Kapitel 49

Lukas wollte schnell danach greifen, aber sie war schneller. Doch dann stockte sie, hielt es ihm hin. „Das geht mich ja nichts an!"
„Doch Süße, das geht nur dich etwas an! Es war mir einen Moment lang ein bisschen peinlich, aber das ist ja Quatsch!"

Sie schlug das Heft auf, sah Noten und Texte darunter. Sie konnte vom Blatt singen, summte die Melodie des ersten Liedes, las die Worte dazu.
„Sometimes, anytimes, everytimes" stand da als Überschrift. Es waren wunderschöne Worte: was er manchmal gefühlt hatte, was sie irgendwann einmal fühlen würde, was sie gemeinsam immer gefühlt hatten und in der Zukunft fühlen würden

„You are" hieß das zweite Lied
„I see in your eyes" das nächste.
„I wish" das nächste und so ging es weiter, zwanzig Lieder, wunderschöne Melodien, wunderschöne Worte.
„Für mich?" brachte sie nur heraus.
„Für wen sonst?" fragte er zurück.

„Ich wusste gar nicht, dass du komponieren und dichten kannst!" sagte sie schließlich leise.
„Ich auch nicht! Es hat mir über die erste Zeit ein wenig weggeholfen!"
Sie nahmen sich in den Arm, mussten sich noch einmal den Trennungsschmerz von der Seele weinen.
„Singst du mir eines vor?" fragte sie, als sie sich etwas gefasst hatten.
„Oh, Süße!" Er räusperte sich. „Ich glaube nicht, dass ich im Moment eine Stimme zum Singen habe!"

„Dann singst du halt wie Brian Adams!"
Er holte seine Gitarre, räusperte sich noch einmal, fing mit dem ersten Lied an.
Anja lauschte gebannt jedem einzelnen Wort, verstand jeden Gedanken dahinter, wenn auch vieles nur angedeutet war. Sie lächelte, es machte sie nicht traurig, denn sie verstand die Hoffnung, die aus den Worten herauszuhören war.
Lukas sah und fühlte, dass sie verstand, erwiderte glücklich ihr Lächeln.

Dieses Lied hatte Lukas vor nicht allzu langer Zeit einer Frau vorgespielt, mit der er sich eine Beziehung hätte vorstellen können.

Nicht wie mit Anja auf Wolke sieben, aber für Wolke 5 hätte es reichen können.
Sie hatten noch nicht mit einander geschlafen, er wollte es langsam angehen.
Sie saßen am Neckarufer, er hatte für ein Picknick eingekauft und seine Gitarre mitgenommen. Vielleicht würde er heute Nacht bei ihr bleiben.

Er sang das Lied für sie. Als er fertig war, lachte sie. „Das kenne ich gar nicht! So ein rührseliges Lied passt aber nicht zu so einem taffen, großen Kerl wie dir!"
Lukas sah sie an, fing an zusammenzupacken.
Ingrid verstand nicht, was los war.

Was hatte sie denn Falsches gesagt? Es sollte doch eigentlich ein Kompliment sein! Er nahm sie kurz in den Arm. „Es tut mir Leid, Ingrid! Aber ich kriege die Frau, für die ich dieses Lied geschrieben habe, nicht aus meinem Kopf!"

Na, das konnte sie ja nicht wissen! Das war ja jetzt blöd gelaufen!
„Und jetzt? War's das dann?" fragte sie traurig. Sie hatte viel Gefühl in diese Beziehung investiert, spürte zwar immer eine gewisse Zurückhaltung von seiner Seite, hatte aber in den letzten Tagen das Gefühl, dass er sich ihr etwas öffnete.
„Ja, schon!" sagte er, drehte sich um und ging.
Ich habe es wieder einmal versucht, Anja! dachte er. Aber es geht nicht!
Auf Wolke fünf fehlte eben ein Großteil von dem, was ich brauche! dachte er im Weggehen.

Und heute dachte er daran, an welchen Kleinigkeiten es doch gehangen hatte, dass sie wieder zusammengekommen sind, seine süße Anja und er.
Hätte diese Frau anders reagiert, wäre er womöglich in einer Beziehung gewesen und wäre nicht zu Anja gekommen.

Wäre er ein paar Wochen später mit seiner Doktorarbeit fertig geworden, wäre Anja vielleicht inzwischen mit Holger zusammen gewesen.
Oder hatte das Schicksal es genauso eingerichtet?
Alles?
Das erste Treffen?
Die beiden Jahre?
Das vergessene Kondom?
Die fünf Jahre?

Wenn er jetzt die ganzen Texte las, war eigentlich kein einziger ohne Hoffnung .

Er war immer der Meinung, sie seien zutiefst traurig, wehmütig, melancholisch, so wie er sich eben fühlte, als er sie schrieb.

Aber hier, auf dem Sofa neben ihr, hörte er die Zukunft aus seinen Worten, ganz, als ob er immer sicher war, dass es einen Weg zurück zu ihr geben würde.
So wie sie die Filmkassetten bespielt hatte für ihn, hatte er diese Texte geschrieben für sie, für die gemeinsame Zukunft.

Er erklärte ihr seine Gedankengänge. Sie las die Texte noch einmal und stimmte ihm zu, zeigte auf Passagen, die das bestätigten. Auch hier waren sie einer Meinung.
„Wir wussten es beide!" sagte sie fassungslos.
Auch er war überrascht. „Ja, sonst hätte ich die Zeit wohl nicht überlebt!"

Lukas holte zwei Gläser Wein und zwei Zigaretten. Sie legten sich auf die Liegen, rauchten, nippten am Wein, sahen zu den Sternen hinauf. Zwei Sternschnuppen durchdrangen die Atmosphäre.
„Danke!" sagte Anja. „Ich habe keine Wünsche mehr! Fliegt woanders hin!"
Lukas lachte: „Jetzt schickt sie die Sternschnuppen auch noch weg!"
Sie boxte ihn auf den Arm. „Du Affe!"

Er räkelte sich wohlig auf der Liege. „Ach, ist das schön, ein Affe zu sein!" Der leichte Wind wehte ihren Duft zu ihm. „Und das Äffchen neben mir duftet wie die Sünde!" flüsterte er und schnupperte sich mit geschlossenen Augen zu ihr.
Aber er wollte den Abend noch nicht beenden, er wollte noch ein paar Erinnerungen genießen, auch wenn er schon wieder brannte vor Sehnsucht nach ihr.

„Komm, Süße! Jetzt kniffeln wir mal eine Runde!"
„Okay!" Sie freute sich auch, ein bisschen erinnern an ihre schönsten Stunden, auch wenn sie schon wieder solche Sehnsucht danach hatte, mit ihm zu schlafen, seinen duftenden Körper zu spüren, seine Hände, seine Lippen, aber es war erst neun Uhr, die Nacht war noch lang.
Schlaf schien sie überhaupt nicht zu brauchen, wenn er in der Nähe war.

Das war damals auch schon so gewesen! Sie hatten sich ganze Nächte durch geliebt, und am Morgen war sie zur Schule gefahren, hatte ihre Arbeit gut gemacht, hatte sich nie krankgemeldet, war auch nie krank gewesen.

Einmal hatten sie sogar eine Nacht vor einem Schulbesuch durchgemacht, Karten gespielt, getanzt, geschmust, getanzt, sich geliebt. Am nächsten Tag hatte sie Stufe zwei bekommen, die beste Beurteilung, die man in ihrem Alter bekommen konnte.
Natürlich war sie gut vorbereitet gewesen, das Zimmer war perfekt ausgestattet gewesen, die Unterlagen korrekt. Aber ihr Strahlen, ihr Glück, hatte die Schüler motiviert, zu Höchstleistungen angestachelt.
Ihre Selbstsicherheit, ihr Ruhen in sich selbst hatte den Schulrat überzeugt.

„Kannst du noch einhändig würfeln?" fragte Lukas lächelnd.
„Keine Ahnung, ich brauchte diese besondere Talent seitdem nicht mehr!"
Das war auch so ein Phänomen der Zeit mit ihr. Er konnte einfach nicht auf irgendeinen Körperkontakt verzichten.

Ständig musste er den Arm um sie legen, ob im Theater oder bei einem Konzert, bei Feiern, beim Einkaufen, entweder um ihre Schultern oder, noch lieber um ihre Taille. Wenn sie essen gingen, versuchte er immer ihre Hand zu halten oder zu berühren, ihr Gesicht zu streicheln, ihren Hals, er konnte seine Hände nicht von ihr lassen.

Beim Kartenspielen war das schwieriger, deshalb mochte er Würfeln lieber, das lernten sie einhändig, mit der anderen Hand konnte er seine Finger mit ihren verschränken.
Sie baute die Tablets auf, sie versuchten es, die Hände erinnerten sich noch daran, wie es funktionierte, mit der Rechten zu würfeln und die Linke auf dem Tisch in innigem Griff zu lassen.

Anja gewann knapp. Am Anfang ihrer Nicht-Beziehung hatte sie 90 Prozent der Spiele gewonnen, Lukas hatte sich immer gefreut, wenn er verlor. „Glück im Spiel, Pech in der Liebe! Das heißt, ich habe Glück in der Liebe!"

Dieser Kommentar stieß dann Anja bitter auf, denn es hieß ja, dass sie Pech in der Liebe haben würde, was wieder ihre Überzeugung bestätigte, dass es gar keinen Sinn hatte, ihn zu lieben. Eines Tages merkte er, wie blödsinnig sein Gequatsche war, strengte sich an, so dass das Ergebnis meist ausgeglichen war.
Das nächste Spiel gewann Lukas hoch, das nächste sie. Es ging hin und her.

„Heute würde es mir gar nichts mehr ausmachen, ständig zu gewinnen!" sagte Anja. „Dieser blöde Aberglaube hat mir damals nur das Leben schwer gemacht! Heute weiß ich, dass ich kein Pech in der Liebe haben werde! Nie mehr!" Er drückte ihre Hand.
„Weißt du noch, als wir die Flasche Champagner leergemacht haben?" fragte er aus heiterem Himmel.

„Und wir haben die ganze Nacht gekichert und gelacht, weil wir so beschwipst waren!"
„Nicht die ganze Nacht!" erinnerte er sie. „Einen Teil der Nacht haben wir auch gestöhnt vor Lust!"
Anja wurde schon wieder heiß. „Gestöhnt haben wir in manchen Nächten!"
„In vielen Nächten!" stimmte er heiser zu.
„In fast allen Nächten!" Sie verglühte beinahe.
„Wir waren verrückt nacheinander!" erinnerte er sich.
„Wir sind verrückt nacheinander!"
„Ich bin verrückt nach dir! Und wenn du jetzt nicht sofort mit mir schläfst, Schönheit, sterbe ich!"
„Wenn ich jetzt nicht sofort mit dir schlafe, sterbe ich, mein hübscher Junge!"

Dann war es gut mit dem Vorspielgeplänkel. Er zog sie langsam vom Stuhl hoch, nahm sie sanft und vorsichtig in die Arme, küsste sie auf seine unbeschreibliche Art, erregte sie bis zum Äußersten mit seinen streichelnden Händen, war bis aufs Äußerste erregt von ihrer Anschmiegsamkeit, die er noch immer unheimlich genoss.

Ließ ab von ihr, sah sie an, sog ihren Anblick in sich auf, sah seine Anja, seine geliebte Anja, die ihn wollte, die er wieder lieben durfte, die er jetzt auch unbedingt lieben musste.
Wie schon hundert Mal taumelten sie die Treppen hoch, ließen sich Zeit beim Ausziehen, sie hatten ja ein Leben lang Zeit, ließen sich Zeit bei der Liebe, die sie damals Sex nannte, weil es Liebe nicht sein konnte!

„Mein Schatz, nur zu deiner Information, das ist das letzte Kondom!" flüsterte er viel später. „Also, überlege gut, ob du es dir für später aufheben willst!"
„Ich habe noch eine Packung im Bad versteckt!" flüsterte sie zurück und presste sich an ihn.
Lukas erstarrte augenblicklich, schob sie von sich, setzte sich auf. „Wofür?" fragte er scharf. „Falls der verliebte Holger zu Besuch kommt, oder ein anderer?"

Anja erschrak über seinen Ton. „Und die, die du zufällig in deiner Hosentasche hattest am Samstag, waren die noch von Heidelberg übrig?" So nicht, mein Junge! dachte sie.
Lukas kitzelte ein Lachen. Dumm gelaufen! Er hätte eine neue Packung kaufen sollen! Jetzt fehlten ihm natürlich die Argumente.

„Gut gebrüllt, Löwe!" Er lachte leise. „Ich hatte vergessen, wie schlau meine Anja ist!"
Sie lachte mit, wollte die Sache jetzt auch nicht dramatisieren. Das war alles vorher!
„Falls, nur falls es dich interessiert, ich habe seit fünf Jahren eine Packung im Bad! Wenn sie abgelaufen waren, habe ich sie ersetzt durch frische, falls mein hübscher Junge zurückkommen sollte."

Er zog sie an sich. „Sorry!" sagte er leise. „Das war jetzt sehr daneben!"
„Warum spukt dir jetzt ausgerechnet der Holger dauernd durch den Kopf? Du hast doch gesehen, was das für eine linke Bazille ist!"
„Aber es war knapp, oder? Ich meine, wenn ich ein wenig später gekommen wäre?"
„Ich glaube nicht! Wenn ich mich mit Wolke 5 zufrieden gegeben hätte, vielleicht! Aber ich war ja zwei Jahre lang auf Wolke sieben, auch wenn ich es mir nie eingestanden hätte! Ich hab' s echt ein paar Mal versucht, Lukas, aber ich konnte mich nicht mehr verlieben!" Sie sah ihm in die Augen.

„Und wäre es so schlimm für dich gewesen, wenn ich mit einem anderen Mann geschlafen hätte in den fünf Jahren?"
Er dachte nach, er könnte das Thema beenden mit einer Lüge, er könnte sagen: „Nein, Süße, es würde mir nichts ausmachen!"

Aber die Wahrheit musste aus ihm heraus: „ Ja, es wäre schlimm! Weil ich weiß, dass du nur mit einem Mann schlafen würdest, in den du verliebt bist! Und das wäre das Schlimme daran, dass du dich verliebt hättest!"

Sie wollte nicht fragen, nicht um alles in der Welt wollte sie fragen, und doch musste die Frage heraus: „Und du? Hast du dich verliebt in der Zwischenzeit?"

Er lachte bitter. „Du weißt genau, dass das nach dir nicht mehr möglich war! Ich hatte es auch bis Wolke 5 geschafft, aber es hat eben wieder nicht gepasst! Gepasst hat nur die Frau, die eigentlich überhaupt nicht gepasst hat!"

Er küsste sie vorsichtig, wollte fühlen, ob alles gut war. Er wollte sie nicht lieben, damit alles wieder gut würde, er wollte sie lieben, wenn er sicher war, dass alles gut war!

Sie küsste ihn zärtlich zurück, alles war gut! Uns so kam auch das letzte Kondom aus seinem Vorrat zum Einsatz, für morgen hatte sie ja vorgesorgt! Lächelnd schliefen sie ein.
Es war schon verrückt, wie verrückt ich nach diesem Mann bin! war ihr letzter Gedanke.
Es ist schon verrückt, wie verrückt mich diese kleine Schönheit macht! war sein letzter Gedanke.


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