Kapitel 109

Doch der sagte erlösende Worte. „Anja ist aufgewacht und die Zwillinge sind gesund zur Welt gekommen!"
Ben konnte nicht antworten, Tränen der Erleichterung liefen ihm übers Gesicht.
„Ich komme!" sagte er schließlich.
Er packte seine Gitarre, versuchte Micha zu erklären, dass er zu Lukas musste, schrieb ihr zur Sicherheit noch einen Zettel, auf dem er alles erklärte und fuhr zu seinem Freund.

Dann saßen zwei junge Männer, die sich seit fast 20 Jahren kannten, auf der Terrasse, spielten alle Melodien, die sie drauf hatten, tranken eine Flasche Rotwein zusammen, rauchten eine Schachtel Zigaretten, tranken eine zweite Flasche, spielten sich die Angst von der Seele, die sie monatelang gequält hatte.

Der eine um die Liebe seines Lebens, der andere um die lustige Prinzessin seines Freundes.
Nachbarn wunderten sich, freuten sich aber auch über die wunderbaren Gitarrentöne, die mitten in der Nacht aus Lukas' Garten durch die Straßen klangen.
Und sie ahnten, dass mit Anja alles gut werden würde!

Micha, die sich in ihren Mann sehr gut hineinfühlen konnte, brachte am nächsten Morgen den gemeinsamen Sohn zu ihren Eltern, kaufte Frühstück ein und fuhr zu Anjas Haus.
Sie versorgte die Zwillinge, machte einen extra starken Kaffee für die beiden vollkommen verkaterten aber auch vollkommen glücklichen jungen Männer, fuhr dann alle zu Anja, der jungen Frau, die ihr eine gute Freundin geworden war.

In der Klinik hatte sich die gute Nachricht in Windeseile herumgesprochen. Alle waren außer sich vor Freude, dass die wunderbare Frau des Doc Hollywood aus dem Koma aufgewacht war, dass sie gesunde Zwillinge auf die Welt gebracht hatte.

Sie schlief tief und fest, aber es war ein Schlaf der Erholung, kein Abdriften in die Dunkelheit, aus der sie selbst kaum herausgekommen war.
Sie wachte auf, merkte, dass sie die Hände heben konnte, dass sie die Augen öffnen konnte, versuchte ein paar Worte, merkte dass sie auch sprechen konnte, schlief glücklich wieder ein.

Die Schwestern und der Arzt sahen immer wieder vorbei, redeten ein wenig mit ihr, ließen sie aber auch wieder ausruhen.
Die Babys wurden liebevoll von den Säuglingsschwestern versorgt.
Besucher von Lukas' Station kamen vorbei, lächelten ihr zu, winkten durch die Glasscheibe.

Und dann endlich konnte sie ihre Großen wieder in die Arme schließen.
„Hast du jetzt mal ausgeschlafen?" fragte Chiara.
„Ja, meine Süße!" krächzte Anja und küsste ihre Tochter.
Florian stand strahlend neben ihrem Bett, kuschelte sich dann an sie. Die Mama war wieder da!

Lukas wischte sich wieder ein paar Tränen aus den Augen, bevor er sich zu seiner Frau beugte und sie an sich drückte. Dann begrüßte sie Ben und Micha, zeigte stolz Leonie und Phillip, die den ganzen Rummel vollkommen ungerührt hinnahmen.

„Der Papa hat einen Kater, hat Micha gesagt!" verkündete Chiara stolz ihr neues Wissen. „Was bedeutet das?"
Lukas sah etwas verlegen drein, Anja kicherte.

Er nahm seine vorlaute Tochter auf den Arm. Da hatte sie ja jetzt wieder einmal etwas zum Ausplaudern, nachdem die Familiengeschichte mittlerweile wirklich jeder kannte!
„Das bedeutet, kleine Plaudertasche, dass der Papa gestern sehr, sehr glücklich war, vor lauter Glück nicht einschlafen konnte, deshalb ein bisschen viel Wein getrunken hat und deshalb heute ein wenig Kopfschmerzen hat!" Er küsste die Kleine ab. „Aber vielleicht muss das nicht jeder erfahren!"

Chiara grinste ihn an. „Okidoki!" Sie sperrte ihren Mund ab und warf den Schlüssel fort.
Florian sah seinen Vater zweifelnd an. „Wie lange das halt anhält!" brummte er.

Anja sah ihre Kinder glücklich an. Sie waren enorm gewachsen, hatte Sachen an, die sie noch nicht kannte an ihnen, aber es waren ihre Kinder!
Es war auch ihr Mann, der zwar heute wirklich ein wenig zerknittert aussah, der sie aber liebevoll anstrahlte, ihre Hand hielt, ihre Finger streichelte.
Und da waren auch ihre Freunde Ben und Micha. Ben sah ähnlich mitgenommen aus wie Lukas.
„Ward ihr auf Kneipentour gestern?" fragte sie. Ihre Stimme klang schon wieder fester.

Ben erzählte ihr von Lukas' Anruf. Sie war sehr gerührt, drückte stumm die Hand des Freundes.
Die Schwestern brachten die Fläschchen für die Kleinen, Florian und Chiara durften die Babys halten und füttern. Die Familie war vereint und überglücklich, die Freunde sehr erleichtert, dass alles wieder gut geworden war. Lukas fuhr die beiden schnell zu ihren Autos, die noch vor seinem Haus standen.

Mittlerweile dürfte der Alkoholspiegel genügend gesunken sein, hoffte er zumindest mit etwas schlechtem Gewissen.
Die Zwillinge kuschelten sich einstweilen zu ihrer Mutter ins Bett. Sie hatten auch nicht viel geschlafen in dieser Nacht.

Als Lukas zurückkam, blieb er eine Weile vor dem Glasfenster stehen, um dieses wunderschöne Bild in sich aufzunehmen. Die Kleinen schliefen friedlich in ihren Bettchen, die Großen lagen neben seiner geliebten Frau.
Er schickte einen Dank zum Himmel, aber auch eine Bitte: „Jetzt reicht es aber mit Trennungen! Für mein ganzes Leben reicht es!"

Anjas Eltern kamen später vorbei, gingen mit den Kindern ein Eis essen. Lukas lächelte sein Süße an.
„Meinst du, wir schaffen es einmal, eine Schwangerschaft zusammen zu erleben?"
Sie kicherte. „Das glaube ich jetzt weniger!" Sie erinnerte sich an die Worte, die durch die schwammige Dunkelheit an ihr Ohr gedrungen waren. „Außerdem hast du gesagt, ich sehe aus wie ein Walross!"

„Hat ja auch gestimmt!" Er fuhr ihr liebevoll übers Haar, das er so oft in diesen Monaten gewaschen hatte, was immer eine ganz schöne Prozedur gewesen war. Aber er wollte, dass sie so schön war wie immer, dass sie sich wohlfühlte, wenn sie aufwachte. Er hatte ihr wunderschöne Nachthemden gekauft und bei den Schwestern durchgesetzt, dass sie nicht diese hinten offenen Fetzen anziehen musste. 

Er hatte ihre Windeln gewechselt, weil er wusste, dass es fürchterlich für sie wäre, wenn das ein Fremder machen würde. Ein Katheter war wegen der Babys und der Infektionsgefahr nicht möglich gewesen. Er hatte sie gewaschen, sie eingecremt, die Muskelübungen mit ihr gemacht, hatte ihr Bett immer wieder verstellt, damit ihr Kreislauf stabil blieb.
Die Schwestern hatten immer Tränen in den Augen, wenn sie sahen, wie liebevoll er sich um seine Frau kümmerte.

„Ich weiß! Ich kann mich noch erinnern, wie ich bei den Großen ausgesehen habe!" Sie streichelte sein Gesicht, sah die feinen Fältchen, die noch nicht dagewesen waren vor dem Unfall, sah die einzelnen grauen Haare in seiner dunklen Mähne.
Mein Gott! Was mochte er durchgemacht haben!
„Möchtest du darüber reden?" fragte sie leise, weil sie wusste, dass es ihm immer guttat, wenn er sich Dinge von der Seele schaufeln konnte.

Lukas nickte und fing an, die Last los zu werden, die ihn Monate lang immer stärker niedergedrückt hatte.
Er berichtete von der Durchsage, mit der das Unheil begonnen hatte, seinem Schock, als er sie auf der Bahre liegen sah, der Hoffnung, dass sie nur den Schock verarbeiten musste, von den Tagen und Nächten, die kamen und gingen, ohne dass sich etwas änderte, von seiner Verzweiflung, seiner Angst, seinen ganzen Aktionen, um sie wach zu bekommen. Von den ersten klitzekleinen Reaktionen, von Hoffnungen und Enttäuschungen, von seiner Wut am Ende, die echt gewesen war.

Die Tränen liefen bei beiden in Strömen.
„Ich habe alles gehört! Deine lieben Worte, die Lieder, die Kinder! Aber ich konnte nicht aus diesem zähen Brei auftauchen! Ich habe immer gedacht, es sind nur ein paar Tage vergangen!" Sie drückte seine Hand. „Und als du dann richtig böse warst, schaffte ich es, weil ich mich wehren wollte!" Sie lächelte ihn an.

Und dieses Lächeln entschädigte ihn für alles. Dieses Lächeln und ein Blick aus ihren wieder klaren Saphiraugen würden ihn immer entschädigen! Er riss sie in seine Arme, küsste sie leidenschaftlich, verlor sich fast in diesem Kuss.
Danach war er ernsthaft geknickt! Sie brauchte doch Ruhe!
„Sorry!" flüsterte er. Doch ihr Lächeln war dageblieben, keine Müdigkeit war zu spüren.

„Möchtest du ein wenig aufstehen?" fragte er.
„Ich war heute schon auf der Toilette und Duschen! Die Schwester hat mir ein wasserdichtes Pflaster auf die Wunde geklebt! Das war das Zweitschönste, was ich je erlebt habe!" Ihr charmanter, neckender Humos war auch wieder zurück. „Sie hat mir erzählt, was du alles für mich getan hast!" Tränen erstickten wieder ihre Stimme.
Er nahm sie in die Arme. „Pst, Süße! Nicht!" Er wollte nicht, dass sie sich im Nachhinein noch unwohl, hilflos oder verunsichert fühlte! Nicht sie! Nicht sein starkes Mädchen!

Und sie verstand, was er ihr sagen wollte!
Er war der einfühlsamste Mann der Welt, war es schon immer gewesen!
Auch mit 22 Jahren hatte er in ihren Gedanken gelesen, um sie nie zu verletzen, um sie zu bestärken in den kleinsten Kleinigkeiten, um sie voll und ganz zu verstehen!
Er hatte ihr nie nach dem Mund geredet, aber er hatte sie immer mit dem höchsten Respekt behandelt, mit dem ein Mann eine Frau behandeln kann. Im Bett wie im Leben.


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