Kapitel 51
Lukas brauchte eine Weile, bis das Blut in seinen Kopf zurückkam. Die Kinder drängten, dass sie endlich mit dem Spielen anfingen.
Aber erst musste er noch etwas mit den beiden besprechen, das ihn seit gestern beschäftigte. Ein Bild hatte sich in seiner Seele eingebrannt: Der verliebte Idiot, der seine Tochter benutzte, um ihm eins auszuwischen.
„Chiara, Florian, ich möchte noch mit euch reden!" begann er. Die beiden sahen ihn ängstlich an. Das klang ernst!
„Nein, keine Angst, ihr habt nichts falsch gemacht! Aber ich habe mich gestern geärgert, als Holger Chiara auf den Arm genommen hat und sie geküsst hat, obwohl sie das nicht wollte. Das tut man einfach nicht! Und wenn das irgendeinmal noch jemand macht, euch streichelt, küsst, auf den Arm nimmt, und ihr wollt das nicht, dann dürft ihr ganz, ganz böse sein, ja? Ihr dürft schreien, kratzen, zuhauen! Ihr dürft euch wehren, ihr müsst euch wehren, versteht ihr?"
Die beiden sahen ihn verständnisvoll an. „Ja, gut! Das machen wir!" versicherten sie.
„Versprochen? Ihr müsst keine Angst haben, dass wir schimpfen! Auch Kinder haben das Recht, sich zu wehren, okay?"
„Okay!"
„Dann give me five!" Sie schlugen sich ab und fingen an zu spielen.
Anja hatte ihr Laptop angeschaltet. Band 12 war fertig geschrieben, der Verlag hatte schon vorsichtig angefragt, ob sie bis August fertig sein könnte. Bis zum Weihnachtsgeschäft hätten sie noch gerne zwei weitere Bände.
Das Schreiben war nicht das Problem, zeitaufwändig waren die Zeichnungen. Sie holte ihren Block und die Buntstifte, fing an. Die Arbeit ging ihr gut von der Hand, die Stifte flogen nur so übers Papier, die Zeichnungen wurden besser als je zuvor. Innerhalb von zwei Stunden hatte sie alle Illustrationen für den Band fertig.
Wow! dachte sie. Das gibt es doch nicht! Die Liebe schien sie in ihrer Kreativität zu beflügeln. Bevor Lukas zurückkam, saß sie oft stundenlang vor einer Zeichnung, brachte keinen einzigen Strich zustande, ihre Tränen zerstörten manchmal auch noch das, was sie schon gezeichnet hatte. Sie vermisste ihn oft so sehr, dass sie aufheulte wie ein verletztes Tier, und sie fühlte sich auch genauso.
Tausend Mal haderte sie mit ihrem Entschluss, ihn wegzuschicken, tausend Mal rechtfertigte sie diesen Entschluss als den einzig richtigen.
Tausend Mal wollte sie ihm über seine Eltern Bescheid geben von den Kindern, tausend Mal unterließ sie es aus Panik.
Tausend Mal hoffte sie, tausend Mal war sie sicher, dass ihre Hoffnung sinnlos war.
Tausend Mal verfluchte sie ihn für seine Worte nach dem letzten Sex, tausend Mal verzieh sie diese im Schmerz gesagten Worte.
Tausend Mal versank sie in tiefstem Schmerz, tausend Mal erinnerte sie sich an das größte Glück.
Tausend Mal dankte sie Gott für die beiden Jahre und ihre wunderbaren Kinder, tausend Mal brach sie mit ihm, weil er ihr nicht geholfen hatte, ihre Komplexe zu überwinden.
Und jetzt war er zurückgekommen, nach fünf Jahren liebte er sie noch immer, sie liebte ihn sowieso noch immer, er saß zwei Stockwerke unter ihr, spielte mit ihren gemeinsamen Kindern, die er liebte und die ihn liebten. Und beinahe hätten ein paar Tränen des Glücks eine Zeichnung zerstört.
Sie sah zum Fenster hinaus, kam ins Träumen. Sie dachte wieder an ihre erste Woche. Sie kannten sich noch nicht gut genug, um locker miteinander umzugehen, hatten ständig Angst, sich zu verletzen, etwas Falsches zu sagen, zu tun.
Sie hatten ständig Hunger aufeinander, verstanden diese immer wiederkehrende Leidenschaft nicht, beide nicht!
Sie versuchten zu widerstehen, wollten nur Freunde sein, wussten, dass sie nicht zueinander passten, um eine Beziehung zu führen, wollten sich aber auch nicht trennen.
Ausrutscher folgte auf Ausrutscher, sie konnten die Hände nicht voneinander lassen, zogen sich magnetisch an.
Sie redeten viel, liefen immer wieder stundenlang durch die Stadt, hatten so viel Spaß miteinander, so viele gemeinsame Interessen.
Gingen tanzen, dreimal ins Kino, und hatten den Film noch immer nicht ganz gesehen, verzehrten sich nacheinander, kämpften dagegen an.
Er liebte sie jedes Mal auf diese unbeschreibliche Art, erfuhr auch höchste Lust und Erfüllung durch sie, sie merkte das schon.
Am Montag ging sie schwebend in die Schule, hatte aber auch Angst, er würde ihrer Aufforderung, sich eine Weile nicht zu sehen, folgen.
Mitten in einer Schulstunde überkam sie die Erinnerung an seine Hände, seine Lippen, sie musste tief durchatmen, um den Krampf in ihren Herzen zu überleben.
Kaum war sie zu Hause, läutete das Telefon.
Er fragte sie, wie es in der Schule gewesen war, ob die Kinder anstrengend gewesen waren, was sie für Fächer gehabt hatte.
Anja berichtete, verblüfft über sein Interesse.
Schließlich bat er mit heiserer Stimme, ob er kurz vorbeikommen könnte, sie konnte nur ein „Ja" hauchen.
Eine Viertelstunde später stand er dann vor ihrer Türe, dieser hübsche Junge mit den wilden Haaren, dem kleinen Ohrring, dem Lederband am Handgelenk, der Kette mit dem großen Kreuz um den Hals, dem Silberring am Zeigefinger, in einem seiner ausgefallenen, flippigen Shirts, einer knallengen Jeans, ausgewaschen und teuer, die seine langen Beine besonders betonte, einem Ledertrenchcoat, der seine Größe und seine breiten Schultern noch mehr hervorhob.
Ihr blieb die Sprache weg. Er gab ihr eine rote Rose, nahm sie in den Arm, sie atmete seinen Duft ein, und zum ersten Mal liebte er sie am Tag, aber nicht zum letzten Mal. Bei dieser Erinnerung blieb ihr wieder einmal die Luft weg.
An diesem Tag zog das Chaos in ihr Leben ein, und sie hieß es willkommen!
Sie war vor ihm 13 Jahre in einer Beziehung festgehangen, in der jeder Tag vorhersehbar war.
Sie hatte als brave Schülerin ein gutes Abitur gemacht, als brave Studentin Mathematik, Kunst und Germanistik studiert, als brave Referendarin eine 1.00 Prüfung hingelegt, als brave Ehefrau sechs Jahre durchgehalten, als brave Lehrerin gearbeitet.
Und wurde nun von einem Tag zum anderen ein Teil einer Nichtbeziehung mit einem hübschen, einem sehr hübschen Jungen, wurde flippig. Ihre Jeans und Shirts trug sie eine Nummer kleiner, ihre Röcke eine Handbreit kürzer.
Sie lachte und strahlte den ganzen Tag, wurde von der frustrierten Ehefrau zur sinnlichen Geliebten. Machte Nächte durch mit Liebe, Tanzen, Feiern, kannte sich manchmal selbst nicht mehr, mochte sich aber sehr!
Ab und zu drehte sie durch, machte Fehler, machte die Fehler wieder gut, liebte nicht, weil das nicht sein konnte und durfte, und liebte doch mehr als je in ihrem Leben!
Sie verletzte ihn und verletzte sich noch mehr damit.
Wenn sie nach einer wunderbaren Nacht grußlos aus seiner Wohnung verschwand, weil sie Angst vor ihrer Liebe bekam, hatte er manchmal Sex mit anderen Frauen.
Sie wusste das, roch einen fremden Duft an ihm, sah es in seinen Augen, wenn er ihrem Blick auswich.
Sie wusste, dass er sie bestrafen wollte, dass er suchte, wie sie es ihm aufgetragen hatte, aber es tat nicht richtig weh, er kam ja zurück zu ihr, er hatte wohl nicht gefunden, was er suchen sollte.
Sie wusste nie, wie und wann das Ende kommen würde, aber sie wusste, dass es kommen würde. Er musste studieren, seinen Weg gehen. Die Kinder waren natürlich nicht eingeplant bei ihren Überlegungen, aber es war gut, wie alles gekommen war.
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