Kapitel 111

Ihre Gedanken gingen wieder einmal auf die Reise. Sie dachte an das erste Mal, als sie damals mit ihren Zwillingen nach Hause gekommen war. Alleine in ein leeres Haus, ohne Plan, ohne Liebe im Herzen. 

Nein, mit zu viel Liebe im Herzen und deshalb mit so viel Schmerz.
Doch sie hatte es geschafft! Ihre Kinder hatten ihr über die schwere Zeit hinweg geholfen!
Sie waren erst ein halbes Jahr alt, als sie wieder zur Arbeit gehen musste, als sie die beiden bei ihrer Mutter lassen musste.

Doch sie war auch froh gewesen, wieder in die Schule zurückzukommen, da hatte sie nicht mehr so viel Zeit zum Grübeln gehabt, zum Vermissen, zum Schmerz empfinden.

Sie hatte funktioniert wie eine Maschine. Aufstehen um fünf, die Kinder versorgen, einpacken, zu ihren Eltern bringen, in die Schule fahren, sechs Stunden Unterricht, zu ihren Eltern fahren, Mittagessen, die Kinder einpacken, nach Hause, für die Schule arbeiten, die Kinder versorgen, mit ihnen spielen, sie küssen, baden, ins Bettchen legen, weinen, vermissen, schreien vor Schmerz!

Später kamen dann die Bücher, die Talkshows, aber der Schmerz und die Tränen blieben.
Ihr Leben wurde wieder etwas chaotischer, und seit den beiden Jahren mit Lukas liebte sie das Chaos in ihrem Leben.
Von da an wurde es etwas leichter. Sie fühlte sich wieder mehr als die Anja, die sie mit ihm gewesen war.

Aber die Tränen kamen immer wieder, genau wie der Schmerz, der sie manchmal vollkommen unerwartet überfiel und ihr die Luft zum Atmen nahm.

Bei einem bestimmten Lied im Radio, zu dem sie getanzt hatten, bei einem Buch, das sie in die Hand nahm, das sie zusammen gelesen hatten, bei einem Liebesfilm, den sie zusammen gesehen hatten, aneinander gekuschelt auf dem Sofa, sie zwischen seinen Beinen. Wenn sie mit den Nachbarn im Biergarten war, wo sie mit Lukas so oft gewesen war, wenn sie durch die Stadt lief.

Die Gesandtenstraße und die Tiefgarage mied sie wie der Teufel das Kreuz. Da wäre sie an ihren Tränen erstickt.
Eigentlich mied sie ja einen Großteil ihrer Heimatstadt.
Der eine Teil war zu nahe an seiner Wohnung, der andere zu nahe am Club, der nächste zu nahe an einem ihrer Lieblingslokale.

Sie hasste das Donauufer genauso wie die Biergärten, die kleinen Bäckereien, in denen sie oft für ihr Frühstück eingekauft hatten, und sie hasste den Neupfarrplatz, weil da das Alex lag, wo sie sich nach dem Ball getroffen hatten.

Sie hasste die Dult, weil kein Lukas mehr da war, der sich in den verrückten Fahrgeschäften neben ihr seine Todesangst aus dem Leib gebrüllt hatte und der sie in der Geisterbahn niedergeknutscht hatte.
Als ein Hauch von Chaos zurückkam, wurde manches wieder erträglicher.
Die selbstbewusste Anja konnte besser mit dem Leben ohne ihn umgehen.
Ohne die Liebe ihres Lebens!

Längst hatte sie sich eingestanden, dass er genau das gewesen war.
Der verdammt hübsche Junge!
Aber es hatte einfach nicht gepasst für sie beide, obwohl es so wunderbar, so hervorragend, so fantastisch gepasst hatte!
Alles, einfach alles!
Im Leben und im Bett!
Im Bett und im Leben!

Ihr wurde klar, dass sie eine solche Liebe nie mehrerleben würde.
Sie suchte nach einer anderen, einer kleineren Liebe, traf sich mit Männern, versuchte das, was fehlte zu übersehen und schaffte es nie.
Das Kribbeln, das ihr an der Wirbelsäule hinauf und hinunter lief, wenn er sie nur ansah mit seinen Bernsteinaugen, es fehlte.

Die Atemlosigkeit, die seine Küsse auslösten, sie fehlte.
Das Lachen mit ihm, das sie alles vergessen ließ, es fehlte.
Die Wortgefechte, die sie bis zum Exzess durchführten, sie fehlten.
Die Diskussionen über die Sozialpolitik des Staates, sie fehlten.
Die Picknicks am Donauufer oder am Waldrand, sie fehlten.

Sie versuchte vieles davon mit anderen, alles war schal und nur ein schlechtes Plagiat der Wirklichkeit, der Wirklichkeit mit Lukas, die aber vorbei war.
Und dann war er wieder da.
Stand am Gartentor, nach fünf Jahren.
Von da an hatte sie ihr Leben zurück, hatte die Liebe zurück, hatte das Chaos zurück, hatte die Liebe ihres Lebens zurück.

Und dieses Mal würde sie sie festhalten, würde nicht wieder wegen der dummen Minderwertigkeitskomplexe alles in die Tonne klopfen.
Lukas kam mit zufriedenen, satten kleinen Zwillingen und vergnügt strahlenden großen Zwillingen zurück.
Chiara fiel ihr um den Hals. „Die sind so süß, die beiden!"
„Ja!" antwortete Anja gottergeben. „So süß wart ihr auch mal!"
„Und heute sind wir zuckersüß!" stellte die Tochter selbstbewusst fest.
Florian lachte Tränen.

Die war echt gut drauf, seine zuckersüße Zwillingsschwester!
Lukas küsste seine großen Kinder ab, und wieder einmal hatte er das Gefühl, sein Herz würde platzen.
Vier Kinder hatte er, hatten sie.
Vier wunderbare Geschöpfe, für die sie sorgen konnten, die sie lieben konnten.

„Ich koche dann mal Abendessen!" erklärte er mit belegter Stimme.
„Was gibt es?" wollte Chiara wissen.
„Mal sehen, was Oma eingekauft hat!" Er wusste es genau! Er wollte Anjas Lieblingsessen kochen.

Schweinemedaillons in Curry-Rahm-Soße mit Kroketten und Feldsalat.
Er hatte das einmal in seiner Wohnung für sie gemacht, sie hatte geschleckt wie ein Kätzchen. Den verzückten Ausdruck von damals wollte er heute unbedingt wieder sehen!
Die kleinen und die großen Kinder lagen an ihre Mama gekuschelt auf dem Sofa und Lukas kochte das Menü seines Lebens für die Liebe seines Lebens.

Als Vorspeise gab es Krabbencocktail, als Nachtisch Tiramisu. Die beiden Gänge standen schon fertig im Kühlschrank.
Mit jeder einzelnen Speise verbanden sie Erinnerungen. Den Krabbencocktail hatte er auf Fuerte für sie gemacht, sie hatte jedes Molekül der Soß eaufgeschleckt, danach erklärt, es habe sich eindeutig um ein Aphrodisiakum gehandelt, weil sie so verrückt nach ihm war wie nie zuvor.

An das Tiramisu hatten sie ähnliche Erinnerungen. Er hatte es einmal zu einem Picknick mitgebracht.
„Zieh mich hoch, heißt das!" hatte sie ihm erklärt.
„Ich weiß! Aber ich bin schon oben!" hatte er anzüglich geantwortet. „Ich bin auf zweitausend!"

Danach hatten sie sich lange, lange auf der Decke am Donauufer geliebt, waren eingeschlafen, im Morgengrauen aufgewacht. Frühstück hatte es an der Tanke bei Heiner gegeben, sie hatte sechs Stunden Unterricht in verknitterter, sandiger Kleidung gehalten. Mittags hatte er sie von der Schule abgeholt, sie hatten bei ihr zu Hause nahtlos an den Abend angeknüpft!

Mein Gott! Waren sie verrückt nacheinander gewesen!
Nicht verliebt! Nein! Nicht im Geringsten! Das hätte sie nie zugegeben! Aber sowas von verrückt!
Und heute? Heute waren sie noch verrückter nacheinander! Und sie konnte es zugeben, dass sie verliebt war, verknallt, dass sie ihn liebte!

„Essen!" rief er später. Sie packten die neuen Zwillinge in die Tragetaschen, alle setzten sich an den Tisch.
„Ah! Krabbencocktail!" Anja verstand sofort die Anspielung dieses Ganges. „Ich sage das Wort mit A jetzt nicht, sonst fragte unsere Tochter, was das ist, und der Abend wäre gelaufen." flüsterte sie ihm ins Ohr, aber nicht ohne ein paar Berührungen mit ihrer Zunge anzubringen.

Lukas küsste sie zärtlich. Sie hatte verstanden
Chiara verdrehte die Augen. „Siehst du, was ich meine?" fragte sie Phillip.
Der Hauptgang erfüllte seine Hoffnungen voll und ganz.
„Wow! Der Hammer!" stöhnte sie und schleckte den Teller ab.
Beim Nachtisch begann sie zu lachen. „Heute zieht er aber alle Register, der Herr Dr. Lukas Sieber, der hübscheste Junge der Stadt."

Die Kinder sahen sie verständnislos an. Aber sie wollte keine großen Erklärungen abgeben. Sie hatte auch gar nicht genug Luft dazu. Sie musste, sie musste, sie musste ihn jetzt lieben, haben, streicheln, fühlen, alles, alles, alles, sonst würde sie ersticken.

Sie redeten den Kindern ein, dass sie todmüde seien, brachten die Kleinen in ihre Bettchen, die Großen in ihre Betten und sich selbst endlich, endlich, endlich ins große Bett.
Sie streichelten sich, als wären sie am Verhungern, was sie ja auch waren.
Sie küssten sich, als wären sie am Verdursten, was sie ja auch waren.
Sie liebten sich langsam und zärtlich, was angesichts des Hungers und Durstes aufeinander an ein Wunder grenzte.

Sie liebten sich heiß, leidenschaftlich, stöhnten, flüsterten ihre Namen und ihre Liebesschwüre in ihre Küsse.
Sie rollten lachend durchs Bett, liebten sich noch einmal, überwältigt von grenzenloser Liebe.
Er sah ihr Lächeln, wenn sie gemeinsam den Höhepunkt erreichten, fühlte, wie ihre Hand danach sein Gesicht streichelte, wie in der ersten Nacht, als er seine schöne Lady das erste Mal lieben durfte.

Nichts hatte sich seit damals verändert! Er nahm das Geschenk ihres fassungslosen, glückseligen Staunens an wie damals, als sein Leben begann.
„Warum lächelst du so, schöne Lady?" fragte er.
„Weil es mir gut geht! Weil du mir gut getan hast!" antwortete sie.
„Du hast mir auch gut getan! Sehr sogar!" stieß er heiser hervor.

Er hielt sie die ganze Nacht in seinen Armen, wollte nicht schlafen, wollte sie fühlen!
Hatte sie so lange nicht gefühlt!
Hatte sie so sehr vermisst!

Nach Stunden öffnete sie die Augen, sah, dass er noch wach war, dass er sie einfach nur ansah.
Das Licht brannte noch.
„Liebe mich noch einmal, Lukas, damit ich weiß, dass ich am Leben bin!" flehte sie ihn an.
Langsam machen, hatte der Kollege im Krankenhaus gesagt, aber er schaffte es nicht, ihre flehende Bitte abzuschlagen.

Er gab ihr alles, was er ihr geben konnte.
Seine Liebe, seine Sehnsucht, seine Leidenschaft.
Und er fühlte, wie wieder einmal der Schmerz von seiner Seele abfiel und sie sich mit reiner Liebe füllte.
Seine Seele, die so viele Fasern hatte wie ihre, Fasern, mit denen sie sich liebten bis zum Wahnsinn.


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