! Er blinzelte ihr zu, lächelte sie an. „Genau! Pfannkuchen für das schöne Bild!"
„Aber das Bild hättest du auch ohne Pfannkuchen bekommen!" versicherte Florian.
Lukas verstrubbelte die Haare seines Sohnes. „Ich weiß schon! Deshalb gibt es heute Pfannkuchen einfach so! Okay?" Und wir beide machen uns später ein paar Brote! dachte er und wusste, dass Anja dachte wie er.
Beide dachten wieder einmal gleichzeitig zurück, dieses Mal an die Zeiten ihres ersten Schullandheimaufenthaltes.
Sie fuhr eine Woche im Juni weg. „Nutze die Zeit!" ermahnte sie ihn wieder einmal blödsinniger Weise.
„In Ordnung!" sagte er nur.
Rutsch mir den Buckel runter! dachte er.
Sie fuhr mit Uschi, ihrer besten Freundin, die er mittlerweile auch gut kannte und sehr mochte, wie auch deren Ehemann.
Sie hatte ihm vorher erzählt, dass es das Schlimmste für sie war, dass es so oft Mehlspeisen gab, wovon ihr regelmäßig schlecht wurde.
Sie telefonierten täglich. Am ersten Abend sagte sie, es hätte Kaiserschmarren gegeben, sie war in einem Heim, dessen Leiterin kein Verständnis für ihre Abscheu hatte, die sich geweigert hatte, ihr ein Wurstbrot zu machen. Deshalb saß sie nun mit knurrendem Magen am Telefon.
Er hatte zwei Pizzen geholt und war 90 Kilometer gefahren, hatte an ihr Fenster geklopft, sie hatten zusammen gegessen, einen Piccolo getrunken, die Pizza kalt, der Sekt warm, aber nie hatte ihnen eine Mahlzeit besser geschmeckt!
Danach hatten sie sich die ganze Nacht geliebt, leise und heimlich, nie war die Liebe bis dahin schöner gewesen! Er hatte ihr Dosenwurst und Brot für die nächsten Notfälle mitgebracht und eine Flasche Wein, damit sie am Telefon miteinander anstoßen konnten.
„Eigentlich hatte ich gehofft, dass du die Zeit besser nutzt!" hatte sie beim Abschied im Morgengrauen gesagt.
Er zog sein Unterlid mit dem Finger nach unten, sein Zeichen für: „Das glaubst du ja selbst nicht!" und sagte: „Ich habe ja noch ein paar Tage!"
Im Jahr darauf hatte er sich zwei Wochen in einem Hotel am Ort einquartiert, sie verpflegt, wenn Süßes auf dem Speiseplan stand. Uschi war eingeweiht, so manche Nacht stahl sie sich davon, um sie bei ihm zu verbringen.
„Einen One-Night-Stand mit einem hübschen Jungen!" hatte sie es genannt, und ihm war es egal, wie sie es nannte, Hauptsache war, er konnte sie in den Armen halten.
Sie hatte viel riskiert damals, das war ihm aber nicht klar gewesen! Für ihn war es ein Abenteuer gewesen, prickelnd und süß!
„Warum nutzt du diese Tage denn nicht besser?" hatte sie wieder gefragt.
Wie sollte ich sie denn noch besser nutzen? hatte er gedacht.
Sie tauchten auf aus den Erinnerungen. „Ich war gerade im Schullandheim!" gestand sie.
„Ich weiß! Ich war dabei! Die Nächte im Hotel waren nicht ohne, oder?" flüsterte er.
„Nein, ganz und gar nicht! Das waren die heißesten Juninächte meines Lebens!" flüstere sie zurück.
„Aber du hast viel riskiert damals!" erklärte er.
„Ich habe jedes Mal mit dir mein Leben riskiert!" Sie küsste ihn in Erinnerung an die Tage und Nächte in seinen Armen. „Aber ich habe auch jedes Mal mein Leben gefühlt wie nie vorher!"
„Und ich habe ums Sterben nicht meine Zeit in deinem Sinn genutzt!"
„Zu meinem allergrößten Glück!"
Schließlich ging Lukas mit den Kindern nach oben ins Arbeitszimmer.
Anja machte den Pfannkuchenteig, briet eine große Ladung.
Sie füllte einen Teil davon mit Hackfleisch und Zwiebeln, bestrich den anderen Teil mit Marmelade, stellte alles im Backrohr warm.
Dann stieg sie die zwei Stockwerke nach oben zu ihrer Familie.
Ihre Familie!
Der Gedanke nahm ihr wieder einmal den Atem.
Lukas, der Vater ihrer entzückenden Kinder war da, war zurückgekommen, war zu ihr gekommen nach fünf Jahren.
Ein wahnsinnig hübscher Junge hatte fünf Jahre lang nichts Besseres gefunden als sie.
Ein junger Mann, dem alle Blicke folgten, wenn er durch die Straßen ging, wenn er in einer Disco war, war nach fünf Jahren zu ihr zurückgekommen!
Warum ?
Warum gerade sie?
Fünf Jahre Heidelberg, die Damenwelt war ihm mit Sicherheit zu Füßen gelegen!
Aber er war zu ihr zurückgekommen!
Warum?
Weil du hübsch bist, Anja!
Weil du gut für ihn bist, Anja!
Weil dir die Männerwelt zu Füßen liegt, Anja!
Weil du keine graue Maus bist, die dankbar sei muss für das Interesse eines Mannes, Anja!
Du weißt es!
Du verstehst es!
Du bist ihm ebenbürtig!
Du bist Anja!
Du bist alles, was er je wollte!
Und sie wusste, dass die Stimme in ihrem Kopf die Wahrheit sagte!
Dass sie den Kopf hoch tragen konnte, es damals schon hätte tun können, trotz der sechs Jahre Altersunterschied!
Die Männer hatten sie umschwärmt, wie Motten das Licht, waren an ihren Lippen gehangen, weil sie witzig, spritzig war und gut aussah!
Hatten ihr Komplimente gemacht, er hatte ihr Komplimente gemacht, Liebeserklärungen, ihr Liebesbeweise geliefert, und sie war vor lauter Komplexen blind und taub gewesen, und dumm, wahnsinnig dumm dazu!
Sie war so verunsichert gewesen durch Peter, der sie betrogen hatte, obwohl er immer gesagt hatte, er könnte ohne sie nicht leben, sie dürfte ihn nie verlassen, weil er sonst sterben würde!
Aber da waren sie Teenager gewesen, hatten keine Ahnung von der Liebe gehabt, hatten gedacht, wenn es beim Küssen prickelt, wäre das Liebe!
Hatten nie den Absprung geschafft, sich nie eingestehen können, dass eine Jugendliebe nicht immer die Zeiten überdauern konnte!
Hatten geheiratet, obwohl sie wussten, dass es mehr Freundschaft als Liebe war, hatte sich der Chance beraubt, die wirkliche , echte Liebe zwischen Mann und Frau zu finden, hatten die Augen verschlossen, weil die Familien es so erwartet hatten!
Hatten gedacht, das Beste daraus zu machen!
Und hatten sich viele Jahre ihres Lebens dadurch kaputt gemacht!
Und doch - all diese Fehler der Vergangenheit hatten direkt zu diesem Faschingssamstag geführt, der ihr das größte Glück gebracht hatte: Lukas und ihre Kinder!
Und dafür schien ihr der Preise nicht zu hoch bezahlt!
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