Kapitel 107
Anja wunderte sich, wie schwarz Schwärze sein konnte. Sie sah nichts, sie hörte nichts, sie spürte nichts, sie fühlte nichts, sie schmeckte nichts, sie roch nichts. Sie war wohl tot!
Aber sie dachte doch!
Konnten Tote denken?
Sie dachte an den Lastwagen, der herüberzog, sie dachte an den Termin bei Christoph, als sie erfahren hatte, dass sie Zwillinge erwarteten, sich dachte an Lukas, sie dachte an Florian und Chiara, sie dachte an ihre Eltern, ihre Schwester, die schwanger war, ihre Schwiegereltern.
Aber warum war keiner da in dieser dunklen Schwärze?
Warum ließen sie alle alleine in diesem tiefen Dunkel?
Dann hörte sie wieder auf zu denken, verlor sich in der Nacht, die sie umgab.
Die Tage vergingen.
Lukas funktionierte im Dienst, die restliche Zeit, die von Tag oder Nacht blieb, war er bei Anja.
Er wusch sie, zog sie frisch an, streichelte sie, küsste sie, weinte, lachte mit ihr, schüttelte sie, weinte, küsste sie, streichelte sie.
Die Zwillinge lebten bei Oma und Opa Sieber, funktionierten in der Schule, weinten an Mamas Bett, küssten sie, erzählten ihr von der Schule, weil Papa sagte, das wäre gut für Mama.
Ihre Eltern kamen, erzählten ihr Geschichten aus ihrer Kindheit, weinten wie ihre Schwester und ihre Schwiegereltern.
Die Freunde kamen vorbei, weinten, erzählten ihr Geschichten von früher und von heute, küssten sie auf die Wangen, weinten viel.
Nach zwei verzweifelten Wochen bat der Chefarzt der Intensivstation Lukas zu einem Gespräch.
„Wir müssten Ihre Frau künstlich ernähren. Die Infusionen reichen nicht aus, um sie und die Babys zu versorgen! Aber wir haben eine Patientenverfügung vorliegen, dass sie das ablehnt, wenn sie unheilbar krank ist!"
Selten hatte er eine schwerere Unterhaltung geführt.
„Sie ist nicht unheilbar krank!" schrie Lukas. „Sie muss nur aufwachen!"
Mein Gott, sie würden doch seine Anja nicht sterben lassen, nur weil sie einmal so ein blödes Formular ausgefüllt hatte!
Da hatte sie doch noch nicht gewusst, dass sie schwanger werden würde!
Sie würde nie wollen, dass ihre Kinder starben!
Er wusste das!
„Gut! Dann ernähren wir sie, bis die Kinder geholt werden können!" versprach der Kollege.
Lukas erstarrte.
Sie würde aufwachen!
Bald!
Vielleicht morgen, oder nächste Woche!
Anja freute sich, dass das Dunkel ein wenig heller wurde.
Sie hörte Stimmen.
Sie hörte Lukas' Stimme!
Aber warum klang seine Stimme so traurig?
Und warum konnte sie ihn nicht trösten?
Sie hörte die Stimmen ihrer Kinder.
Aber auch sie weinten zu viel!
Weint doch nicht! Mama hat euch doch lieb! dachte sie.
Aber warum konnte sie ihnen das nicht sagen?
Sie hörte viele Stimmen, aber keiner konnte sie antworten!
Nach einiger Zeit fühlte sie auch wieder.
Sie fühlte Lukas' Hände, die sie streichelten!
Sie fühlte seine Lippen, die sie küssten!
Das war schön, wunderschön!
Aber er sollte dabei nicht weinen!
Sie musste ihm das sagen!
Sie musste die Augen aufmachen, in seine Bernsteinaugen sehen!
Aber die verdammten Augen gingen nicht auf!
Sie musste Florian und Chiara in die Arme nehmen, sie trösten, aber sie konnte es nicht!
Verdammt!
Warum konnte sie es nicht?
So viele Tränen wurden bei ihr geweint!
Dabei wurde doch sonst immer so viel gelacht bei ihr!
Warum konnte sie all den Menschen nicht sagen, dass sie glücklich war?
Dass sie auch glücklich sein sollten?
Wenn nur das Schwarz sie endlich loslassen würde!
Dann könnte sie all das sagen, was sie wollte!
Wenn sie nur ihre Augen öffnen könnte, dann würde sie alle liebevoll ansehen!
Wenn sie nur ihre Hände bewegen könnte, würde sie all die Tränen wegstreicheln!
Wenn sie nur sprechen könnte, würde sie allen sagen, dass alles gut wird!
Lukas gab nicht auf.
Woche um Woche verging.
Er brachte seine Gitarre mit, spielte und sang alle Lieder, die er für sie komponiert hatte, immer wieder, immer wieder!
Er legte seine Facharztprüfung in Neugeborenen-Medizin mit Bestnoten ab, er tat es für sie, damit sie stolz auf ihn war.
Er saß Stunde um Stunde an ihrem Bett, sprach mit ihr, war zärtlich zu ihr.
Die Zwillinge kamen täglich, auch wenn sie langsam Angst vor der stillen, schlafenden Mama bekamen.
Stundenweise fuhr er zu seinen Kindern nach Hause, damit sie wenigstens eine Konstante hatten. Er spielte mit ihnen, ließ sich von der Schule erzählen. Seine Eltern waren zu ihnen gezogen, damit die Kleinen ihr Zuhause wieder bekamen.
Anja liebte es, wenn ihr Lukas da war, wenn er zärtlich war, wenn er sie küsste, wenn er all die Lieder sang und spielte.
Aber es regte sie immer mehr auf, dass sie ihn nicht küssen konnte, dass sie zu ihm nicht zärtlich sein konnte!
Lukas sah an ihren Gehirnströmen, dass sie reagierte, auf die Lieder, seine Berührungen, seine Küsse.
Sie musste doch endlich einmal aufwachen!
Sie brauchte doch nur ihre Augen zu öffnen!
Er sprach mit seinen neuen Kindern, streichelte ihren Bauch.
Die Kleinen mussten schließlich seine Liebe spüren, seine Stimme hören!
Sie reagierte auch auf Florian und Chiara, auf ihre Verwandten, die Freunde, aber sie öffnete einfach ihre Augen nicht!
Bewegte sich nicht!
Er war nur noch ein seelisches Wrack, seine Kinder waren fertig vor Angst.
Sie wurde immer runder, der Ultraschall zeigte einen kräftigen Jungen und ein etwas kleineres Mädchen. Die Kinder entwickelten sich gut.
Als er erfuhr, dass es wieder ein Pärchen werden würde, setzte er sie unter Druck.
„Wenn du nicht aufwachst, du Biest, taufe ich sie Genoveva und Alfons, ich schwöre es dir!"
In ihr stieg ein Lachen hoch, schaffte es aber nicht an die Oberfläche.
Einmal verlor er ein wenig die Geduld, schüttelte sie leicht an den Schultern.
„Wach jetzt endlich auf! Du siehst aus wie ein Walross und verpennst einfach die Schwangerschaft!"
Der verrückte Kerl! dachte sie. Ich bin doch erst ein paar Wochen schwanger! Was redete er denn da?
Ihre Lippe zuckte ein wenig, ebenso wie ihr kleiner Finger.
Lukas bemerkte es und drehte fast durch.
War das eine Reaktion?
O Gott, bitte!
Das war doch eine Reaktion!
„Du solltest dich mal sehen!" zog er sie weiter auf. „Du hast fast nicht mehr im Bett Platz!"
Wieder bewegten sich die Mundwinkel und der kleine Finger.
Sein Herz schlug schneller, der Monitor zeigte deutliche Ausschläge bei ihren Hirnströmen.
„Wenn du bei den ersten beiden auch so ausgesehen hast, bin ich nachträglich froh, dass ich dich da nicht gesehen habe!"
Der freche Kerl! Anja wollte lachen, lachen, lachen. Doch die Schwäche und das Dunkel kamen zu schnell zurück.
Lukas war enttäuscht.
War es doch nur ein Reflex gewesen?
Nein, das war eine Reaktion!
„Morgen ärgere ich dich weiter, du Biest!" versprach er und küsste sie zärtlich.
Und fast hatte er das Gefühl, als würde ihr Mund weicher als sonst.
Von da an neckte er sie jeden Tag.
Er war frech, anzüglich, frivol.
Manchmal versuchte sie ein Lächeln, manchmal blieb sie regungslos.
„Ja, was ist jetzt Mädchen? Wachst du jetzt auf, du Dauerschlafmütze?" Tränen liefen ihm übers Gesicht.
Warum weint er dauernd, nur weil ich mich ein bisschen hingelegt habe? Ich bin doch so müde! dachte sie und driftete wieder in ihre Dunkelheit.
Dann platzte Ende des siebten Monats die Fruchtblase, ihre neuen Zwillinge wurden mit Kaiserschnitt geholt.
Ein Mädchen und ein Junge, ein zweites Pärchen wunderbarer Kinder!
Sie waren groß und kräftig, mussten nur ins Wärmebettchen.
Lukas versorgte sie liebevoll.
Seine Babys! Seine beiden wunderschönen Kinder! Leonie und Phillip! Wenn sie nicht aufwachte, suchte er eben die Namen allein aus! Basta!
Wenn sie nicht aufwachte! Der Schreck fuhr ihm vom Herzen in alle Glieder und zurück! Nein!
Er raste zurück zu Anja.
Der Arzt der Intensivstation sah Lukas ernst und traurig an.
Der wusste, was das bedeutete.
Sie würden die künstliche Ernährung einstellen!
Der Kollege hatte die Sonde schon gezogen.
Lukas war der Verzweiflung nahe, war kurz davor, vollkommen durchzudrehen.
Panisch lief er zurück.
Er nahm die beiden Babys, wickelte sie in eine Decke und trug sie auf die Intensivstation.
Dort legte sie ihr vorsichtig auf den Bauch.
„So, jetzt hör mir mal zu, du stures Weib! Hier sind unsere Kinder! Die Kinder, die wir unbedingt haben wollten! Du hast jetzt sieben Monate lang gepennt, weil du zu faul warst, schwanger zu sein! Aber jetzt reicht es! Du wachst jetzt auf und kümmerst dich um deine Brut! Und wenn nicht, gibt es ab sofort nichts mehr zum Essen! Also überlege es dir gut, verdammter Sturkopf!" Er schrie sie regelrecht an. Etwas musste doch helfen, verdammt noch mal!
Anja hörte ihren Lukas. Er hatte immer so lieb gesprochen mit ihr, die ganze Zeit. Er hatte ihr vorgesungen und vorgespielt, das war so schön gewesen! In letzter Zeit war er auch noch sehr lustig gewesen, hatte sie aufgezogen.
Aber heute war er böse mit ihr, richtig böse!
Er hatte gesagt, sie sei faul und stur!
Aber das stimmte doch gar nicht!
Sie hatte doch nur nicht aus dem verdammten Dunkel herausgefunden!
Sie musste ihm das jetzt sagen, damit er nicht mehr so böse auf sie war.
Und da waren doch zwei Babys auf ihrem Bauch?
Ihre Babys! Sie rochen so gut, sie fühlten sich so gut an!
Waren sie schon da?
Wieso waren die Babys schon da?
Sie zwang sich, die Augen aufzumachen.
Es war verdammt anstrengend!
Aber sie musste es schaffen!
Damit Lukas, ihr Lukas, nicht mehr so böse auf sie war.
Er sah sie gebannt an, sah wie ihre Lider flatterten.
„Mach jetzt die Augen auf! Sofort!" befahl er immer noch streng.
Ich versuche es ja!
Aber es ist so schwer!
„Faules Biest! Das kann doch nicht so schwer sein!" Er schimpfte immer weiter.
Jetzt reicht es aber!
Wie redest du denn mit mir? dachte sie, hob die Lider und sah ihn böse an.
Lukas' Herz blieb beinahe stehen, als er das erste Mal seit Monaten wieder in ihre Augen sehen konnte.
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