Kapitel 56


Die Erwachsenen fütterten sich mit den Fritten, wie sie es schon beim ersten Rundlauf durch die Stadt getan hatten, berührten sich dabei immer sanft, wie zufällig an den Lippen.
Lukas schloss die Augen, holte tief Luft.

„Das hat mich schon beim ersten Mal fast um den Verstand gebracht, wenn deine Finger so zart über meine Lippen gestrichen haben! Viel größer hätte die Portion damals nicht sein dürfen!" flüsterte er ihr zu.

„Meine Finger? Meine Finger haben gar nichts gemacht! Deine Finger haben mich gequält, aber sowas von!" hielt sie ihm leise entgegen.
„Das hätte ich niemals gewagt!" Seine lächelnden Augen straften seine Worte Lügen.
„Ich hatte so weiche Knie, dass ich froh war, dass du den Arm so fest um mich gelegt hattest!"

„Da habe ich mich nur an dir festgehalten!" gestand er sieben Jahre danach.
Er nahm sie in den Arm und küsste sie. Wieder eine schöne Erinnerung, die ihm nach Jahren noch den Atem nahm. Die Kinder sahen wieder einmal zur Seite, verdrehten die Augen. Ein Ehepaar saß am Nachbartisch, die Frau musste herzlich lachen.

„So sind die immer!" erklärte Chiara. „Entweder sie küssen sich oder sie flüstern!"
„Wir wissen aber nicht, ob wir komische Eltern erwischt haben, weil wir noch nie welche hatten!" fügte Florian hinzu.

Das Ehepaar hielt sich den Bauch vor Lachen. „Nein, ihr habt keine komischen Eltern erwischt! Das ist normal, wenn Eltern glücklich sind!" beantwortete die Frau die Frage der Kinder.
„Na, Gott sei Dank!"

Die komischen oder glücklichen Eltern klinkten sich wieder in die Wirklichkeit ein.
„Was erzählt ihr Plaudertaschen da schon wieder?" fragte Anja.
„Nichts!" wehrte der Mann ab. „Wir haben uns nur ein bisschen unterhalten mit ihren reizenden Kindern!" Plötzlich stutzte er. „Sie sind doch Anja Berentz?"

Anja war das unangenehm. Ihr Privatleben hatte sie stets streng geschützt. „Ja!"
„Und das sind Ihre Kinder und ihr Mann?"
„Das ist ihr hübscher Junge! Der war lange an der Universität!" platzte Chiara wieder einmal heraus.
„Chiara, es reicht jetzt!" Lukas' Ton war relativ scharf.

Sie verzog das Gesichtchen. „Nein, da brauchst du jetzt auch nicht weinen! Du kannst nicht immer alles herausplappern!"
„Dann bocke ich eben!" drohte sie an.
„Dann bockst du eben!" Lukas war unbeeindruckt.

Anja grinste in sich hinein.
Willkommen, Vater! dachte sie.
Anja bat das Ehepaar: „Es wäre nett, wenn meine Privatleben privat bliebe! Ich kämpfe seit Jahren darum, dass nicht alles in die Öffentlichkeit kommt!"

„Nein, um Gottes willen, ich bitte Sie!" Der Mann war relativ entrüstet. „Deshalb frage ich nicht! Von uns erfährt niemand etwas! Wir sind nur große Bewunderer von Ihnen! Die letzte Talkshow war echt super! Ich glaube, wir haben alle gesehen! Sie haben sehr gute, vernünftige Ansichten für so eine junge Frau!"

 Er wandte sich an Lukas: „Sie müssen sehr stolz sein auf ihre tolle Frau!"
Der lächelte den älteren Mann an: „Ich bin sogar außerordentlich stolz auf meine außerordentlich tolle Frau!"
„Was machen Sie, wenn ich fragen darf?"

„Ich mache demnächst meinen Facharzt für Kinderheilkunde." Er war froh, dass er mittlerweile etwas vorweisen konnte.
Damals hatte er immer sagen müssen: „Ich werde Medizin studieren."
Oft gab es dann mitleidige Blicke auf Anja.
Du Ärmste! Musst ihn aber noch lang durchfüttern! bedeuteten die. Keiner hatte nachgefragt, keiner geahnt, dass er Geld genug hatte!
Angenehm war das auch nicht immer gewesen.

„Aha!" meinte der Mann. „Da passen Sie ja gut zusammen!"
„Ja, gut zusammengepasst haben wir schon immer!" lächelte Lukas.
Die Kinder gingen noch eine Runde Hüpfen und Rutschen. Lukas nahm Chiara auf den Arm: „Aber mach ein bisschen langsam, Süße, ja?"
„Okidoki! Dir zu Liebe!"
„Das ist nett von dir! Dankeschön!"

Sie küsste ihn schnell noch ein paar Mal, hatte ganz vergessen, dass sie eigentlich bocken wollte! Aber so einem hübschen, netten Papa konnte man nicht lange böse sein! Sie hielt sich auch wirklich an ihr Versprechen, hielt sich mit Florian an den Händen, hüpfte brav im Kreis herum.
Lukas hielt seine wunderschöne, strahlende Anja im Arm, konnte sein Glück wieder einmal kaum fassen.

„Ist das wirklich möglich, Schönheit, dass ich erst vor einer guten Woche am Gartentor stand?"
„Ja, aber bei uns warst du ja immer!" antwortete sie.
„Natürlich! Wo sollte ich denn sonst gewesen sein!" Seine Augen liefen schon wieder fast über. „Ich freue mich so über und auf das Leben mit euch, Anja! Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr!" Er nahm sie in den Arm, drückte sie fest an sich, würde sie nie wieder loslassen, sein ganzes Leben nicht!

Um fünf kamen vier glückliche Mitglieder der Familie Sieber-Berentz nach Hause.
Der Anrufbeantworter meldete fünf neue Nachrichten.
Die erste war von Holger, der sich entschuldigte für sein blödes Benehmen und Anja bat, die Umbuchung rückgängig zu machen.

Er klang sehr zerknirscht, sehr ehrlich. Sie war fast gewillt nachzugeben , ihm noch eine Chance zu geben, bis sie Lukas' mahlende Kiefer sah.
Er würde nichts sagen, aber der andere hatte ihn verletzt, hatte versucht, ihn vorzuführen, ihn zu demütigen, hatte seine Kinder dazu benutzen wollen.
Deshalb kam es für sie nicht in Frage nachzugeben, ihr Mann, der Vater ihrer Kinder stand an allererster Stelle!

„Der Volltrottel!" sagte sie nur. „Das kann er knicken!"
Lukas atmete erleichtert auf.
Der zweite Anruf kam von seinen Eltern, die ihnen nur einen schönen Sonntag wünschen wollten.

Der dritte von Sonja und Oliver, die sie an den Geburtstag ihres Vaters und die Grillfeier erinnern wollten, der nächste von ihrem Vater, der ihr versicherte, dass es nicht schlimm wäre, wenn sie die Zeit für sich und die Familie bräuchten und nicht zur Feier kämen.
„Es kommen ja noch mehr Geburtstage, aber diese Tage sind für euch wichtiger!" schloss seine Ansage.

Anja und Lukas hatten Tränen in den Augen. Der fünfte Anruf schließlich war von Anna, Peters Freundin, die fragte, ob sie die Kinder vielleicht am Mittwochnachmittag abholen könnten, aber nur, wenn es ganz sicher in Ordnung ginge.
Sie arbeiteten die Rückrufe ab. Holger sprach sie aufs Band: „Vergiss es! Denk vielleicht in Zukunft vorher nach!"

Seine Eltern rief Lukas zurück, er berichtete von dem schönen Familientag, was seine Eltern zu Tränen rührte.
Anja gratulierte ihrem Vater zum Geburtstag, versprach, das Geschenk in den nächsten Tagen vorbeizubringen.

„Mein schönstes Geschenk habe ich schon vor einer Woche bekommen, Anja! Ein vor Glück strahlendes Töchterchen!"
Dann rief sie noch bei Anna an, machte aus, dass sie die beiden vom Kindergarten abholen könnten und gegen fünf nach Hause bringen sollten.
Lukas blitzte sie an. „Heißt das, wir haben den ganzen Mittwoch sturmfreie Bude?"

„Ja, mein Schatz, dann können wir endlich einmal gründlich Hausputz machen!"
„Mh, aha, okay! Hausputz!" kam es lächelnd von ihm.
„Ja, das muss auch sein!"
„Natürlich! Hausputz muss unbedingt sein! Keine Frage!" Er küsste sie ganz zärtlich: „Und mit dir zusammen ist Hausputz mit Sicherheit die schönste Sache der Welt!"
„Na ja! Vielleicht die zehntschönste Sache der Welt!" räumte sie ein und küsste ihn sehr zärtlich.

„Danke für deine Reaktion auf Holgers Anruf!" sagte er eine Weile später. Er hatte gefühlt, dass sie eigentlich hatte nachgeben wollte.
„Lukas, du bist meine Number One! Warst es immer schon! Ich habe in den zwei Jahren Geburtstage vergessen, Freundschaften vernachlässigt, sogar meinen Job manchmal schleifen lassen, weil ich bei dir sein wollte, mich nicht trennen konnte von dir! Wenn du mit mir zu einem Musical fliegen wolltest, habe ich die Aufsätze eben ein paar Tage später rausgegeben, ich habe so getan, als würde ich im Flugzeug korrigieren, aber ich konnte doch meine Augen nicht von dir losreißen! Wie oft bin ich vollkommen unvorbereitet in den Montag gegangen! Vor dem Tag der Beurteilung zur Verbeamtung habe ich mit dir durchgefeiert, weil ich dich nicht verlassen wollte! Es hat mir nie geschadet, aber ich habe es durchaus riskiert! Nur, dass ich das alles aus Liebe getan habe, habe ich nie kapiert! Aber heute kann ich eben diese Dinge aus Liebe tun!"

Er fasste kaum, was er da hörte!
Sie hatte immer die Taffe gespielt, alles war in Ordnung! Und hatte doch ihren geliebten Beruf aufs Spiel gesetzt wegen ihm, wegen ein paar Stunden mit ihm! Er hatte keine Ahnung gehabt, wie sehr sie ihn geliebt hatte, schon damals!

Er war ständig mit irgendwelchen Verrücktheiten angekommen, wollte ihr die Zeit zum Nachdenken nehmen, wollte sie ablenken von ihren Plänen, sich einen passenden Partner zu suchen!

Manchmal war der Schuss nach hinten losgegangen, hatte er ihr Gelegenheiten zum Suchen auf den Präsentierteller gelegt, aber sie hatte nie gefunden, was sie suchte. Einen Partner, bei dem alles besser passte als mit ihm.

Sie hatte nicht zugeben wollen, dass es Liebe war, um nicht verletzt zu werden. Und er hatte nicht verstanden, wie groß ihre Liebe wirklich war, weil er zu jung war! Zu vernarrt in sie, zu vernarrt in seine Liebe zu ihr, zu unreif, zu sehr Junge, zu wenig Mann! Vielleicht hätte er nicht sooft sagen sollen: Ich will!

Vielleicht hätte er öfter fragen sollen: Willst du?
Andererseits hatte er schon auch immer das Gefühl, dass sie wollte!
Dass sie gerne verrückt war mit ihm zusammen!
Dass es eigentlich eher ihrem Wesen entsprach, als die angepasste Anja, die sie viele Jahre gewesen war!

Doch ein wenig mehr Rücksicht hätte er vielleicht nehmen sollen!
Aber, wie er heute schon einmal gedacht hatte, es war trotz allem gut, wie es gekommen war!
Was, wenn sie eine normale Beziehung geführt hätten?
Gut, sie wären glücklich gewesen, hätten sich geliebt!
Aber hätte er sich all die verrückten Unternehmungen einfallen lassen?

Hätten sie all diese Kurztrips, diese Reisen nach Fuerteventura, diese Urlaube in den Bergen unternommen?
Wohl kaum!
Er hätte es ja nicht nötig gehabt, um ihre Liebe zu kämpfen, zu werben!

Wären sie heute ein ganz normales Paar im siebten Jahr, ohne Kinder?
Und wenn sie zur Zeit seines Studiums in Heidelberg ein festes Paar gewesen wären, hätten sie sich aufgerieben mit einer Fernbeziehung, beschränkt auf Wochenenden und Semesterferien?

Hätte er sein Studium in der Geschwindigkeit durchziehen können?
Hätte er eine so gute Doktorarbeit schreiben können?
Wohl kaum!
Hätte sie ihre Bücher geschrieben?
Wohl kaum!
Preise bekommen? Talkshows bestritten?
Niemals!

Sie hätte auf ihn gewartet, er hätte auf sie gewartet!
Sie hätten die Zeit miteinander verbracht, die sie so in all das gesteckt hatten, das sie zu dem gemacht hatte, was sie heute waren!

Es hätte keine Schmerzen wegen der Trennung gegeben, aber es hätte eben vieles andere auch nicht gegeben, allem voran die Kinder!
Und waren nicht all die Schmerzen für diese unglaublichen Kinder gerechtfertigt?

Es war richtig, es war gut, es war sehr gut, wie alles gekommen war!
Irgendjemand hatte ihnen den Weg gewiesen!
Plötzlich dachte er an Barbara, seine Zwillingsschwester, die vielleicht ihr Leben geben musste, damit er, der Stärkere, überleben konnte? Vielleicht waren sie so sehr eins gewesen wie seine Zwillinge?


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