Kapitel 9: Auf der Flucht

Es war riskant, aber der Fahrstuhl war ihre beste Chance. Rebecca schien wenig begeistert. Ihr Fluchtplan war einfach aber effektiv gewesen, das musste er ihr lassen. Doch sie wusste nicht, wie militärische Einheiten operierten. Man beschränkte sich nicht darauf, nur das Gebäude zu durchkämmen, in dem sich die Zielpersonen vermutlich aufhielten. Sicherlich hatte längst eine Einheit das Partnergebäude umstellt und gesichert. Allerdings rechnete wohl kaum jemand damit, dass sie dermaßen verrückt waren für ihre Flucht den Aufzug zu benutzen. Selbst wenn eine Handvoll Männer zur Bewachung der Ausgänge und des Fahrstuhls abgestellt waren, konnte er diese problemlos überwältigen.

Ein Ton kündigte den Aufzug an. Kurz danach öffneten sich auch schon die Türen. Eine ältere Frau stand bereits im Inneren. In einen Morgenmantel gehüllt und mit einer Zeitung unter dem Arm sah sie Bucky und seine Begleiter durch ihre dicken Brillengläser an. Rebecca nickte der Frau zu. Wallenstein wich nicht von ihrer Seite, als sie in den Aufzug stieg. Bucky verschränkte seine Hände hinter dem Rücken und nahm dann seinen Platz neben Rebecca ein. Langsam schlossen sich die Türen. Er verfolgte die Leuchtanzeige, die von Stockwerk 10 langsam nach unten zählte.

„Da haben Sie aber einen hübschen Freund", ertönte nach einiger Zeit die kratzige Stimme der Alten.

Rebecca zuckte neben ihm zusammen. Ihre Wangen röteten sich. Sie stammelte etwas Unverständliches.

„Als ich noch jung war, wollte ich auch immer so einen haben", brabbelte die Alte weiter.

Das Stoppsignal des Fahrstuhls unterbrach das einseitige Gespräch. Sie hatten das Erdgeschoss erreicht.

„Wie gesagt, einen wirklich hübschen Dobermann haben Sie da!"

Die Frau tätschelte den Kopf des Hundes, bevor sie im Erdgeschoss aus dem Fahrstuhl watschelte. Eilig positionierte sich Bucky mit seinem Rücken zur Öffnung, um mögliche Blicke in den Innenraum abzublocken. Dann schloss sich auch schon wieder die Fahrstuhltür. Im selben Augenblick drückte er die Taste für die Tiefgarage. Rebecca lehnte sich gegen die Rückwand des Aufzuges. Ihre Augen waren geschlossen, so als müsse sie sich konzentrieren.

„Zwei Männer, direkt vor der Fahrstuhltür", entfuhr es ihr auf einmal.

Zeitgleich mit dem Signalton des Fahrstuhls zog Bucky sein Messer. Die beiden Männer hatten nicht den Hauch einer Chance ihre Maschinengewehre abzufeuern. Kaum hatte sich die Fahrstuhltür geöffnet, stürzte sich Bucky auf die Wartenden. Mit dem Messer schlitzte er in einer flüssigen Bewegung einem Mann die Kehle auf, um es anschließend in die Brust seines Kameraden zu rammen. Das bluterstickte Gurgeln der Männer war für einige grausige Sekunden das einzige Geräusch in der Tiefgarage. Er drehte sich zu Rebecca um. Sie hatte sich nicht bewegt, presste die Sporttasche an ihre Brust. Die Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Als sich die Aufzugtür automatisch schloss, blockierte Bucky den Durchgang mit seinem Metallarm. Wortlos streckte er seine kybernetische Hand nach ihr aus, doch sie lief an ihm vorbei zu den am Boden liegenden Männern. Sie kniete sich neben die Leichen.

„Das sind SWAT-Beamte", brachte Rebecca hervor. Als sie seinen fragenden Blick bemerkte, ergänzte sie: „Polizisten, du hast zwei Polizisten umgebracht."

Polizei? Warum war nun auch noch die Polizei hinter ihnen her? Sein Blick fiel auf etwas Glänzendes, das einer der Toten um den Hals trug. Er zog eine Kette hervor. Das Symbol auf dem Anhänger überraschte ihn nicht im Geringsten.

„Hydra!"

Seine Augen suchten die Tiefgarage ab.

„Wir nehmen so viele Waffen wie möglich mit", kommandierte Bucky, während er die Leichen weiter durchsuchte.

Er spürte ihre brennenden Augen auf sich, aber ausnahmsweise kamen seiner Begleiterin keine Widerworte über die Lippen. Nachdem er die beiden M16 gesichert hatte, stopfte er die Waffen in die Sporttasche. Zögerlich reichte Rebecca ihm zwei Pistolen der Marke Beretta. Bucky überprüfte die Magazine und verstaute sie ebenfalls in der Tasche. Dann wandte er sich wieder an Rebecca.

„Wie kommen wir hier am besten raus?"

„Die Ausfahrt?"

Ihr Vorschlag war mindestens so wahnwitzig wie sein eigener Einfall, den Fahrstuhl zu nehmen. Andererseits würde wohl niemand damit rechnen, dass sie durch die Ausfahrt der Tiefgarage ins Freie spazierten. Rebecca schien ein ähnlicher Gedanke durch den Kopf zu gehen. Beinahe gleichzeitig setzten sie sich in Bewegung. Als der Ausgang immer näher kam, drangen viele aufgeregte Stimmen zu ihnen durch. Bucky legte seinen rechten Arm um Rebeccas Schulter und zog sie an sich. Nach einem kurzen Zögern entspannte sie sich. Es war sicher nicht der richtige Zeitpunkt und er wusste nicht, was mit ihm los war, aber er genoss ihre plötzliche Nähe. Für die Menschentraube, die sich vor der Absperrung rund um das Apartmentgebäude gebildet hatte, mussten sie wie ein verliebtes Pärchen wirken, das einen frühen Morgenspaziergang mit dem gemeinsamen Hund unternahm.

Fortuna war auf ihrer Seite. Unbehelligt konnten sie die Adamsstreet entlang gehen. Nachdem sie genug Abstand zwischen sich und das Gebäude gebracht hatten, löste sich Rebecca von seiner Seite. Schweigend gingen sie einige Zeit nebeneinander. Die Geräusche der erwachenden Großstadt umfingen sie. Die ersten Sonnenstrahlen tauchten die Straße in ein zartes Violett. Rebeccas Hund schreckte mehrere Tauben auf, die mit lautem Flügelschlag in den Morgenhimmel aufstiegen.

Der Klang von Polizeisirenen durchbrach die beinahe friedliche Stimmung. Rebeccas Hand griff auf einmal nach seiner Metallhand und zog ihn in Richtung eines silbernen Geländewagens, in den gerade ein Mann einsteigen wollte. Der Typ war ein Hüne von fast zwei Metern und blickte erstaunt auf die junge Frau herab, die sich mit einem Lächeln vor ihm aufbaute. Was zur Hölle hatte sie nun schon wieder vor? Seine Frage wurde beantwortet, als der Mann ohne zu zögern Rebecca seinen Autoschlüssel aushändigte. Dann drehte er sich mit einem leeren Blick um und ging langsam seines Weges. Es war erschreckend, wie diese zierliche Person es mit Leichtigkeit schaffte, anderen Menschen ihren Willen aufzuzwingen.

„Du musst uns nicht begleiten."

Sie öffnete die hintere Tür und ließ ihren Hund auf die Rückbank springen. Bucky schnaufte verächtlich, nahm ihr wortlos den Schlüssel ab und setzte sich hinter das Lenkrad. Als er den Motor startete, nahm Rebecca auf dem Beifahrersitz Platz und wühlte in ihrer Sporttasche. Ein abgenutzter Straßenatlas kam zum Vorschein.

„Wir müssen auf die Interstate 66", erklärte sie und ließ ihren Finger über eine Karte wandern.

Abrupt drehte Bucky den Zündschlüssel um. Der Motor ging aus. Wütend fixierte er die Frau neben sich. Er hatte genug von ihren Kommandos! Er hasste es, wenn man ihm diktierte, was er zu tun oder zu lassen hatte. Er hasste Befehle. Er war nicht ihr Hund!

„Seit wir uns begegnet sind, rennen wir von einem Unglück ins nächste", brachte er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. „Entweder du verrätst mir jetzt, was du vorhast, oder ich werfe dich und deinen Köter aus dem Auto."

Ihre erschrockenen Augen verschafften ihm für einen Moment Genugtuung. Dann reckte sie ihr Kinn herausfordernd in die Luft und er wusste, dass sie nun mindestens so verärgert war wie er selbst. Rebecca betonte jede einzelne Silbe, während sie ihn mit einem giftigen Blick bedachte, von dem sie offensichtlich überzeugt war, ihn damit einschüchtern zu können.

„Niemand hat dich gezwungen dich einzumischen! Niemand hat dich um Hilfe gebeten! Also entweder fährst du jetzt los oder ich werfe dich aus diesem verdammten Auto!"

Er musste sich mit aller Gewalt davon abhalten, sie nicht bewusstlos zu schlagen. Es war sinnlos mit dieser Frau zu diskutieren. In seinen Schläfen hämmerte der vertraute Kopfschmerz. Fürs Erste würde er das tun, was sie von ihm verlangte. Aber sobald sie an einem sicheren Ort waren, gab es einige Fragen, auf die Rebecca ihm eine Antwort schuldig war. Sie schien sich ebenfalls beruhigt zu haben und reichte ihm den Straßenatlas.

„Wir fahren hier hin."

Sie tippte mit ihrem Zeigefinger auf einen rot markierten Punkt. Darüber war das Wort „Benfield Lodge" geschrieben. Offensichtlich befand sich ihr Ziel im absoluten Nirgendwo. Über einem langgezogenen grünen Korridor stand „Shenandoah National Park". Der Name sagte ihm etwas, aber er konnte sich nicht erinnern.

„An diesem Ort wird uns niemand suchen. Es ist sicher!"

Sicher. Wann hatte er sich in den letzten Tagen und Wochen das letzte Mal sicher gefühlt? Er wollte nur zu gerne glauben, dass es auch für ihn einen Ort geben konnte, an dem er sich sicher fühlte.

„Du musst navigieren", erwiderte er und startete erneut den Motor.

Es fiel ihm erstaunlich leicht sich im Straßenverkehr zurechtzufinden. Bucky fragte sich, ob er schon häufiger mit einem Auto durch eine solche Stadt gefahren war. Gemeinsam mit Rebecca hielt er nach Schildern Ausschau, die sie in Richtung der Interstate bringen würden. Nach einer gefühlten Ewigkeit in den immer betriebsameren Straßen von Washington D.C. fanden sie endlich die passende Abfahrt. Als sie in gleichmäßigem Tempo auf der Fernstraße fuhren und die Morgensonne die Umgebung in ein goldenes Licht tauchte, wich allmählich die Anspannung aus seinem Körper.

Nach einiger Zeit sah er zu seiner Sitznachbarin hinüber. Rebecca war eingeschlafen. Der Atlas lag immer noch in ihrem Schoß, doch ihr Kopf war an die Fensterscheibe angelehnt. Sie sah friedlich aus, wenn sie schlief. Ihr Zopf hatte sich gelöst und ihre blonden Haare fielen in sanften Wellen über ihre Schultern. Wieder fragte er sich, warum Hydra und wahrscheinlich bald auch jeder Geheimdienst in den Vereinigten Staaten hinter dieser Frau her waren. Sie schuldete ihm mehr als eine Antwort und sobald sie ihr Ziel erreicht hatten, würde er sie einfordern. Er schaltete das Radio ein. Die Klänge einer akustischen Gitarre ertönten und dann begann eine klare Männerstimme zu singen.


Almost heaven, West Virginia
Blue ridge mountains, Shenandoah river
Life is old there, older than the trees
Younger than the mountains, growin' like a breeze

Country roads, take me home
To the place I belong
West Virginia, mountain momma

Take me home, country roads

Zuhause. Er wusste nicht mehr, was das überhaupt bedeutete.

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