Kapitel 66: Gegenschlag

„Lass mich nicht allein, Bucky."

Glasiges Blau starrte ihm flehend aus einem Gesicht entgegen, dem sämtliche Farbe entwichen war. Der Anblick erinnerte ihn an frisch gefallenen Schnee. Haut wie aus Porzellan, umrahmt von hellem Haar. Leichenblass. Nur in ihren Augen leuchtete ein Schmelztiegel aus aufgewühlten Emotionen. Angst, Schmerz, Hilflosigkeit schimmerten in Beccas Blick, aber auch ein Fünkchen Hoffnung konnte Bucky darin erahnen, eine winzige Flamme, die sie davor bewahrte, in vollkommener Panik zu versinken.

„Geh nicht, bitte."

Ein zitternder Körper presste sich an ihn und seine Arme schlossen sich wie von selbst um Beccas schmale Gestalt. Er inhalierte den Duft ihrer Haare, wollte sie einfach nur festhalten, nie wieder von ihr getrennt sein, sie vor allen Gefahren dieser brutalen Welt beschützen. Er wollte sie halten wie in der vergangenen Nacht, in ihrer Vertrautheit aufgehen und alles andere vergessen, verdrängen.
Nur sie und er.

„Bitte."

Ihre Stimme klang kratzig, heiser vom kaum unterdrückten Schluchzen. Ihre Finger krallten sich regelrecht in seine Kleidung. Dann kamen die Tränen und Beccas zarter Körper bebte, als würde sie um Luft ringen, erfasst von einer alles beherrschenden Hilflosigkeit, die Bucky nur zu gut nachempfinden konnte, weil er wusste, wie es sich anfühlte, wenn die Furcht ihre Klauen erbarmungslos in das pochende Herz schlug, wenn jeder Atemzug zur Qual wurde, die Umgebung zu schrumpfen begann und einen dennoch mit dem Gewicht eines Felsbrockens tonnenschwer auf den Boden drückte und zermalmte.
Er wollt bei ihr bleiben, sie beschützen. Er wollte sie küssen, ihr sagen, dass alles gut werden würde, dass sie keine Angst haben musste, weil er an ihrer Seite war, weil sie nicht alleine war. Aber das ging nicht. Er wurde gebraucht. Steve brauchte ihn, die anderen brauchten ihn, diese Menschen im Hotel brauchten ihn.
Es herrschte Krieg.
Menschen starben und er würde sich nicht verkriechen. Nie wieder. Er wollte kämpfen, wie damals vor vielen Jahren in einem anderen früheren Leben, als der Soldat James Buchanan Barnes in den Krieg gezogen war. Fast 80 Jahre waren vergangen, seit er und Millionen anderer Männer gegen die Nazis gekämpft hatten, um ihre Heimat, ihre Familien, ihre Freunde zu beschützen, um die Welt vor Monstern wie Johann Schmidt zu retten, die sogar ihr eigenes Volk wie Schlachtvieh abmetzeln ließen, in einem irrsinnigen Angriffskrieg und in grässlichen Straflagern abertausende junge Menschenleben verheizten. Tief in seinem Inneren war Bucky noch immer dieser idealistische junge Mann, der für Freiheit eintreten wollte, für das Gute, für das, was ihm richtig und gerecht erschien. Er hatte nie in Gänze aufgehört dieser Mensch zu sein. Diesen Teil von ihm hatte selbst Hydras Höllenmaschine nicht völlig zerstören können, trotz allem, was sie ihm wieder und wieder angetan hatten. Sogar als Winter Soldier hatte immer dieses winzige Bruchstück von ihm überdauert, das noch wusste, was richtig und was falsch war. Der Teil, der sich an die kleine Natalia erinnern konnte. Der Teil, den sie nach jedem Einsatz, jedem scheußlichen Mord erneut brechen mussten, auch wenn er gegen die Programmierung der Chimäre letztlich machtlos gewesen war und sich selbst verloren hatte. Ganz wie bei Steve würde bis zu seinem Tod das Herz eines Kämpfers in Buckys Brust schlagen.

Ein Soldatenherz.

In eine letzte Schlacht würde er Seite an Seite mit Steve ziehen, das war er ihm schuldig, seinem Kindheitsfreund, seinem Waffenbruder. Der Krieg hatte sie erneut gefunden, doch dieses Mal würde er nicht mehr davonlaufen oder sich verstecken, nein, ganz sicher nicht.
Er wollte kämpfen. Für Becca, aber auch für sich selbst.
Nur dadurch konnte er sie beschützen. Nur deshalb brachte er es übers Herz, sie im Tower zurücklassen. Ihre zornigen Anschuldigungen trafen ihn, schmerzten bei jedem weiteren Wort, dass sie ihm entgegenschleuderte und er spürte einmal mehr, wie sehr seine sonst so einfühlsame Becca die Terrororganisation und alles, wofür diese stand, verabscheute. Fast schien es, als würde ihr Hass sich gegen Bucky richten, so wütend hatte das Blau ihrer Augen gefunkelt. Aber er wusste, dass in diesem Moment nur die Angst aus Becca sprach, ihr tiefes persönliches Trauma, das sie nie ganz überwinden würde. So wie seine seelischen Wunden nie vollständig verheilen würden. Zu viel hatte Hydra ihnen genommen, zu viel unwiederbringlich zerstört. Er verstand ihre Furcht, ihren ungewohnten Jähzorn so gut, fühlte ihren Schmerz mit jeder Faser seines zerbrochenen Körpers.
Und so küsste er sie noch einmal auf die Stirn, ließ sie das spüren, was er in diesem Augenblick nicht in Worte fassen konnte. Ein stummer Abschied, seine Art um Vergebung zu bitten. Später würde er ihr alles erklären. Wenn dieser Alptraum vorbei war, wenn sie wieder hoffen durften, auf ein besseres Leben, auf eine gemeinsame Zukunft in Freiheit.

„Wir konnten nicht wissen, wann und wo Hydra zuschlägt."

Bucky blinzelte mehrmals bei Natashas schneidender Stimme, wurde zeitgleich vom Rucken des Quinjets ins Hier und Jetzt zurückgeworfen.

„Der letzte Funkspruch, den wir abgefangen haben, ist gerade einmal 24 Stunden alt und wir haben noch einmal mehr als zehn Stunden gebraucht, um das Ganze zu dechiffrieren und New York als Ziel zu ermitteln. Jetzt ist aber ohnehin keine Zeit für Diskussionen, Cap. Wir haben ganz andere Probleme."

Natasha verschränkte die Arme vor der Brust, während Steve wie ein gereizter Panther hinter den Gitterstäben eines Käfigs neben Bucky auf und ab schritt. Die Anspannung im Cockpit war zum Greifen und Bucky registrierte das vertraute Zittern in seiner Muskulatur, das in den Nervenenden seiner Fingerspitzen begann und sich bis in seinen Bizeps fortsetzte. Selbst in seinem kybernetischen Arm arbeiteten die künstlichen Fasern und Gelenke auf Hochtouren. Unterbewusst übertrug sich Nervenimpuls um Nervenimpuls aus seinem Gehirn auf alle Areale seines Körpers, der von jetzt auf gleich in den altbekannten Kampfmodus wechselte. Dabei waren seine Sinne überempfindlich geschärft, sein Gehör nahm jedes Geräusch noch intensiver wahr. Das Dröhnen des Quinjets, die Stimmen seiner Mitstreiter, alles ertönte um ein Vielfaches lauter, deutlicher. Natasha erklärte Steve noch immer, wie sie und Barton im Auftrag von Fury eine angebliche S.H.I.E.L.D.-Forschungseinrichtung nahe der sokovischen Hauptstadt Novi Grad observiert hatten, weil der frühere Direktor dort bei seinen Nachforschungen in Europa Ungereimtheiten in der Datendokumentation festgestellt hatte. Fury sollte Recht behalten, denn dort hatte sich der Abschaum von Pierce' einstiger Armee unter dem Deckmantel einer Friedensmission wie ein Geschwür in dem politisch instabilen Oststaat eingenistet.

„Wir sind sofort aufgebrochen, als wir herausbekommen haben, dass Hydra von dort einen Anschlag in den Staaten plant", mischte sich nun Clint ebenfalls in die Diskussion ein, warf einen kurzen, aber nicht weniger anklagenden Blick vom Pilotensitz in die Runde. „Aber ihr wart alle nicht erreichbar. Selbst Hill nicht und die weiß normalerweise nicht einmal wie man Feierabend buchstabiert. Keine Ahnung, wie oft uns J.A.R.V.I.S. über sämtliche Kanäle abgewimmelt hat. Was zum Geier habt ihr letzte Nacht im Tower bloß getrieben?"

Die Frage hallte in Buckys Kopf wider. Sie hatten sich einer falschen Sicherheit hingegeben. Partys gefeiert, gelacht, Spaß gehabt. Gott, das alles wirkte nun so leichtfertig, so absurd. Und ihre Feinde hatten bereits vor ihrer Türschwelle gelauert, nur auf eine Gelegenheit gewartet, um die Welt ein weiteres Mal mit Angst und Terror zu überziehen.

„Fury organisiert bereits Verstärkung", wechselte Natasha in gewohnt kontrolliertem Tonfall das Thema, legte ihrem Partner wie zur Beschwichtigung eine Hand auf die Schulter. „Wir kriegen das in den Griff!"

Clint schüttelte nur den Kopf, murmelte etwas von irgendeinem Doktor vor sich hin und konzentrierte sich wieder auf das Steuern des Quinjets durch New Yorks Häuserschluchten. Sie befanden sich gefühlt eine Minute in der Luft, aber in der Zwischenzeit hatte Romanoff bereits das wohl kürzeste Briefing aller Zeiten abgehalten und parallel dazu ihre Teamkameraden mit Kevlarwesten, Teamfunkverkabelung und Schusswaffen ausgestattet, während Clint den Tarnmodus des Jets aktivierte.

„Wir mussten ganz sicher sein", wandte sich Natasha direkt an Steve. „Wir wollten gezielte Gegenmaßnahmen einleiten, geordnet gegen Hydra vorgehen. Keine überstürzten Aktionen mehr. Diesmal wollten wir sie alle drankriegen. Tja, aber so wie es aussieht, will Stark die Party ohne uns als One-Man-Show starten. Wenn's um Pepper geht, kennt unser Philanthrop kein Pardon."

Bucky bemerkte, wie Steve sich neben ihm versteifte, bereits zu einer seiner Ansprachen anhob. Er wurde jedoch von Clint unterbrochen, der mit dem Quinjet eine Schleife flog, um einen passenden Landeplatz zu suchen.

„Festhalten, Jungs und Mädels. Wir gehen gleich runter", ließ er über das Brausen des Antriebs verlauten.

Buckys Kopf schwirrte. Er konnte die Informationsflut, die da auf ihn niederprasselte, kaum verarbeiten, geschweige denn verdauen und das lag nicht an dem etwas holprigen Manöver, zu dem Barton in diesem Augenblick ansetzte. Unter ihnen stieg noch immer schwarzer Rauch aus dem Waldorf Astoria auf. Vor dem Eingang hatte sich ein Meer aus Blaulichtern versammelt, Streifenwagen, SWAT, das volle Programm. Wahrscheinlich rückte in dieser Sekunde bereits die Nationalgarde an. Über dem Dach leuchtete ihnen durch die Rauchsäule in Gold und Rot Tonys Iron Man-Rüstung entgegen. Stark sondierte also ebenfalls noch die Lage und das gesamte Cockpit atmete kollektiv auf, als Tonys Stimme im Intercom ertönte, wenngleich ihr die gewohnte Coolness fehlte.
Stark war aufgewühlt, emotional. Er klang atemlos und nicht wie das clever analysierende arrogante Technikass, dem für jedes Problem zigtausend Lösungsstrategien gleichzeitig im schlauen Köpfchen umher wirbelten. Wer konnte es ihm verdenken? Hydra hatte Pepper, die Frau, die Tony liebte. Bucky wusste nicht, was er an Starks Stelle tun würde, wenn Becca stattdessen -

„Die Geiseln befinden sich im ebenerdigen Konferenzsaal", informierte sie Tony. „Ein- und Ausgänge mit mehreren Einheiten gesichert. Ich kann die Kameras zwar nicht mehr anzapfen, die wurden lahmgelegt, aber mein dualer Wärmebild-Laser-Sensor funktioniert einwandfrei. Das da unten ist ein verdammter Ameisenhaufen und sobald wir reinstechen, entwickelt er sich zu einem Wespennest."

„Dann sollte einer die Wespen aus ihren Löchern locken und beschäftigen, während der Rest sich unbemerkt zum Nest vorarbeitet."

Natasha zog eine geschwungene Augenbraue in die Höhe und bedachte Steve und Bucky mit einem wissenden Schmunzeln, so als wäre sie von ein paar Schuljungen umgeben, denen man die Spielregeln der Welt immer wieder aufs Neue erklären musste.

„Okay, Romanoff. Ich hab' die Baupläne des Hotels soeben mit dem Gebäudescan abgeglichen. Der Plan könnte funktionieren", vermeldete Tonys Stimme, nun durchzogen von neuem Tatendrang und Selbstvertrauen. „Ich klopfe gleich mal ziemlich laut am Eingang an und ihr dringt in der Zwischenzeit vom Dach aus ein. Die Geiselnehmer halten sich alle im unteren Bereich auf, ihr solltet also unbemerkt bis zum Konferenzraum im Erdgeschoss vorstoßen können. Sobald ihr dort seid, schlagen wir gemeinsam los. Cap, bist du einverstanden?"

„Einverstanden", kam es einsilbig von Steve, der mit ernster Miene in die Runde blickte.

„Klingt nach einer ziemlich üblen Kamikaze-Aktion", kommentierte Barton das Ganze, wechselte dann aber einen intensiven Blick mit Natasha und schenkte ihr ein schiefes Grinsen. „Also genau unser Ding, oder Nat? Dann bring ich den Vogel mal sicher auf dem Hoteldach runter."

Die Agentin zwinkerte ihrem Teamkollegen zu, justierte ihr Headset und erhob sich vom Copilotensitz, während die Triebwerke ein weiteres Mal aufheulten.

„Lasst uns Hydra in den Hintern treten und mein Mädchen da endlich rausholen!", erklang Tonys Stimme, die deutlich an Zuversicht gewonnen hatte.

Durch die große Frontscheibe beobachtete Bucky, wie ihnen das Dach des Hotels immer näherkam. Geschickt landete Clint den Quinjet zwischen den beiden mächtigen Turmaufbauten, die wie zwei türkise Pylonen aus dem Rauch in den Himmel ragten. Bucky nickte Steve einmal knapp zu, checkte dann zum letzten Mal die Munition seines Sturmgewehrs und entsicherte die Waffe. Beim Aufsetzen wurde der Jet nur leicht durchgeschüttelt, aber dennoch erfasste Bucky ein Beben, als das Adrenalin mit neuerlicher Intensität durch seinen Körper zirkulierte, alle seine Sinne nur noch auf Kampf ausgerichtet waren.
An der Seite von Steve stürmte er in der nächsten Sekunde bereits in geduckter Haltung über die Rampe ins Freie, sicherte damit Natashas und Clints Vorstoß in Richtung eines Aufbaus, von dem aus eine Treppe mit hoher Wahrscheinlichkeit ins Gebäudeinnere führte. Genau in dem Moment schoss Wilson in seiner Falcon-Rüstung über ihre Köpfe hinweg. Bucky meinte die Worte "Achtung links" zu hören, runzelte irritiert die Stirn. Dann blitzte etwas Metallisches in der rauchgeschwängerten Luft auf. Mit einem beherzten Sprung stieß sich Steve in die Luft ab, fing einen Atemzug später mit seiner freien Hand den Schild mit dem weißen Stern auf. Keinen Wimpernschlag später landete er neben Bucky auf dem Boden. Wilson flog derweil einen Looping über ihnen, stürzte dann wie ein Raubvogel in die Tiefe, um zu Tony aufzuschließen, der in diesem Moment wie versprochen mit viel Bombast den Eingang des Hotels unter Beschuss nahm. Zumindest dröhnten mehrere laute Detonationen in Buckys Ohren, als sie vor einer Brandschutztür zum Stehen kamen.

„Alter vor Schönheit", wandte sich Barton mit gezücktem Bogen an Bucky und deutete mit einer leichten Kopfbewegung zur Tür, nachdem Natasha zuvor erfolglos den Griff betätigt hatte.

Bucky schob sich mit einem verächtlichen Schnauben an den beiden Agenten vorbei, holte in der Bewegung mit seinem Metallarm aus und versenkte seine geballte Faust neben dem Griff im Stahl, riss mit einem beherzten Ruck die komplette Tür aus den Angeln. Das zerbeulte Metall landete mit einem dumpfen Knall hinter ihnen. Steve betrat als Erster das Treppenhaus, gab seinen Teamkollegen hinter seinem Vibranium-Schild Deckung. Stockwerk um Stockwerk arbeiteten sie sich im dämmrigen Licht der Notbeleuchtung nach unten. Wieder und wieder waren Explosionen zu hören, dann auf einmal Schüsse, unterbrochen von weiteren Einschlägen und lauten Knallgeräuschen, als würde jemand mit Mörsergranaten wild um sich schießen.

„Das gibt's doch nicht", erklang plötzlich Tonys Stimme über den Teamfunk und Bucky zuckte zusammen, weil er so hochkonzentriert war, dass er den Knopf in seinem Ohr vollkommen vergessen hatte. „Hydra verfügt über Chitauri-Technologie. Die hätten Wilson fast vom Himmel geholt und haben eben den kompletten Fuhrpark des NYPD mit ihren Energie-Kanonen zerlegt. Leute, das dauert hier wohl etwas länger, als geplant."

„Was?", keuchte Steve ebenfalls über Funk und klang genauso überrumpelt wie Bucky sich in dem Moment fühlte. „Sam, alles in Ordnung bei dir?"

„Ich komm klar, Cap. Mir kleben nur diese verdammten fliegenden Alien-Jetski-Dinger am Hintern", kam die etwas kurzatmige Antwort. „Tony, ich versuch die Teile von dir wegzulocken. Verflucht, das werden immer mehr. Wo zur Hölle kommen die bloß her?"

Wieder Explosionen. Sogar die Stahltreppe erzitterte unter den Einschlägen, während Steve unermüdlich Etage um Etage nach unten jagte. Natasha und Clint waren ihm dicht auf den Fersen, konnten überraschend gut mit dem hohen Tempo des Supersoldaten Schritt halten. Bucky bildete die Nachhut, zählte insgeheim jedes weitere Stockwerk mit. Seine Finger kribbelten, über seinen Rücken kroch eine Gänsehaut und sein Herz donnerte im Rhythmus seiner Schritte.
Woher hatte Hydra solche Waffen? Hatte die Terrororganisation etwa in dieser geheimen sokovischen Basis an der Alien-Technologie geforscht? Und wie waren sie damit unbemerkt in das Herz von New York vorgedrungen?
Immer weitere Fragen zuckten durch seinen Kopf, unterbrochen von anderen Gedanken, die wie Schlaglichter kurzzeitig aufflackerten und dann erneut von anderen Bildern überlagert wurden. Er sah Becca vor sich, wie sie mit ihren Freunden im Tower wartete. Das Gesicht bleich, die Augen getrübt von Ungewissheit und Angst, die zittrigen Finger ineinander verknotet.

„Lass mich nicht allein, Bucky."

Ihre Bitte hallte in seinem Innersten wie ein Echo wider. Quälend, bohrend. Alles in ihm schrie danach, sofort umzukehren und so schnell wie möglich zu Becca in den Tower zu eilen. Er wollte kämpfen, ja, das war alles, wofür er noch zu gebrauchen war und es tat so verdammt gut, wieder Teil eines Teams zu sein. Aber eine nagende Stimme in seinem Geist flüsterte ihm zu, dass er an der Seite der Frau sein sollte, die er mehr als alles andere liebte, dass er verflucht nochmal nicht die Schlachten anderer schlagen sollte, sondern für Becca da sein sollte.
Bucky schüttelte den Kopf.
Er musste fokussiert bleiben, jetzt war nicht die Zeit, um in seiner kruden Gedankenwelt zwischen Selbstzweifeln und Verlustängsten zu versinken. Steve und die anderen verließen sich auf ihn und mit ihnen gegen Hydra zu kämpfen, war die beste Art Becca zu beschützen. Zumindest beruhigte ihn die Vorstellung in dieser Sekunde zumindest etwas.

„Wir nähern uns den unteren Stockwerken", vermeldete Steves Stimme über Intercom. „Tony, Sam, wie sieht es bei euch da draußen aus?"

„Alles im Griff, Cap", antwortete Stark. „J.A.R.V.IS. übermittelt mir euren Standort via Echtzeitabgleich mit dem Gebäude. Noch drei Etagen, dann seid ihr ganz nah dran. Hydra ahnt nichts, die Arschgeigen konzentrieren sich wie erwartet auf den Konferenzsaal und den Eingang. Wenn ihr bereit seid, gebt mir Bescheid, dann greifen Wilson und ich von vorne an."

„Verstanden", beendete Steve den Funkkontakt und erhöhte noch einmal das Tempo, dass Romanoff und Barton ihre liebe Mühe hatten, bei ihrem Vordermann den Anschluss zu halten.

Bucky verdrängte alle Zweifel und Gewissensbisse, als sie vor einer weiteren Stahltür zum Stehen kamen. Die beiden Agenten nutzten die kurze Verschnaufpause, immerhin hatten sie soeben mit einem genetisch optimierten Supersoldaten einen unfassbaren Sprint über einige hundert Treppenstufen hinter sich gebracht. Bucky selbst war hingegen kaum außer Atem, rückte stattdessen seine Waffe zurecht und musterte dann Steve, der vorsichtig die Türklinke testete, die sich in diesem Fall tatsächlich erfolgreich nach unten drücken ließ.

„Der Gang ist sauber", informierte sie Tony genau in dem Augenblick, als sich schon eine Frage aus Steves angespannten Zügen ablesen ließ. „Ab hier übernimmt J.A.V.I.S. als Schülerlotse. Ich bin zwar durchaus multitaskingfähig, aber da es hier gleich ziemlich laut wird, klinke ich mich mal kurz aus."

„Wir gehen rein", verkündete Steve, seine Hand ruhte noch immer auf dem Türgriff, die andere hielt den Schild gegen seinen Oberkörper gepresst.

Seine hellen Augen fanden Buckys und sie nickten einander in stiller Übereinkunft zu. Dann stieß Steve die Tür auf, Bucky huschte als Erster in den Gang, visierte mögliche Zielpersonen an. Aber keine Menschenseele war in der langen Flucht zu sehen, über die sich ein weinroter Teppichboden wie ein blutiger Fluss erstreckte. Steve schob sich an ihm vorbei, eilte in gedruckter Haltung voraus. Ein doppeltes Klacken verriet Bucky im nächsten Atemzug, dass Romanoff ihre Glocks entsichert hatte. Er setze sich ebenfalls in Bewegung. Sie bogen einmal links ab, sicherten den nächsten Flur, dann wieder rechts.

„Erster Feindkontakt in 20 Metern", ertönte die Stimme von Starks KI und dann zählte sie den Countdown herunter. „19, 18, 17 -"

Bucky holte noch einmal tief Luft. Sie umrundeten eine letzte Ecke. Dann brach die Hölle los und die kommenden Minuten überschlugen sich in einer Abfolge aus heftigen Schusswechseln, atemlosen Zwischensprints und ohrenbetäubenden Explosionen, die Tony über das Intercom mit „Sesam öffne dich" gewohnt sarkastisch kommentierte. Steve gab Bucky hinter seinem Schild Deckung, während er das Feuer auf mehrere vermummte Hydra-Agenten eröffnete. Ein Pfeil sauste ziemlich knapp an seinem Ohr vorbei, traf einen Angreifer in die Brust, der taumelnd zu Boden ging. Dumpf hallten die Schüsse aus Romanoffs Doppelpistolen zwischen den Gewehrsalven aus Buckys Halbautomatischer. Blut spritzte an die Tapete, färbte die goldenen Ornamente auf dem weißen Grund in ein dunkles Rot.
Schreie, Schüsse, sein Atem hohl und keuchend in seiner Brust. Bucky nahm alles nur gedämpft wahr. Er funktionierte. Etwas in ihm übernahm die Kontrolle und er reagierte rein intuitiv, duckte sich pfeilschnell hinter Steves Schild, um kurz darauf einen Gegner mit einem Kopfschuss auszuschalten.
Wieder heftige Detonationen.
Sie blieben kurz stehen, versuchten sich in dem Wirrwarr aus den immergleichen Hotelfluren zu orientieren.

„Sie nähern sich dem Ziel", verkündete J.A.V.I.S. in gewohnt emotionslosem Tonfall. „Zwei Türen weiter und Sie erreichen die Hotelküche. Von dort erfolgt ein direkter Zugang zum Konferenzraum, in dem ich erhöhte Aktivitäten feststellen kann."

„Sehr schön", klinkte sich auf einmal Tony ein, „schmeiß schon mal den Ofen an, Rogers. Ich arbeite mich hier gerade mit Wilson in Richtung Wespennest vor."

Steve entgegnete nichts, stürmte stattdessen gemeinsam mit Bucky in die Küche. Auf dem Boden kauerten mehrere verängstigte Geiseln, Servicepersonal und Küchenmitarbeiter, mit Kabelbindern an Händen und Füßen gefesselt. Großen Augen starrten sie fassungslos an. Sie zuckten wimmernd zusammen, als Bucky und die anderen in den Raum platzten und Clint den einzigen anwesenden Hydra-Agenten mit einem Pfeilschuss durch den Hals außer Gefecht setzte, dass dieser gurgelnd in sich zusammensackte. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Romanoff und Barton die Gefangenen beruhigten und von ihren Fesseln befreiten. Bucky folgte Steve auf dem Fuß, der sich einen Weg zwischen zerbrochenen Tellern, Essen und verstreuten Töpfen bahnte, endlich an einer Tür Halt machte, die einen Spalt weit geöffnet war und einen Blick in den dahinter liegenden Raum offenbarte.

„Hier stimmt was nicht", stellte Natasha auf einmal über den Teamfunk fest, ihre Stimme ein unheilvolles Flüstern. „Das war viel zu einfach."

Bucky befiel ein ähnliches Gefühl, eine unterbewusste Ahnung, die man sich zwar nicht erklären konnte, die sich jedoch mit erschreckender Intensität aus seiner Magengegend schälte und in seinem Kopf festsetzte. Romanoff hatte den richtigen Riecher, irgendetwas stank hier gewaltig zum Himmel.

„Sie hat Recht, das schreit nach einer Falle", wandte sich Bucky an Steve.

Er tauschte einen besorgten Blick mit der Agentin, spähte dann an seinem Freund vorbei durch den Türspalt. Was er dort sah, bestätigte ihn in seiner Vermutung. In der Mitte des Raumes waren die Tagungsteilnehmer wie eine paralysierte Schafsherde von einem Wolfsrudel zusammengetrieben, zumindest diejenigen, die nicht leblos zwischen umgestürzten Stühlen und zerschlagenen Tischen am Boden lagen, durchsiebt von einem Kugelhagel, blutüberströmt. Hydra-Kämpfer patrouillierten durch den Raum, teils mit Maschinengewehren bewaffnet, teils in futuristischen Ausrüstungen, die erschreckende Ähnlichkeit mit Tonys Iron Man-Anzug besaßen. Und über allem thronte auf der Rednerbühne ein Mann, ganz in Schwarz gekleidet, der den Saal mit verschränkten Armen und einer Gelassenheit überblickte, die in Anbetracht der immer näherkommenden Schusswechsel und Explosionen geradezu grotesk wirkte. Es war der Typ, der die Ansprache im Fernsehen gehalten hatte, der Anführer. Zu seiner Linken hielt ein weiterer Maskierter Pepper fest. Starks Freundin war durch ihre rotblonde Mähe selbst aus einiger Entfernung eindeutig zu erkennen. Auf wackeligen Beinen stand sie wie ein lebendiger Schutzschild vor dem Geiselnehmer.
Und genau das war sie auch.
Eine Lebensversicherung, das letzte Ass im Ärmel dieser widerwärtigen Bastarde, denen ein Menschenleben so viel bedeutete wie der Dreck unter ihren Fingernägeln. Buckys metallische Hand ballte sich unter einer Welle von überschäumender Wut zur Faust. Alle Zweifel waren vergessen. Selbst wenn sie gleich geradewegs in einen Hinterhalt liefen, diese elenden Feiglinge würden für das bezahlen, was sie ihren hilflosen Opfern angetan hatten. Heute würden keine weiteren Unschuldigen mehr zu Schaden kommen.

„Also los!", gab Steve das Kommando zum Angriff und in seiner Stimme lag derselbe gerechte Zorn, der auch in Bucky lichterloh brannte.

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