Kapitel 1
„Wie oft noch David? Ich will nicht, dass meine Tochter in ihrer Nähe aufwächst", hörte ich wie meine Stiefmutter leise, aber dennoch hörbar, mit meinem Vater eine Diskussion führte, während ich an unserem Wohnzimmer vorbeiging.
Lauschen wollte ich nicht und das musste ich auch nicht, um zu wissen, dass es im Gespräch gerade um mich ging. Um wen auch sonst? Derzeit hatte meine Stiefmutter keine anderen Probleme außer meine Präsenz in ihrem Leben. Nicht einmal ganze zwei Wochen waren vergangen, seitdem ich aus der Klinik raus war und wieder nach Hause durfte. ‚Nach Hause' - wie ein zu Hause fühlte sich dieser Ort seit meiner Rückkehr oder vielleicht auch seit längerem nicht mehr an. Genau so sehr wie meine Stiefmutter mich hier nicht haben wollte, wollte ich auch nicht hier sein. Doch im Moment hatte ich keine andere Möglichkeit.
„Sie ist meine Tochter, Lydia. Wenn du an deine denkst, dann muss ich auch an meine denken", erwiderte mein Vater und erst in dem Moment, als ich seine Stimme hörte, bemerkte ich, dass ich doch stehengeblieben war und angefangen hatte deren Gespräch zu lauschen. „Vergiss nicht, dass wir eine der vielen Gründe sind, warum sie es überhaupt getan hat", setzte meine Vater fort.
„Wieso sind wir schuldig, wenn Emilia psychisch krank ist?", entgegnete Lydia.
Krank - so beschrieben die meisten Leute mich, wenn sie meine wahren Gedanken über die Welt zu hören bekamen oder erfuhren, was ich vor wenigen Monaten getan hatte. Diese Leute versuchten meine Ansicht nicht einmal zu verstehen oder fragten auch nicht nach, warum ich so etwas getan hatte. Ich war nur krank in deren Augen - Emilia war krank.
Diesmal die Konversation meines Vaters und meiner Stiefmutter ignorierend, bewegte ich mich in Richtung Haustüre, wo ich meine Jacke und meine Schuhe anzog, bevor ich das Haus verließ.
Seufzend kickte ich paar Steine weg, während ich über das Gespräch meiner Eltern nachdachte. Die gleiche Diskussion würden sie morgen, übermorgen und am Tag danach führen - wie sie es gestern, vorgestern und am Tag davor gemacht hatten.
***
„Wie geht es dir denn heute, Emilia?", fragte mich mein Psychiater, Dr. Klein, nachdem ich auf der angenehmen, braunen Couch Platz genommen hatte.
Leider hatte ich mich zu meiner heutigen Sitzung etwas verspätet, genauer gesagt um zehn Minuten. Da ich doch ungewollt heute zu Hause gelauscht hatte, hatte ich die Uhrzeit komplett vergessen und als ich noch dazu die Bahn verpasste, war das Zuspätkommen nicht mehr verhinderbar.
„Ganz okay", beantwortete ich seine Frage und setzte ein falsches Lächeln auf, welches mittlerweile perfektioniert war. Die Leute in meiner Umgebung konnten mein falsches Lächeln von einem echten Lächeln nicht unterscheiden, wobei ich nicht einmal mehr wusste, wann ich zuletzt wirklich gelacht hatte.
Seit ungefähr vier Monaten war Dr. Klein mein Therapeut, welchen ich wöchentlich besuchte. Nach dem Vorfall von vor sechs Monaten hatte mein Vater die besten Psychiater in Wien für mich rausgesucht. Dr. Klein war nicht seine erste Wahl. Doch mit den ersten drei Ärzten konnte ich keine gute Beziehung aufbauen, weshalb es nur bei einer einzigen Sitzung blieb.
Doch Dr. Klein war anders. Wenn ich an unsere erste gemeinsame Sitzung dachte, musste ich schmunzeln. Er hatte mir keine Fragen gestellt, sondern mich nur angestarrt. Er war der Meinung, dass ich ihm alles erzählen würde, wenn ich mich dazu bereit fühlte. Aus diesem Grund verlief die erste Sitzung still, aber mit sehr viel Augenkontakt. Die zweite Sitzung war nicht viel anders, außer dass wir Smalltalk geführt hatten.
Erst in der dritten Sitzung hatte ich angefangen zu reden, auch wenn es ungewollt war. Ich hatte einen plötzlichen Nervenzusammenbruch vor ihm. Tränen strömten unkontrolliert über meine Wangen und Worte, die ich eigentlich für mich behalten wollte, verließen mein Mund.
Seitdem versuchte Dr. Klein unsere Sitzungen darauf aufzubauen, doch so anstrengend wie ich war, vermied ich das natürlich.
Ich fand nicht, dass Tabletten oder ein Arzt mir helfen konnten. Der Kampf, den ich führte, war in meinem Kopf, Wie sollte mir da Medizin helfen oder ein Arzt, welcher sich nicht einmal in meine Lage versetzen konnte? An gewissen Tagen dachte ich, dass mir niemand helfen konnte. Doch an anderen Tagen fragte ich mich, was wenn mir die richtige Hilfe noch nicht angeboten wurde?
Dr. Klein und ich gingen in der heutigen Sitzung seine üblichen Fragen durch, bevor wir uns eine Uhrzeit für nächste Woche ausmachten. Er hatte gleich von Anfang an bemerkt, dass ich heute nicht viel reden würde und er hatte mich auch nicht dazu gezwungen.
„Emilia, ich bin ehrlich und offen mit dir", eröffnete Dr. Klein erneut ein Gespräch, bevor ich seine kleine Ordination verlassen konnte. „Ich übe meinen Beruf seit Jahren aus und ich muss gestehen, dass es kleinwenig mein Ego kränkt, dass ich dich nicht einschätzen kann. Ich kann dir nicht sagen, ob du Fortschritte machst und dich besserst oder der Vorfall von vor sechs Monaten sich wiederholen könnte."
Der Vorfall von vor sechs Monaten. Der Vorfall, worüber keiner in meiner Anwesenheit sprach. Der Vorfall, den mein Vater versucht hatte als ein Unfall zu vertuschen, weil er seinem Ruf nicht schaden wollte.
„Keine Angst Dr. Klein. Ich werde nicht noch einmal versuchen, mich selbst umzubringen." Mit diesem Satz war das Gespräch für mich beendet.
Die Ordination von Dr. Klein befand sich im fünften Stock. Heute war ich ziemlich unmotiviert die Treppen zu nehmen, weshalb ich mit langsamen Schritten auf den Aufzug zuschritt. Dort angekommen drückte ich auf den Knopf und wartete auf den Lift.
Doch der letzte Satz von Dr. Klein schwirrte in meinem Kopf. ‚..der Vorfall von vor sechs Monaten sich wiederholen könnte.' Die Aktion von mir hatte jeden um mich herum überrascht, sogar mich. Ich hatte es mir nicht lange überlegt, sondern beschloss es einfach von einem Moment auf den anderen. Es hatte sich so viel über das letzte Jahr in mir aufgestaut, dass ich nicht wusste, was ich tun sollte. Zu diesem Zeitpunkt fand ich die Option nicht mehr auf dieser Welt sein besser als jeden Tag innerlich gequält zu werden.
Das ‚Bing' vom Aufzug holte ich mich aus meinen Gedanken raus, weshalb ich einen Schritt nach vorne machte, um in den Lift einzusteigen. Doch im gleichen Moment wollte jemand aussteigen und wir knallten gegeneinander.
Bevor ich mich von dem Jungen entschuldigen konnte, hatte er sich schon bei mir entschuldigt und wollte seinen Weg fortsetzen. Doch ich hielt ihn auf.
„War eigentlich meine Schuld. Ich habe nicht aufgepasst. Also es tut mir leid", versuchte ich mich zu entschuldigen.
Der Junge schüttelte verneinend sein Kopf, bevor er erwiderte. „Wenn ich etwas von Katharina gelernt habe, dann ist es, dass das Leben zu kurz ist, um andere Leute wegen einer Kleinigkeit zu beschuldigen."
Somit drehte er sich um und ging in Richtung Dr. Kleins Ordination.
Es war doch klar, dass so ein Satz nur von jemandem kommen konnte, welcher die Hilfe eines Psychiaters brauchte.
So hier sind wir mit Kapitel 1. Was denkt ihr?
Kritik ist erwünscht.
Rechtschreibung und Grammatik wird im Laufe der Zeit korrigiert.
Selin xx
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