Kapitel 65: Überfall

„Hydra sendet freundliche Grüße in den Avengers Tower."

Die Worte fraßen sich in Beccas Eingeweide wie Salzsäure. Ihre Hände zitterten unkontrolliert, während sie bei jeder weiteren Gewehrsalve zusammenzuckte, als würden die Kugeln sich in ihren eigenen Körper graben. Blankes Entsetzen ließ sie den Bildschirm fixieren, bis die Übertragung schließlich abbrach.
Um sie herum begann sich alles zu drehen. Dumpf, wie aus einer größeren Entfernung, drangen die Stimmen von Tony und Steve an ihre Ohren. Sie verstand jedoch nicht, was genau die Männer einander zuriefen, denn ihr Kopf war wie leergefegt, fühlte sich leicht und schwer zugleich an, eiskalt und im nächsten Moment, als hätte man ein glühendes Eisen hineingetrieben. Taubheit breitete sich als stechendes Kribbeln bis in ihre Fingerspitzen aus. Beccas Wahrnehmung spielte ihr wohl einen Streich, ließ sie glauben, sie wäre gar nicht wirklich anwesend, all das würde gar nicht ihr widerfahren, sondern wäre Teil der Handlung eines alptraumhaften Filmes.
Schlecht, ihr war so entsetzlich schlecht. Becca fürchtete, dass sie sich jeden Augenblick übergeben musste, schmeckte bereits das bittere Brennen auf ihrer Zunge.

Hydra war hier, in New York, wenige Minuten vom Tower entfernt!

Sie bekam keine Luft mehr, kratzte von einer plötzlichen Panik erfasst über ihren Hals, als hätten sich Hände um ihren Kehlkopf gelegt, die langsam das Leben aus ihr herauspressten. Immer schneller rotierte ihre Umgebung um sie. Becca versuchte aufzustehen, beobachtete durch einen Tränenschleier wie Tony hektisch durch den Raum rannte. Die Wortfetzen wütender Kommandos peitschten ihr entgegen. Taumelnd sank sie auf ihren Stuhl zurück, starrte in das leichenblasse Gesicht von Anna, die neben ihr in der gleichen Schockstarre gefangen saß, und deren Hand ihre eigene in stummer Ohnmacht so fest umschlossen hielt, dass sich ihre Fingernägel in Beccas Haut gruben.
Der Schmerz riss sie aus dem chaotischen Strudel, der all ihr Denken erfasst hatte und eine grässliche Gewissheit schnürte ihr immer weiter die Kehle zu, bis sie meinte, elend ersticken zu müssen.

Hydra hatte Pepper, die hübsche, selbstbewusste, intelligente Pepper, die Becca so sehr bewunderte. Sie würden ihr wehtun, sie umbringen. Sie würden all diese unschuldigen Menschen ermorden. Vielleicht hatten sie es längst getan.

„Hydra sendet freundliche Grüße in den Avengers Tower."

Becca presste die Hand auf ihren Mund, unterdrückte erneut eine Welle von Übelkeit. In ihren Gehörgang bohrte sich ein widerliches Piepsgeräusch, so als wäre eine Bombe in unmittelbarer Nähe hochgegangen und hätte mit der Wucht der Explosion ihr Trommelfell zerrissen. Vor ihren Augen bewegten sich die anderen wie in Zeitlupe. „Gelatine", durchzuckte sie die absurde Vorstellung. Die Luft schien sich mit einem Mal in eine zähe Masse verwandelt zu haben, gegen die es mit jedem Schritt, jeder Handbewegung anzukämpfen galt.
Sie waren alle darin gefangen. Es gab kein Entkommen.
Becca hatte Angst, eine so allesumfassende Angst, dass jeder vernünftige Gedankengang unweigerlich ins Leere führen musste. Sie war unfähig sich zu bewegen, kein Laut kam über ihre Lippen, obgleich sie ihre Panik hinausschreien wollte. Stattdessen kroch kalter Schweiß über ihre Haut, strich wie ein eisiger Windhauch über ihren Nacken, während sie im selben Moment fürchtete innerlich zu verbrennen. In hektischen Atemzügen zog sie verzweifelt Luft in ihre Lunge. Bis in ihren Hals hämmerte ihr Herz und jeder Schlag verschmolz mit dem stetig anschwellenden Rauschen in ihren Ohren zu einem Rhythmus des Grauens.
Sie hatte sich hier in Sicherheit gewogen. Sie hatte in der vermeintlichen Sicherheit des Avengers Towers ihre eigenen Schutzmauern hinter sich gelassen, ihr Misstrauen im Kreis alter und neuer Freunde abgelegt. Es war ein Fehler gewesen. Nun begriff Becca, was sie schon als junges Mädchen verinnerlicht hatte, was sie in den Jahren nach ihrer Flucht aus der Hydra-Basis nie vergessen hatte.
Sicherheit war eine Lüge!
Geborgenheit und Güte waren bloße Hirngespinste in einer Welt, in der Hydra nach wie vor existierte und jederzeit das Blut Unschuldiger vergießen konnte.

Wie durch eine Nebelwand nahm Becca wahr, dass sich Tonys Iron Man-Anzug mit lautem Surren aus einer Wandnische löste und wie von Zauberhand um den Körper seines Erfinders neu zusammensetzte. Steve schrie ihm etwas hinterher, doch Tony steuerte bereits in seiner Hightech-Rüstung durch eine sich öffnende Glastür nach draußen.
Das Rufen der anderen ging in einem plötzlichen Lärm unter. Fast klang es so, als würde ein riesiger Düsenjet den Tower umkreisen. Becca riss ihre Augen in Unglauben auf, denn genau in diesem Moment erspähte sie tatsächlich die dunklen Umrisse des Quinjets, der über der Außenplattform wie eine Libelle über der Wasseroberfläche eines Teiches schwebte.

„Steve, verdammt, warum habt ihr nicht auf unsere Anrufe reagiert?" Natasha Romanoff fegte kurz darauf wie ein Blizzard über das Partydeck, von Kopf bis Fuß in schwarze Kampfausrüstung gehüllt.

Becca konnte sich nicht ansatzweise erklären, woher die Agentin auf einmal kam. Alles ging so schnell, dass ihr überlastetes Gehirn den weiteren Ereignissen kaum folgen konnte. Sam sprintete zum Aufzug, ließ etwas bezüglich Ausrüstung verlauten und dass er nachkäme. Bruchstücke einer atemlos geführten Diskussion wirbelten in Beccas Kopf umher. Natasha sprach von Funksprüchen. Eine Mission in Sokovia wurde erwähnt und dann Nick Fury, irgendein Baron und Hydra, immer wieder Hydra.
Becca presste ihre Zähne so fest aufeinander, dass sich ein Taubheitsgefühl in ihrem Kiefer ausbereitete. Noch immer umklammerte Annas Hand ihre eigene. Sie erwiderte den Druck, hielt sich an ihrer Freundin fest, als könnte sie ihr jeden Moment entrissen werden, als wäre Anna der letzte Anker zu einer Normalität, die ihr mit jeder weiteren Sekunde mehr und mehr entglitt.

„Uns bleibt keine Zeit", hörte sie Steves ungeduldige Stimme. „Wir müssen die Leute da rausholen. Wir müssen Pepper da rausholen. Tony steht völlig neben sich, wollte nicht auf mich hören. Das endet in einem Blutbad."

„Becca!"

Jemand schüttelte sie grob durch. Sie blinzelte mehrmals. Buckys Gesicht tauchte vor ihren Augen auf.

„Agent Hill wird hier bei euch im Tower bleiben, verstanden? Ihr seid hier in Sicherheit."

„Nein!"

Becca wusste nicht, woher sie auf einmal die Kraft nahm, aber sie schoss so schnell nach vorne, dass ihr schwarz vor Augen wurde, klammerte sich unter bebenden Atemstößen an Bucky.

„Lass mich nicht allein, Bucky! Geh nicht, bitte!"

Ihr Körper wurde von einem Schluchzen erfasst. Sie weinte wie ein kleines Kind, bettelte, als würde es ums nackte Überleben gehen.

„Ich muss das tun, Becca. Ich muss ihnen helfen."

Flüchtig senkten sich Lippen auf ihre Stirn, dann wand er sich aus ihrem Griff, helle Augen voller Entschlossenheit. In ihrem Inneren vermischte sich Angst mit Zorn. Er hatte ihr geschworen, dass er für sie da sein würde. Bucky hatte es versprochen. Und jetzt ließ er sie im Stich.
Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Sie erkannte ihre eigene Stimme kaum wieder, als sie ihm ihre Vorwürfe entgegenschleuderte.

„Du lügst! Hier geht es nur um dich. Du willst dich rächen. Du willst diese Schweine umbringen!" Sie holte tief Luft. „Dann lass dich doch von ihnen abknallen! Wirf alles weg. Wirf dein Leben weg!"

„Es tut mir leid", war Buckys einzige Antwort, aber in seinem Blick konnte Becca kurzzeitig ablesen, wie sehr ihre unüberlegten Worte ihn getroffen hatten.

„Bitte, i-ich-ich wollte nicht -", brachte sie stammelnd hervor, aber er hatte sich bereits umgedreht, stürmte zusammen mit Steve und Natasha auf das Außendeck.

Draußen heulte der Quinjet auf. Becca starrte auf ihre Hände, deren Finger sich in ihrem Schoss schmerzhaft ineinander verknotet hatten. Was war nur in sie gefahren? Bucky könnte bei dieser Rettungsaktion sterben. Gott, sie könnten alle sterben! Und sie hatten sich im Streit getrennt, weil sie von ihrer alten Angst beherrscht wurde. Jetzt war Bucky weg und ihre letzten Worte an den Mann, den sie liebte, waren voller Selbstsucht gewesen, hatten all die Abscheu enthalten, die sie für Hydra empfand.

Als sich auf einmal ganz zaghaft ein Arm um Beccas Schulter legte, fuhr sie zusammen. Hastig zog Patrick sich zurück, lächelte sie stattdessen etwas verkrampft an.

„Das wird schon, Sternchen. Cap und die anderen regeln das." Seine Hand strich sachte über ihren Rücken. „Bucky hat recht. Der Avengers Tower ist wohl der sicherste Ort in ganz New York. Uns kann hier nichts passieren."

„Das ist richtig", mischte sich Maria Hill ein. „Du und deine Freunde seid hier absolut sicher."

Becca sah zu der Agentin auf und sie wünschte sich, sie könnte in dieser Situation auch nur ansatzweise eine solch stoische Ruhe aufbringen wie Maria. Diese nickte ihr mit ernster Miene knapp zu und machte sich dann an einer Bildschirmprojektion zu schaffen, die J.A.R.V.I.S. auf ihre Anweisung vor den immer noch pechschwarzen Monitor warf.

„Okay, dann zapfen wir mal die Überwachungskameras im Astoria an und versuchen uns ein Bild von der Lage zu machen", murmelte Maria vor sich hin, die Stimme von einer unerschütterlichen Routine durchsetzt. „J.A.R.V.I.S., los geht's!"

„Ich habe auch Angst, Becca", flüsterte Anna nach einiger Zeit, die sich wie eine Ewigkeit anfühlte, neben ihr. „Ich habe eine Scheißangst."

Erneut drückte sie ihre Hand. Becca fragte sich, wen ihre Freundin mit dieser Geste eigentlich beruhigen wollte. Aber ganz gleich, welche Intention Anna damit auch verfolgte, Becca war dankbar und erleichtert, ihre Freunde an ihrer Seite zu wissen. Sie waren keine Superhelden, keine ausgebildeten Agenten oder Ex-Militärangehörige. Wahrscheinlich verspürten Anna und Pat in dieser Situation mehr Panik, als jeder andere in diesem Raum. Aber Becca war so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie für die Nöte und Ängste ihrer Mitmenschen blind gewesen war.
Sie war diejenige mit der besonderen Gabe, die mächtigste Person in diesem Raum. Wenn überhaupt, dann sollte sie ihren Freunden Mut zusprechen, ihnen Zuversicht vermitteln, auch wenn sie innerlich von Zweifeln zerrüttet war. Stattdessen erlitt sie beinahe einen Nervenzusammenbruch im Angesicht der Gewalt, die Hydra einmal mehr über die Menschen brachte.
Gott, sie schämte sich so sehr, dass sie es kaum mehr wagte, ihren Freunden in die Augen zu sehen.
Was machte sie bloß hier? Sie sollte bei Bucky sein, bei Steve, Tony, Sam und Natasha und Clint. Sie sollte ihnen helfen, an ihrer Seite kämpfen. Das taten doch Menschen wie sie, oder? Sie traten für das Gute ein, das Richtige. Menschen wie sie sollten nicht weinend und verschüchtert in einem Hochsicherheitsgebäude sitzen, während andere da draußen ihr Leben für Freiheit und Menschlichkeit riskierten.
Sie war ein jämmerlicher Feigling. In all den Jahren hatte sie rein gar nichts dazu gelernt. Unschuldige wurden in diesen Minuten ermordet. So wie damals, wie damals. Und sie dachte nur an sich selbst, wollte ihre eigene Haut retten.
Sie verdiente ihre Gabe nicht. Sie war so nutzlos, dass ihre eigene Inkompetenz Becca Tränen der Wut und Enttäuschung in die Augen trieb. Dabei wollte sie doch stark sein und mutig. Sie wollte den anderen helfen, für sie da sein.
Aber sie konnte einfach nicht.

Ein schriller Alarm riss Becca aus ihrer Selbstgeißelung, ließ ihren Puls ein weiteres Mal in die Höhe schießen.

„Fremdaktivitäten im Tower", vermeldete J.A.R.V.I.S. über den anhaltenden Signalton hinweg.

„Ortung", befahl Hill und stemmte die Hände in die Hüften, während die Projektion mehrere Überwachungskameras einblendete, die wohl verschiedene Bereiche des Gebäudes abdeckten.

„Ortung unvollständig. Objekt kann nicht lokalisiert werden", kam J.A.R.V.I.S.' Antwort, die von der Agentin mit einem gezischten Fluch quittiert wurde.

„Sind alle Einheiten in Gefechtsbereitschaft?", wollte die Agentin wissen und warf einen kurzen prüfenden Blick über ihre Schulter, der Becca den Atem anhalten ließ.

Darin erkannte sie zum ersten Mal, seit sie der taffen Frau begegnet war, so etwas wie Unsicherheit. Und diese Vorstellung jagte ihr eine Heidenangst ein, denn Menschen von Hills Schlag waren nicht verunsichert. Sie wussten immer, was zu tun war. Oder nicht?

„Bestätige, Sicherheitspersonal in Bewegung. Melde Aktivitäten auf Ebene 3."

„Was zum Teufel ist das?", vernahm Becca plötzlich Pats irritierte Stimme.

Er hatte sich erhoben, trat langsam neben Hill, die ebenfalls wie gebannt auf die Bilder der Kameras starrte. Panik und eine kranke Art von Neugier trieben auch Becca auf ihre Beine und gemeinsam mit Anna näherte sie sich der Projektion.

„Ich weiß es nicht", brachte Maria hervor, während J.A.R.V.I.S. auf die Übertragung einer Kamera zoomte.

Becca meinte, sie hätte für den Bruchteil einer Sekunde die Umrisse einer Person erkennen können, doch dann war da nur so etwas wie schwarzer Rauch, der sich ebenfalls binnen eines Herzschlages verflüchtigte.

„Ha-habt ihr das auch gesehen?"

Anna deutete mit zitterndem Zeigefinger auf eben jenen Bereich, in dem Becca die seltsame Erscheinung bemerkt hatte. Nein, ihr zerrüttetes Nervenkostüm spielte ihr keinen Streich. Dort war etwas gewesen. Jemand.
Mit rasendem Herzen wurde Becca Zeuge, wie sich gerade ein schwerbewaffnetes Team aus mehreren Männern durch einen der Gänge in dieselbe Richtung vorarbeitete.

„Melville, Lagebericht", forderte Hill und Becca wurde erst jetzt klar, dass die Agentin dank J.A.R.V.I.S. mit dem Sicherheitspersonal via Intercom verbunden sein musste.

„Ma'am, hier ist was faul," ertönte eine leise Stimme über den Funk. „Irgendwas ist da, aber wir -"

Eine Explosion erschütterte den Tower und es war, als würde die Welt zusammenstürzen. Becca fand sich auf dem Boden wieder, die Hände auf die Ohren gepresst, zusammengekauert neben Pat und Anna.
Sie wurden angegriffen, vielleicht beschossen. Oder eine Bombe war im Avengers Tower explodiert.

„Beschädigung der Außenhülle", ertönte J.A.R.V.I.S., doch die Übertragung war nur eine verzerrte Version der KI.

„Melville, Meldung", brüllte Hill und zog eine Waffe unter ihrem weiten Cardigan hervor. „Melville, bitte kommen!"

Schweigen.

„Meldung!", forderte Maria ein weiteres Mal, entsicherte dabei die Pistole.

Wieder erbebte das Gebäude unter einer Detonation. Eine Deckenplatte prallte in die untere Ebene des Partydecks, zerschellte mit lautem Getöse. Becca zuckte zusammen, klammerte sich an Pat und Anna fest, kniff die Augen so fest zu, dass sie grelle Sterne sehen konnte.
Sterben, sie würden hier alle sterben! Sie saßen in der Falle, im obersten Bereich des Towers. Und der einzige Zugang war über den Fahrstuhl möglich. Bilder des 11. Septembers stiegen in ihr hoch. Brennende Gebäudeteile, die in die Tiefe stürzten, Feuer und Rauch, schreiende Menschen, die in ihrer Verzweiflung aus Fenstern in ihren sicheren Tod sprangen.

„J.A.R.V.I.S., Meldung!"

„Explosionen in Ebene 3 und 5. Ursprung unbekannt. Fremdaktivitäten in Ebene 1 und 0."

„Der Reaktor", spie Maria aus, „sie haben es auf den ARK-Reaktor abgesehen! Reaktorraum sofort versiegeln, J.A.R.V.I.S."

„Versiegelung initiiert. Schusswechsel in Ebene 0."

„Kamerabild," kommandierte Hill und aus dem Augenwinkel sah Becca, wie die Frau sich mit ihrer freien Hand fahrig durch das sonst so akkurat frisierte Haar fuhr, von dem nun einige Strähnen wirr in ihre Stirn fielen.

„Scheiße, wir müssen hier raus", stammelte Pat neben Becca. „Hier geht alles in die Luft."

„Kamerasystem ausgefallen. Massive Netzwerkschäden", meldete die KI.

Ein weiteres Mal durchfuhr der ohrenbetäubende Knall einer Explosion das Gebäude, brachte die Wände bedrohlich zum Schwanken wie bei einem Erdbeben. Annas leises Wimmern wurde von Hills lauten Flüchen übertönt. In dem Tumult versuchte Becca sich auf die Agentin zu konzentrieren. Hill wusste, was zu tun war. Sie musste es einfach wissen. Marias Augen huschten indes unruhig hin und her, so als überlege sie krampfhaft ihren nächsten Schritt.
Urplötzlich schoss Pat in die Höhe, rannte in Richtung Aufzug, als sei der Leibhaftige hinter ihm her, und hämmerte auf das Touchpanel.

„Komm schon", schrie er den Fahrstuhl an, als könne er so die Bewegung das Lifts beschleunigen. „Komm schon, verdammt!"

„Der Hauptaufzug ist keine Option", warnte Hill und trat neben Becca und Anna, die sich nun ebenfalls langsam vom Boden erhoben. „Wir sind unter Feindbeschuss und können nicht abschätzen, ob das System noch funktioniert. Und wer weiß, was uns in der Lobby erwartet. Die Kameras sind down, verfluchter Mist."

Pat ignorierte ihre Einwände, drückte ein weiteres Mal die Ruftaste und eilte dann wie im Wahn auf die drei Frauen zu. Seine schweißnasse Hand ergriff Beccas, um sie mit sich zu ziehen.

„J.A.R.V.I.S., ist der MARK-III-Aufzug noch intakt?"

„Aufzug unbeschädigt", ließ die KI mit verzerrtem Sprachmuster verlauten.

„Vergesst den Lift. Das ist unser Weg aus dem Tower", erklärte Maria und ging mit schnellen Schritten auf eine Wand hinter der Bar zu, in der sich eine mannsgroße Klappe öffnete. Jetzt erst wurde Becca klar, dass darin Tonys Iron-Man-Rüstung transportiert worden war. „Damit kommen wir in einen Nebentrakt von Ebene 1, aber wir müssen getrennt fahren. Anna, du zuerst. Und gut festhalten, der Aufzug bewegt sich mit extremer Geschwindigkeit."

„Bist du irre?", fauchte Anna mit rotunterlaufenen Augen und sah sich hilfesuchend zu ihren Freunden um. „Ich steig ganz sicher nicht allein in dieses Höllending und lande dann bei einem Haufen durchgeknallter Terroristen, die uns alle umbringen wollen."

Eine tiefe Wutfalte zog sich durch Hills ebenmäßige Stirn.

„Wir haben keine Zeit für Drama. Hier!" Maria drückte der völlig aufgelösten Anna ihre Waffe in die Hand. „Die ist entsichert. Schieß auf alles, was dir zu nahekommt und versteck dich solange, bis wir alle unten sind. Los jetzt."

Ohne auf Annas Reaktion zu warten, stieß Hill die überrumpelte Brünette in den Aufzug und betätigte das Touchpanel. Die metallische Klappe verschluckte augenblicklich die Protestschreie von Beccas Freundin.

„Sobald der Aufzug wieder da ist, bist du als nächstes dran, Becca, okay?"

„J-ja", war das Einzige, was sie herausbrachte.

In diesem Augenblick wäre Becca der Agentin am liebsten um den Hals gefallen, weil diese in all dem Chaos einen kühlen Kopf behielt. Maria war Profi durch und durch und gab ihr Bestes, um sie irgendwie unbeschadet aus einer beinahe ausweglosen Lage zu manövrieren.
Die Sekunden verstrichen, während sie auf die Rückkehr des Aufzuges warteten. Auf dem Partydeck breitete sich ein unheimliches Schweigen aus.
Mit einem Mal durchschnitt das Pling-Geräusch des Hauptaufzuges auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes die Stille. Becca drehte sich mit stockendem Atem zu dem Ursprung des Signales um. Sie wollte ihren Augen nicht trauen, als ein Mann aus dem Fahrstuhl trat. Gespenstisch hallten die Schritte schwerer Kampfstiefel auf den Fliesen. Seine Haare waren kurzgeschoren, zwei metallische Streifen zogen sich von seinen Schläfen bis zu seinem Hinterkopf. Dann erkannte sie sein Gesicht. Kaum hatte er sie ebenfalls erspäht, verzogen sich seine Lippen zu einem widerlichen Grinsen.
Das war nicht real. Es war unmöglich. Er sollte tot sein, er musste tot sein. Begraben unter den Trümmern des gesprengten Hydra-Bunkers. Aber er lebte, er war hier!

„Hast du mich vermisst, Rebecca?"

Es war, als hätte sie einen Schlag auf den Brustkorb erhalten. Taumelnd wich Becca einen Schritt zurück, starrte mit weit aufgerissenen Augen den Mann an, während sich ihre Gedanken überschlugen.
Das konnte nicht sein. Er war tot. Clint hatte ihn mit einem Pfeil ins Herz getroffen und dann war die gesamte unterirdische Anlage in die Luft gegangen. Steve und Bucky hatten es ihr erzählt und sie hatte es geglaubt.
Seizew war in dem Bunker gestorben.

„Ich habe dich vermisst. Jeden Tag habe ich an dich gedacht, Rebecca. Jetzt ist es an der Zeit, nach Hause zu kommen."

Er streckte ihr die Hand entgegen und seine Miene ähnelte in diesem Augenblick so sehr der von Bucky, als er sie heute Morgen mit sanften Küssen aufgeweckt hatte, dass Becca ein ersticktes Keuchen entfuhr. Übelkeit stieg in ihr auf, raubte ihr den Atem.

„Schalt ihn aus, Becca. Tu es", vernahm sie Hills drängenden Befehl.

Aber sie kam nicht an ihn heran. Egal wie sehr Becca sich anstrengte, sie konnte Seizews Geist nicht fassen. Etwas blockierte sie - wie damals die Helme.

„Es sind diese Metallstreifen", entkam es Becca, als ihr klar wurde, was sie aus seinem Kopf fernhielt. „Ich kann nicht -"

Hinter ihnen öffnete sich mit einem Zischen die Aufzugklappe.

„Rein da, alle beide," kommandierte Hill. „Ich übernehme das."

Maria hatte plötzlich ein Messer in der Hand, ging in kampfbereiter Haltung auf ihren scheinbar unbewaffneten Gegner zu.

„Furys kleine Agentenschlampe", höhnte Seizew und zückte seinerseits ein langes Messer. „Hätte mir denken können, dass du als Anstandswauwau die Stellung hältst."

„Komm schon", Pat zog Becca panisch am Arm, aber sie bewegte sich keinen Millimeter, war paralysiert in ihrer Panik und konnte nur hilflos mitansehen, wie Seizew spielerisch seine Waffe von einer Hand in die andere gleiten ließ.

Dann ging alles rasend schnell. Als hätte ihn ein unsichtbares Portal verschluckt, verschwand Hills Angreifer binnen eines Wimpernschlages im Nichts. Nur eine schwärzliche Wolke blieb an jener Stelle zurück, an der er vor einem Sekundenbruchteil noch in Fleisch und Blut gestanden hatte. Neben sich hörte Becca Pat entsetzt um Atem ringen.
Maria wirbelte einmal um die eigene Achse, hieb dabei mit ihrem Kampfmesser durch die Luft, wohl in der Hoffnung ihren Gegner zu erwischen. Schwarzer Rauch umfing sie im nächsten Moment. Hill riss überrascht die Augen auf, als ihr Kopf an den Haaren nach hinten gerissen wurde. Der Stoß ihres Messers wurde abgefangen. Seizew verdrehte ihr Handgelenk, bis ein Knacken ertönte. Fassungslosigkeit stand in Marias Gesicht geschrieben. Ihr gellender Aufschrei bohrte sich in Beccas Gehörgang, als Seizew mit voller Wucht in die rechte Kniekehle der Agentin trat. Das Bersten von Knochen und Reißen der Sehen wurde von einem weiteren Schrei verschluckt.
Ihr eigener Schrei.
Becca brüllte wie am Spieß, während Hill verzweifelt versuchte, sich aus dem Griff des Mannes zu winden. Dieser setzte in aller Seelenruhe die Klinge seines Messers an die Kehle seines Opfers.

„Nein!"

Becca schrie wie von Sinnen, als das Blut in einer dunklen Fontäne hervorschoss. Marias Augen quollen aus ihren Augenhöhlen. Ihr Blick brach. Gurgelnd kippte sie nach vorne über. Das Messer entglitt ihrer nunmehr schlaffen Hand, fiel klirrend auf den Boden, gefolgt vom dumpfen Aufprall eines Körpers.

„Nein! Nein!"

Becca schrie wieder und wieder und Pat musste alle Kraft aufbringen, um sie davon abzuhalten, zu der Agentin zu stürzen, die zuckend am Boden in einer immer größer werdenden Blutlache lag.

„Nein! Oh Gott, nein!"

Seizew streckte ihr ein weiteres Mal die freie Hand entgegen, verschmiert mit Marias Blut.

„Sei ein braves Mädchen, Rebecca. Komm nach Hause!"

„Du Monster! Du Mörder!"

Ihre Schreie vermischten sich mit ihrem Schluchzen, als sie gegen Pat ankämpfte, der wohl seinen eigenen Schock überwunden hatte und nun erneut verzweifelt versuchte, sie mit sich in den engen Aufzug zu zerren. Sie wollte in Seizews Kopf eindringen, ihn dazu bringen, sich das Messer in den Bauch zu rammen. Sie wollte, dass er starb, elendig verreckte.
Ein Grinsen schlich sich in Seizews Gesicht, als würde er ihre Gedanken erraten. Dann verschwand er erneut vor ihren Augen. Einen Atemzug später wurde Patrick von ihr gerissen. Etwas Heißes brannte sich zeitgleich in Beccas Hals. Der stechende Schmerz geriet jedoch ins Hintertreffen, als sie voller Grauen mitansehen musste, wie ihr Freund mehrere Meter durch den Raum geschleudert wurde und mit einem widerlichen Knackgeräusch auf dem Boden aufschlug, den Körper seltsam verdreht.

„Pat!"

Becca stolperte von einem Drehschwindel erfasst an seine Seite und schlug neben Pat auf den Knien auf. Schützend schlang sie ihre Arme um ihn. Aus seinem linken Ohr floss Blut. Der metallische Geruch vernebelte ihre Sinne, vermengte sich mit dem unerträglichen Druck, der ihren Schädel in eine pochende Masse verwandelte.

„Oh Gott, Pat! Pat, sag was! Pat!"

Sie wurde an den Haaren gepackt und grob nach hinten gezogen. Der Schmerz explodierte in ihrem Kopf. Desorientiert rappelte sie sich vom Boden auf, sah Seizew mit gezücktem Messer über Patrick stehen, der sich leise stöhnend unter dessen Stiefel wälzte. Unbarmherzig drückte die schwere Sohle Pats Gesicht auf den Untergrund, wie eine Fliege, die man mit einer Zeitungsrolle zerquetschte.

„Tu das nicht!", flehte Becca mit erhobenen Händen. „Ich mache alles. Ich schwöre es, alles was du von mir willst. Bitte, töte ihn nicht. Bitte, Nicolaj!"

„Plötzlich so kooperativ?" Seizew musterte sie mit süffisantem Lächeln und ließ dann von Pat ab, um mit siegessicherem Gang auf sie zu zusteuern. „Aber du hast recht, dein kleiner Freund macht eh nicht mehr lange. Sparen wir uns die Mühe, ja?"

Zitternd überwand Becca ihre Abscheu und ergriff die Hand, die ihr zum nunmehr dritten Mal gereicht wurde.

„Warum nicht gleich so, Rebecca? Warum müssen immer erst Menschen sterben, damit du Vernunft annimmst?"

Sein warmer Atem strich über ihr Gesicht, als er sie an sich zog.

„Sir, Zielobjekt gesichert", vernahm sie undeutlich eine Stimme und bemerkte den Knopf in Seizews Ohr.

Wieder kroch das triumphierende Grinsen in die Züge des Mannes, der Bucky auf so erschreckend perverse Art und Weise glich, als seien sie Brüder.

„Er wird dich finden. Bucky wird dich finden und dann umbringen."

Beccas Stimme zitterte vor Zorn und Verzweiflung.

„Er wird es versuchen. Immerhin gehört mir jetzt etwas, was Barnes unbedingt zurückhaben möchte, nicht wahr?" Seine Hand umfing ihr Kinn, zwang Becca ihm in die Augen zu sehen, in denen Hass und Wahnsinn leuchteten. „In der Zwischenzeit werden wir beide wieder viel Spaß miteinander haben."

Seine Finger geisterten über ihren Hals, wanderten bis zu jener Stelle unterhalb ihres linken Ohres, wo sich etwas wie der Stachel eines riesigen Insekts in ihre Haut versenkt hatte. Genüsslich übte Seizew Druck auf das Objekt aus. Becca japste nach Luft, so intensiv schoss der Schmerz bei dieser Berührung in ihren Kopf.

„Wenn du dich gerade fragst, was das für ein Ding in deinem Hals ist, nun ja, sagen wir es so, wir haben das Design der Helme extra für dich verbessert. Schließlich wollen wir ja nicht, dass du wieder in den Köpfen von Leuten herumwühlst, die nicht kybernetisch optimiert wurden, nicht wahr?"

„Widerliche Feiglinge", zischte Becca zwischen zusammengepressten Zähnen.

„Du und dein freches Mundwerk haben mir wirklich gefehlt", entgegnete Seizew mit kaltem Lachen.

Er musste die aufkommende Panik in ihrem Blick erkannt haben, denn er beugte sich noch weiter zu ihr vor.

„Es gibt da ein paar Leute, die können es gar nicht erwarten, unser neuestes Verfahren an dir zu testen. Aber keine Angst", flüsterte er ganz nah an ihrem Ohr, „ich werde mich um dich kümmern, wie beim letzten Mal. Du und ich, wir beide gehören zusammen. Wir sind der Anfang einer neuen Ära. Du wirst es verstehen. Bald wirst du wieder klarsehen können, Red Star."

Plötzliche Hitze umfing sie. Dann war es, als würde Beccas Körper auseinandergerissen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top