Kapitel 62: Die Wahrheit

„Und du willst wirklich mit ihnen alleine reden?"

Becca schluckte mit einiger Anstrengung den Kloß hinunter, der seit einer gefühlten Ewigkeit wie ein zentnerschwerer Felsbrocken ihren Hals einengte, und brachte dann ein Nicken zustande. Ein kurzer Blick auf die spiegelnde Glaswand des Aufzuges bestätige sie allerdings in der Vermutung, dass ihre Miene weitaus weniger überzeugend wirkte, als sie es sich im Stillen vorgenommen hatte. Flüchtig spürte sie Buckys helle Augen über sich streifen, bevor ihre Blicke sich kreuzten. Ein wärmendes Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus, ließ sie einmal tief durchatmen und ihre Schultern straffen.
Es würde gutgehen, das versicherte sie sich an diesem Tag bestimmt schon zum tausendsten Mal. Sie würde sich nicht erneut in ihrem altbekannten Schneckenhaus verkriechen, um in Selbstmitleid und Schuldgefühlen zu zerfließen. Becca wollte endlich der Wahrheit ins Auge sehen, reinen Tisch machen, so gut wie es einem Menschen mit ihrer Vergangenheit eben möglich war. Sie hatte sich immer einen Neuanfang gewünscht, hatte eine weitere Chance herbeigesehnt. Und hier war sie, direkt vor ihrer Nase, ihre Möglichkeit ein neues Leben zu beginnen.
Wenn sie doch nur so mutig wäre, wie sie es sich wieder und wieder vorgenommen hatte! Stattdessen waren ihre Hände kalt wie Eiszapfen und ihr Herzschlag hatte sich mindestens verdreifacht, vibrierte dumpf bis in ihre Ohren, seit sie neben Bucky in den Aufzug gestiegen war, der sie genau in diesem Augenblick in die Lobby des Avengers Towers transportierte.
Keine zehn Minuten war es her, dass JARVIS sie über das Eintreffen von Anna und Pat informiert hatte, eine lächerlich kurze Zeitspanne, die sich für Rebecca jedoch quälend in die Länge zog, so als liefe alles um sie herum plötzlich nur noch in Zeitlupe ab. Freude aber auch Angst stiegen mit wechselnder Intensität in ihr auf, dicht gefolgt von dem Impuls, einfach den Notfall-Schalter des Lifts zu betätigen, nur um der Konfrontation in letzter Sekunde noch irgendwie aus dem Weg zu gehen. Stattdessen starrte sie nach wie vor auf die gegenüberliegende Glasscheibe, musterte nun ihrerseits Buckys Spiegelbild, wie er in der für ihn so typischen Haltung mit verschränkten Armen und kraus gezogener Stirn neben ihr stand. Wieder trafen blaue Augen auf blaue Augen, führten einen Dialog ganz ohne Worte, bis die sonst so ernsten Züge ihres Begleiters plötzlich weicher wurden und seine Mundwinkel leicht nach oben wanderten.

„Bist du dir wirklich sicher, Becca?"

„Ich hab schon Schlimmeres überstanden."

Sie versuchte sich ebenfalls an einem Lächeln, aber in Buckys Gesicht konnte sie ablesen, dass er nur zu gut wusste, wie es in Wahrheit hinter ihrer selbstbewussten Fassade um ihre Entschlossenheit bestellt war. In den vergangenen Tagen hatte sie sich nicht nur einmal ausgemalt, wie ein Wiedersehen mit ihren Freunden aus dem Red Passion ablaufen könnte. Dabei hatte ihre Fantasie alle erdenklichen Szenarien von fröhlicher Begrüßung bis zu verkrampftem Handschlag zu einem episodenhaften Film zusammengeschustert, der wahlweise in einem tränenreichen hollywoodreifen Geständnis oder frostigem Schweigen endete.

„Wir haben schon Schlimmeres überstanden", ergänzte Becca nach einer kurzen Pause im Flüsterton.

„Ja, das haben wir."

Seine menschliche Hand umfasste ihre eigene, hüllte sie in warme Geborgenheit. Als sein Daumen begann, kleine Kreise auf ihrer Haut zu zeichnen, ließ die vertraute Geste Becca kurzzeitig vergessen, dass sie sich noch vor wenigen Sekunden gedanklich ans andere Ende von New York gewünscht hatte, nur um das Wiedersehen mit ihren einstigen Arbeitskollegen zu vermeiden. Man konnte es wohl eine Ironie des Schicksals nennen, dass es einerseits ausgerechnet dem einstigen Winter Soldier gelungen war, Becca in den zurückliegenden Tagen immer wieder auf ein Neues durch seine bloße Anwesenheit vor aufkommenden Panikattacken und Selbstzweifeln zu bewahren, während sie andererseits täglich mehrere Stunden damit zubrachten, gemeinsam im Sicherheitstrakt des Towers durch Meditationsübungen und sanfte Gedankenlenkung nach und nach in die Untiefen von Buckys verworrenen und schmerzhaften Erinnerungen vorzudringen.
Es war eine kräftezehrende Zeit. Seite an Seite blickten sie in menschliche Abgründe, durchsuchten die schwärzesten Teile einer Vergangenheit, die von Schmerz und Angst beherrscht wurde. Gleichzeitig tauchten aber auch immer wieder Szenen aus Buckys Leben vor Hydra auf, gemeinsame Erlebnisse aus seiner Kindheit und Jugend mit Steve und aus den Tagen des Howling Commandos. Momentaufnahmen, die wie Sterne der Hoffnung in einem chaotischen Strudel aus Selbsthass und Ungewissheit leuchteten.
Als Bucky sich dann zum ersten Mal wieder an seine Mutter und seine Schwester erinnerte, lagen sie sich halb lachend, halb weinend in den Armen. Es war auch der Tag gewesen, an dem Rebecca erfahren hatte, dass Buckys jüngere Schwester und sie selbst sich einen Namen teilten. Die erneute Gewissheit, dass sie beide geliebte Menschen unwiederbringlich verloren hatten, brach alte Wunden in ihrem Herz auf, doch zugleich fand sie endlich die Kraft mit einer verwandten Seele über ihre eigene Familie zu reden, ohne dass sie befürchtete von Trauer und Wut überwältigt zu werden.
Bis zu ihrem letzten Atemzug würde sie ihre Eltern und Sarah vermissen, das wusste Becca tief in ihrer Seele. Nichts auf der Welt konnte diesen Verlust jemals aufwiegen. Dennoch fiel nach und nach eine tonnenschwere Last von ihr ab, je mehr sie Bucky von ihrer eigenen Vergangenheit erzählte. Dann lebten ihre Familienmitglieder in Beccas Geschichten weiter und zwar nicht länger als gestaltlose Schatten eines verlorenen Lebens, als rachsüchtige Geister der Vergangenheit, als Opfer eines längst gestürzten Terrorregimes, sondern als geliebte Menschen, als Vater und Mutter und Schwester.

„Hey, Becca!"

Buckys Hand wanderte ihren Arm entlang, zog sie schließlich sanft aber bestimmt gegen seine Brust, während metallische Finger durch ihr offenes Haar glitten. Sein vertrauter Duft umgab sie, beschwor Erinnerungsfetzen an die zurückliegende Zeit in ihr herauf. Stille Spaziergänge im Central Park, Gespräche bis in die Abendstunden hinein auf der Außenplattform des Towers, unzählige Stunden der gemeinsamen Meditation im Sicherheitstrakt des Gebäudes, das alles verschwamm in Beccas Innerstem zu einem einzigen zerbrechlichen Gefühl, das sie noch immer nicht wagte, als das auszusprechen, was es ganz offensichtlich war. Bucky musste es ähnlich gehen, denn dass sie eine geradezu magnetische Anziehungskraft aufeinander ausübten, konnte keiner von ihnen abstreiten. So verging kaum ein Tag, an dem einer nicht die Nähe des anderen suchte, an dem der Drang, den jeweils anderen einfach nur bei sich zu wissen und dessen Gegenwart zu spüren, nicht übermächtig, fast schon unerträglich wurde. Dabei glichen ihre Annäherungsversuche einem schüchternen Tanz, einer zaghaften Abfolge kleiner Gesten und Berührungen, die ihr Umfeld als solche wohl überhaupt nicht registrierte oder falls doch höflich zu ignorieren gedachte.

Buckys warmer Atem streifte auf einmal ihr Gesicht und der Wirrwarr ihrer Gedanken zerplatzte schlagartig wie eine Seifenblase, als ein wohliger Schauder Beccas Wirbelsäule hinabkroch. Die feinen Härchen auf ihren Armen reckten sich in die Höhe und ihr Herz setzte zu einem dröhnenden Galopp an.

„Hab keine Angst, es kommt alles in Ordnung, Becca. Sie werden es verstehen. Du wirst ihnen dabei helfen, so wie du mir geholfen hast."

Federleicht berührten seine Lippen ihren Mund. Der Daumen seiner menschlichen Hand fuhr derweil zärtlich die Kontur ihres Gesichtes nach und Becca verlor sich in dem scheuen, viel zu kurzen Kuss. Wie stille Versprechen waren diese Augenblicke zwischen ihnen. In ihre Zärtlichkeiten legten sie all jene Empfindungen, die sich bisher keiner von ihnen getraut hatte, dem jeweils anderen zu offenbaren. Sie wusste nicht, was genau sie davon abhielt, diese verfluchten drei Worte endlich über ihre Lippen zu bringen. Sie war sonst im Umgang mit Bucky auch nicht auf den Mund gefallen, aber Rebecca hatte verlernt, wie man über seine wahren Gefühle sprach. Es fiel ihr entsprechend schwer, sich einem anderen Menschen auf so intime Art zu öffnen, sich so verletzlich zu zeigen, selbst wenn es sich dabei um Bucky handelte. Die irrationale und dennoch vertraute Angst vor Zurückweisung schwebte stets unheilvoll wie ein Damoklesschwert über ihrem Kopf, ganz gleich wie oft sie sich innerlich einen Hasenfuß schalt. Und Bucky? Aus ihm würde wohl nie ein Mann vieler Worte werden. Wenn seine Taten hingegen künftig jedes Mal einen Tornado aus wildgewordenen Schmetterlingen in ihrem Bauch auslösten, bestritt Becca weiterhin gerne den Großteil ihrer Konversationen in Eigenregie, auch wenn sie sich bisweilen wünschte, Bucky möge über seinen eigenen Schatten springen, um endlich klare Verhältnisse zwischen ihnen zu schaffen.
Etwas, wofür Becca selbst schlicht und ergreifend der Mut fehlte, wie so häufig dieser Tage.

„Ich frag mich manchmal, wer hier eigentlich wem hilft", seufzte sie gegen seinen Mund und löste sich langsam aus Buckys Armen, der sie mit einem etwas unwilligen Knurren freigab. „Wenn du mich nicht mehr oder weniger aus meinem Apartment gezerrt hättest, würde ich jetzt ganz sicher nicht hier stehen."

„Du warst eine gute Lehrerin, Becca. Mancher Sturkopf muss eben zu seinem Glück gezwungen werden."

Ein schiefes Lächeln legte sich bei seiner ehrlichen Feststellung auf Beccas Lippen. Während die digitale Anzeige des Fahrstuhls die Stockwerke unaufhaltsam weiter nach unten zählte und mit jeder überwundenen Etage die Begegnung mit Pat und Anna näher rückte, kam ihr plötzlich auch wieder Angela Benfields mütterlicher Ratschlag in den Sinn. „Gib dir einen Ruck, Kindchen!", hatte die Engländerin ihr noch vor wenigen Tagen am Telefon eingebläut, als sie ihr gestanden hatte, dass sie dem Wiedersehen mit Anna und Pat mit bangen Gefühlen entgegensah. „Ich weiß, die Wahrheit kostet Mut und ist selten etwas Angenehmes, Rebecca. Aber wenn sie dich am Ende tatsächlich nicht so akzeptieren können, wie du wirklich bist, dann sind sie auch nicht deine Freunde, dann waren sie nie wirklich deine Freunde." Wie immer hatte Mrs. Benfield Recht. Also war Becca aus dem verfluchten Teufelskreis von Selbstzweifeln und Schuldgefühlen ausgebrochen und hatte zum Telefonhörer gegriffen, um endlich das zu tun, was sie schon viel zu lange vor sich hergeschoben hatte.
Nun würde sie in wenigen Sekunden den beiden Menschen gegenüberstehen, die ihr während ihrer Zeit in Washington zumindest manchmal das Gefühl gegeben hatten, irgendwie doch ein kleines Stückchen Heimat in der Anonymität der Metropole gefunden zu haben, irgendwie doch geschätzt und gemocht zu werden. Trotz allem.
Oh, sie hatte sich damals zu gerne eingeredet, dass es nur sie und ihren Hund Wallenstein gab, dass sie eine Außenseiterin war und immer bleiben würde, bleiben müsste. Selbst Angela, der sie ihr Leben zu verdanken hatte, in deren Schuld sie bis zum Ende ihrer Tage stehen würde, hatte sie auf Abstand gehalten. Mehr als vier Jahre hatte sie nicht nur ihrem Umfeld sondern vor allem sich selbst etwas vorgespielt, denn letztlich hatten sich diese neuen Bekanntschaften schließlich doch alle gegen ihren Willen in ihr Herz geschlichen - Anna, mit ihrer chaotischen, aber liebenswürdigen Art, Patrick mit seinem warmherzigen Lächeln und schrägen Humor und die anderen Mädchen aus dem Red Passion. Und vor allem Angela, ihre Freundin, ihre Retterin. Erst jetzt, nachdem sie dem Grauen ihrer Vergangenheit ein weiteres Mal entkommen war und im Avengers Tower vorsichtige Schritte in ein neues Leben wagte, wurde Becca allmählich bewusst, wie sehr sie entgegen früherer Beteuerungen an ihren Mitmenschen hing und wie tief es sie verletzten würde, wenn ausgerechnet Anna und Pat sich nach ihrer Offenbarung von ihr abwenden würden.

Eine rote Null und das sanfte Bremsen des Aufzuges läuteten schlagartig ihre Ankunft im Empfangsbereich des Towers ein, brachten Beccas Gedanken zurück ins Hier und Jetzt. Auf Beinen, die sich wie Pudding anfühlten, trat sie hinter Bucky durch die aufgleitende Tür, wagte einige Schritte in das lichtdurchflutete Oval, bevor der Klang einer hohen, beinahe schrillen Frauenstimme ihre Glieder lähmte.

„Becca!"

Noch nie in ihrem Leben hatte sie jemanden derart schnell auf derart hohen Schuhen rennen sehen. Im Augenwinkel beobachtete sie, wie Bucky einen Schritt zur Seite machte, dann verschwamm kurzzeitig ihre Sicht in einem Meer aus braunen Locken und sie taumelte rückwärts, weil Anna sich ihr voll ungebremster Euphorie um den Hals warf. Wieder und wieder drückte ihre Freundin Becca an sich, entwickelte ungeahnte Körperkräfte, als wolle sie ihr sämtliche Rippen brechen, und gab quietschende Geräusche von sich, die sonst nur Meerschweinchen zustande brachten. Sie wusste schon gar nicht mehr, wo ihr der Kopf stand, als plötzlich weitere Arme um ihre Schultern geschlungen wurden.

„Schön dich endlich wiederzusehen, Sternchen!"

Der Klang ihres Kosenamens, den Patrick ihr bereits an ihrem ersten Arbeitstag in Mr. Browns Stripclub verpasst hatte, weil er in dem sternförmigen Branding an ihrem Oberarm eine etwas gewöhnungsbedürftige Art der Körperkunst gesehen hatte, brachte ihre Wangen zum Glühen. Nur mit größter Mühe wand sie sich aus der stürmischen Gruppenumarmung, in die ihre einstigen Kollegen und Freunde sie mehr oder weniger gezwungen hatten. Becca wich einen Schritt zurück, betrachtete ihre Besucher mit befangenem Blick. Anna und Pat strahlten indes wie Honigkuchenpferde um die Wette und hinter ihnen traten Steve und Sam Wilson mit nicht weniger zufriedenem Lächeln auf den Plan.

„Hallo, Leute", brachte Becca hervor, kämpfte zugleich jedoch gegen einen Tränenschleier, der sich entgegen ihres festen Vorsatzes dennoch über ihre Sicht zu senken drohte.

Herrgott, sie hatte sich geschworen, nicht sentimental zu werden! Jetzt stand sie einfach nur da und hoffte nicht vor lauter Rührung in der Öffentlichkeit zu flennen wie ein kleines Mädchen.
Ein weiteres Mal schloss Anna sie ohne Vorwarnung in ihre Arme, drückte ihr einen Kuss auf die gerötete Wange. Sie trug wieder dieses Parfüm, dessen Französisch anmutenden Namen Becca sich einfach nicht behalten konnte, wenngleich die liebliche Veilchennote sie jederzeit an ihre Freundin erinnerte und nun beide Frauen wie eine unsichtbare Duftglocke umgab.

„Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht, Süße!", hauchte Anna an ihrem Ohr, gerade so laut, dass Becca sie verstand. „Jetzt da ich deinen heißen Lover live gesehen habe, kann ich allerdings verstehen, warum du nicht mehr nach D.C. zurück wolltest."

„Was? Gott, nein, Bucky ist nicht, wir sind nicht -", hob Becca bereits an zu protestieren, biss sich dann jedoch auf die Zunge und schluckte jede weitere Erklärung in dem Wissen hinunter, dass eine derartige Diskussion mit Anna ohnehin zwecklos war und im schlimmsten Falle einen für alle Beteiligten hochnotpeinlichen Verlauf nehmen würde.

Anna überspielte Beccas gestammelten Widerspruch mit einem amüsierten Lachen, verpasste ihr einen weiteren Kuss auf die andere Wange, bevor sie dann aus heiterem Himmel einen Schritt auf Bucky zumachte und ihm mit kecker Miene die Hand entgegenstreckte.

„Du bist also Steves alter Freund Bucky", schlussfolgerte die Brünette und präsentierte eben jenen filmreifen Augenaufschlag, der normalerweise vom Fleck weg jeden Mann schwach werden ließ und für den Becca sie seit ihrer ersten Begegnung stets heimlich beneidet hatte.

Völlig ungeniert musterte Anna Buckys kybernetische Armprothese von oben bis unten und Becca hätte schwören können, dass ihre Freundin das Wort „Terminator" in andächtigem Tonfall vor sich hinmurmelte, bevor sie sich abwandte, um dezent ein Petzauge in ihre Richtung anzudeuten.
Auch Pat bedachte den einstigen Winter Soldier mit einem intensiven Blick, wie Becca bemerkte, als sie sich verlegen von Anna wegdrehte. Das Moosgrün seiner Augen wirkte dabei jedoch ungewohnt abweisend. Mehr als ein knappes „Hi" kam ihm nicht über die Lippen. Bucky hingegen schüttelte nach kurzem Zögern artig die ihm dargebotene Hand und erwiderte den Gruß, wirkte in seiner Lage aber nicht minder hilflos und überfordert wie Becca noch vor wenigen Atemzügen.
Steves sachtes Räuspern löste die eigentümliche Atmosphäre glücklicherweise im nächsten Moment auf. Erst jetzt sah Becca, dass Captain America offenbar von Anna zum einfachen Gepäckträger degradiert worden war, denn ein überdimensionierter Koffer thronte in scheußlichem Neonpink wie ein Fremdkörper zwischen ihm und Sam.

„Wie wär's denn, wenn wir zusammen hoch zum Partydeck fahren? Dann könnt ihr euch in aller Ruhe unterhalten", schlug Steve vor und erntete dafür reihum teils erleichtertes teils begeistertes Nicken.

„Außerdem hat man von da oben eine Hammeraussicht auf Manhattan", ergänzte Sam mit charmantem Grinsen, was Anna wiederum ein weiteres fröhliches Quieken entlockte.

Becca atmete einmal tief durch. So hatte sie sich das erste Wiedersehen ganz sicher nicht vorgestellt, doch solange der Friede währte, genoss sie die Gegenwart ihrer Besucher und freute sich von ganzem Herzen über deren euphorische Begrüßung.
Die Fahrt mit dem Aufzug verging wie im Flug und ehe Becca sich versah, erreichten sie die oberste Ebene des Avengers Towers, zu der neben Tony und seinen Teamkollegen nur ausgewählte Personen Zutritt hatten.
Von Stark selbst war dieser Tage hingegen kaum etwas zu sehen, denn seine Lebensgefährtin Pepper Potts war von einer Geschäftsreise nach New York zurückgekehrt und der Milliardär hatte neben seiner augenrollenden Freundin mit anzüglichem Lächeln verkündet, dass er in nächster Zeit einige private Meetings mit dem CEO von Stark Industries abhalten würde. Beim gestrigen Abendessen hatte Becca die rotblonde Schönheit ein wenig kennengelernt. Pepper hatte sie mit ihrem ausgeprägten Selbstbewusstsein und ihrer natürlichen Eleganz tief beeindruckt. Kein Wunder, dass Tony nur noch Augen für seine hübsche Freundin hatte und selbst die frechen Sprüche von Wilson waren an ihm abgeprallt wie Geschosse an seiner Iron Man-Rüstung.
Leider würden Anna und Pat wohl nicht in den Genuss kommen, Clint Barton und Natasha Romanoff persönlich kennenzulernen, denn die beiden einstigen S.H.I.E.L.D.-Agenten waren vor wenigen Tagen mit dem Quinjet zu einer Mission nach Osteuropa aufgebrochen. Offenbar hatte sie der ehemalige Direktor der Geheimorganisation, Nick Fury, dorthin beordert. Was genau so dringlich war, dass gleich zwei Avengers sich der Sache annehmen mussten, entzog sich Beccas Kenntnis. Generell fiel es ihr nach wie vor schwer, in all dem Chaos aus S.H.I.E.L.D, Hydra und Avengers-Initiative den Überblick zu behalten. Da halfen auch die informativen Briefings durch Maria Hill nicht wirklich weiter, die Bucky und sie selbst bereits mehrmals über sich hatten ergehen lassen müssen, damit beide zumindest halbwegs auf dem Wissensstand von Steve und Co. angelangten.
Sie mochte Maria Hill trotzdem, war die Frau doch absolut dienstbeflissen, stets höflich und loyal, ohne dabei ihr sympathisches Naturell einzubüßen. Zwar verfügte die einstige Agentin, die inoffiziell immer noch die Avengers bei ihren Operationen unterstützte, über keine Superkräfte oder dergleichen, doch ihr Organisationstalent und ihre rasche Auffassungsgabe gepaart mit Engagement und einer gehörigen Portion Selbstvertrauen glichen fehlende übermenschliche Fähigkeiten recht gut aus. Zumindest machte sie auf Becca einen äußerst kompetenten stets professionellen Eindruck. Wenn man Natashas Ausführungen glauben durfte, dann war Hill noch dazu eine hervorragende Nahkämpferin, geschickt im Umgang mit Schusswaffen und hatte sich bei diversen Einsätzen und Kampfhandlungen verdient gemacht. Nicht umsonst war sie vor der Auflösung von S.H.I.E.L.D Furys rechte Hand und Stellvertreterin gewesen. Die Ereignisse von Washington waren jedoch nicht spurlos an ihr vorbeigegangen. Hill ließ sich zwar nichts anmerken, doch Becca konnte spüren, dass ihr das unrühmliche Ende von S.H.I.E.L.D. sehr zu schaffen machte, selbst wenn sie sich davor hütete, einen genaueren Blick in die Gedankenwelt der ehemaligen Agentin zu werfen. Manchmal jedoch waren die inneren Monologe ihrer Mitmenschen so laut, dass es ihr schwerfiel, sich diesen in unbedarften Momenten gänzlich zu verschließen.

„Wow, einfach nur wow!", riss Annas aufgeregte Stimme Becca aus ihren Überlegungen.

Die Brünette und Pat standen mit aufgeklappter Kinnlade vor der gigantischen Fensterfront des Partydecks, die einen wirklich atemberaubenden Blick auf das Häusermeer der Großstadt eröffnete, aus dem markante Gebäude wie das Chrysler Building oder das Empire State Building sich wie einst Obelisken im alten Ägypten in den wolkenverhangenen Himmel reckten.

„Schön, nicht wahr?", mischte sich Becca mit einiger Überwindung in das aufkommende Gespräch ein.

„Das ist ganz klar die Untertreibung des Jahrhunderts, Becca", witzelte Pat und trat neben sie, um seinen Arm um ihre Schulter zu legen. „Und dann diese Wahnsinnsbar! Wenn niemand etwas dagegen hat, werde ich nachher mal ein paar meiner neuesten Cocktailkreationen an euch austesten!"

Becca folgte seinen grünen Augen und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Pat war Barkeeper mit Leib und Seele und eigentlich hätte sie es sich denken können, dass Starks schicke und noch dazu sicherlich sündhaft teure Theke das Herz des Iren höher schlagen und seine geübten Finger erwartungsvoll kribbeln ließ. Wahrscheinlich hatten sie alle nach Beccas unangenehmem Geständnis mehr als einen Drink nötig, also stimmte sie ihrem Freund im Stillen zu.
Steve, Bucky und Wilson hatten sich bereits wie auf Kommando an die Theke zurückgezogen und ein letztes ermunterndes Nicken und der warme Glanz hellblauer Augen brachten Becca endlich dazu, das Wort zu ergreifen.

„Euch brennen mit Sicherheit einige Fragen auf der Zunge. Die Loungesessel sind wirklich bequem, also wenn ihr wollt, dann...", begann sie zögerlich und trat von einem Bein auf das andere wie ein nervöses Pferd.

„Klingt gut", ließ Patrick verlauten und gemeinsam mit Anna nahmen sie in etwas Entfernung von Bucky und den anderen Platz.

„Wir sind einfach nur verdammt froh, dass es dir offensichtlich gut geht, Süße", ergriff Anna als Nächste das Wort. „Die ganze Scheiße, die da durch die Medien ging, die Typen, die auf einmal im Red Passion aufgetaucht sind. Wir haben uns wie in einer miesen CSI-Folge gefühlt mit dem Unterschied, dass auf einmal unsere Freundin die Hauptrolle in einem Entführungsdrama spielte und wie vom Erdboden verschluckt war."

„Wir dachten, er hätte dich gekidnappt", erklärte Pat mit einer etwas abfälligen Kopfbewegung in Richtung Theke, wo ihr angeblicher Geiselnehmer sie keine Sekunde aus den Augen ließ.

„Bucky?", echote Becca und musste ein amüsiertes Glucksen unterdrücken, das sich jedoch im selben Augenblick in ein schmerzerfülltes Seufzen verwandelte, als Anna suchend um sich blickte, um dann mit nur einer unschuldigen Frage die fast schon lockere Stimmung vollends ins Gegenteil zu verkehren.

„Wo steckt eigentlich Wallenstein? Ihr seid doch sonst immer unzertrennlich."

Damit brach Beccas mühsam errichtete Fassade wie ein Kartenhaus zusammen und die Tränen schossen ihr heiß in die Augen.

„Verdammt, Becca, was ist passiert?"

Augenblicklich war Pat von seinem Platz hochgeschnellt und mit wenigen Schritten um den niedrigen Tisch herum an ihre Seite geeilt. Nun schloss der Barkeeper sie fest in seine Arme und Becca vergrub ihr Gesicht an seiner Brust.

„Wallenstein - er ist - er ist tot", presste sie schließlich zwischen mehreren Schluchzern hervor.

„A-aber wie ist das nur passiert?", fragte Anna irgendwann mit leiser Stimme in das Schweigen hinein, das nur ab und an von Beccas Schniefen unterbrochen wurde.

Es dauerte einige zittrige Atemzüge, bis sie sich soweit gefangen hatte, um sich aus Pats Umarmung zu lösen und energisch die letzten Tränen aus ihrem Gesicht zu wischen. Jetzt war nicht die Zeit für einen Zusammenbruch, schon gar nicht in Anbetracht der Tatsache, dass noch viele weitere schockierende Neuigkeiten auf ihre Freunde warteten.

„Anna, Pat, ich habe eine Bitte an euch", begann Becca kleinlaut und versuchte sich von den erstaunten Mienen der Angesprochenen nicht weiter aus dem Konzept bringen zu lassen. „Es gibt viele Dinge, die ihr nicht über mich wisst, aber das möchte ich heute ändern. Ich will endlich ehrlich mit euch sein, das habt ihr einfach verdient. Ich kann verstehen, wenn ihr danach wütend oder enttäuscht seid, aber ich bitte euch darum, mir jetzt einfach nur zuzuhören. Okay?"

„Okay, Sternchen", wisperte Pat, strich ihr noch einmal freundschaftlich über den Arm und kehrte dann wieder auf seinen Platz neben Anna zurück, „wir sind ganz Ohr."

Becca zog scharf die Luft in ihre Lunge, faltete ihre schweißnassen Hände in ihrem Schoß. Die folgenden Sätze kamen ihr beinahe mechanisch über die Lippen, sooft hatte sie diese bereits in den vergangenen Wochen vor dem Spiegel in ihrem Apartment einstudiert.

„Ihr kennt mich unter dem Namen Rebecca Stone, aber das ist nicht mein echter Name. In Wahrheit heiße ich Rebecca Goldstein und meine Eltern sind nicht vor meiner Geburt von Deutschland in die USA eingewandert, sondern ich wurde in Deutschland geboren." Sie hielt kurz inne, warf einen letzten Blick zu Bucky, dessen brennende Augen sie auf sich spürte und dessen angespannte Miene ihr unmissverständlich klarmachte, dass nun kein Weg mehr zurückführte. „Ich wurde in München geboren, am 26. Mai 1925."

Mit bebendem Herzen beobachtete Becca wie ihre Gegenüber diese neue Information langsam sacken ließen. Anna fand als Erste ihre Stimme wieder, selbst wenn diese leicht krächzend anmutete und durch tellergroße Augen unterstrichen wurde.

„Am 26. Mai 19 - was zum Kuckuck? Wie zum Teufel soll das denn möglich sein, Becca? Bist du ein Vampir oder was?"

„Nein, ich bin kein Vampir. Ich bin eine Telepathin aus dem vergangenen Jahrhundert."

Die Farbe war aus Annas und Pats Gesicht gewichen. Kreidebleich saßen sie mit offenen Mündern vor ihr, denn Becca hatte die nachfolgenden Worte nicht laut ausgesprochen, sondern in Gedanken mit ihren Freunden kommuniziert. Fast bereute sie es, die beiden mit diesem Geständnis so zu überrumpeln, aber es gab keinen schonenden Weg, um das Unvorstellbare zu erklären. Und sie hatte gerade einmal an der Spitze des Eisberges gekratzt.

„Wie-wie -", stotterte Pat, unfähig einen verständlichen Satz zu formulieren.

Becca konnte ihre Verwirrung deutlich spüren. Fragen über Fragen türmten sich in diesem Augenblick in den Köpfen ihrer Freunde, vermischten sich mit Unglaube, Schock und Überforderung. Anstatt sich in weiteren wortreichen Offenbarungen zu ergehen, beschloss Becca in dieser Sekunde, dass es am schnellsten und schmerzlosesten für alle Beteiligten zuging, wenn sie Pat und Anna einen Teil ihrer Erinnerungen unmittelbar in deren Geist projizierte. Sie versuchte behutsam vorzugehen, ersparte ihren Freunden die grässlichsten Details, aber gleichsam wollte sie ihnen nicht mehr verheimlichen, wer sie war und was sie in der Vergangenheit getan hatte. Gemeinsam mit Anna und Pat erlebte sie viele schreckliche Stationen ihres Lebens auf ein Neues, ihre Zeit bei Hydra, ihre Flucht, die Rettung durch Angela Benfield und später ihre ersten Monate in Washington, die ständige Angst, einen Fehler zu machen und ein weiteres Mal in Hydras Fänge zu geraten, aber auch die schönen Erlebnisse, ihre Freundschaft mit Angela, heitere Stunden mit Wallenstein und ihren Kollegen aus dem Red Passion und zu guter Letzt ihr Zusammentreffen mit Bucky, ihre gemeinsame Flucht und all die weiteren Ereignisse, die innerhalb kürzester Zeit auf sie niedergeprasselt waren, so wie sich ihre eigenen Gedanken plötzlich auf ihre Freunde wie Platzregen aus einer Gewitterwolke ergoss.
Es glich einem machtvollen Sog, immer neue Erinnerungen formten sich in ihrem Geist, stürmten zugleich ungebremst auf ihre Freunde ein und sie bemerkte gar nicht, dass die unfreiwilligen Begleiter ihrer Zeitreise immer tiefer auf ihren Sitzen zusammensanken, dass ihre Gesichter ausdruckslos wurden, blutleer und starr.
Eine Berührung katapultierte sie schließlich aus dem Chaos von Vergangenheit und Gegenwart. Sie blinzelte mehrmals.

„Es reicht, Becca!" Zu ihrer Rechten stand Bucky und hatte ihr eine Hand auf die Schulter gelegt. „Sie haben genug gesehen."

Ein Stöhnen entwich ihrer Kehle, als wäre sie aus einem langen Schlaf erwacht. Mit bebender Hand fuhr sie sich an ihre Stirn, auf der Schweißperlen standen.

„Heilige Mutter Gottes, was zur Hölle?", entfuhr es auf einmal Patrick und sein gezischter Fluch ließ Becca erschrocken zusammenzucken.

Im Nu war der Barkeeper auf seinen langen Beinen, starrte sie aus grünen Augen fassungslos an. Auch in Annas Körper kam langsam aber sicher wieder Leben.

„I-ich -", stotterte Becca beinahe panisch, als sich nun auch Annas entsetzter Blick in sie bohrte.

„D-du kommst aus der Vergangenheit wie Cap?", fiel ihr auf einmal Anna ins Wort. „U-und du bist eine Superheldin, Becca, eine echte Superheldin, ich fass es nicht."

„Ich bin ganz sicher keine Superheldin", widersprach Becca zaghaft.

„Du kannst Gedanken lesen, manipulieren, kontrollieren, das ist - das ist einfach nur, oh mein Gott. Du könntest jederzeit bei den Avengers anheuern!", sprudelte es immer schneller aus Anna heraus, bevor sie verstummte und Becca weiterhin mit großen Augen musterte.

„Heilige Scheiße", war alles, was Pat hervorbrachte, dann vergrub er die Hände in seinem roten Haarschopf und glotzte sie ebenfalls an, als sei ihr in diesem Moment ein zweiter Kopf gewachsen.

„Das kannst du laut sagen, Pat", murmelte Becca und tauschte einen besorgten Blick mit Bucky.

Seine menschliche Hand ruhte noch immer auf ihrer Schulter und übte sanften Druck aus. Becca strich mit ihren Fingern über seinen Handrücken.

„Sei-seid ihr mir denn nicht böse? Immerhin hab ich euch die letzten zwei Jahre was vorgespielt und -"

„Das ist deine größte Sorge? Willst du uns veräppeln?", unterbrach Anna sichtlich entrüstet ihre Freundin. „Warum sollten wir sauer sein? Ja, du warst ziemlich verschlossen, was dein Privatleben anging, aber hey, nach alldem, was du durchmachen musstest, war das wohl kein Wunder. Außerdem waren ja diese grässlichen Hydra-Kerle hinter dir her. Ganz ehrlich, Süße, wie könnten wir dir für irgendetwas böse sein. Gott, was man dir angetan hat, das ist so entsetzlich, so abartig." Langsam redete sich die Brünette in Rage. „Diese miesen Hydra-Schweine! Wie hast du es nur geschafft, das alles zu überleben, ohne durchzudrehen? Wie hast du es überhaupt geschafft in Washington klarzukommen, im 21. Jahrhundert, ohne Familie, ohne Freunde? Wenn wir das nur gewusst hätten, wenn ich gewusst hätte, dass du deshalb so ungern unter Leute gehen wolltest, deshalb nie einen Kerl - Mensch, Becca, das tut mir alles so schrecklich leid!"

„Dir tut es leid?", wiederholte Becca mit tonloser Stimme, denn ihr Gehirn konnte die Tatsache, dass bisher weder Anna noch Pat wutschnaubend aus dem Raum gestürzt waren, nicht so leicht verarbeiten.

Ganz im Gegenteil, sie spürte grenzenloses Mitgefühl in ihren Freunden, Trauer, Verwirrung, aber keine Vorwürfe, keine Wut und keine Enttäuschung.

„Ja, Süße, es tut mir ganz furchtbar leid, was mit dir passiert ist. Du warst damals unsere Freundin und das bist du auch heute, Telepathie hin oder her. Stimmt doch, oder Pat?"

Selbiger wurde von Anna forsch mit einem spitzen Ellenbogen in die Seite geknufft und brachte sogleich ein energisches Nicken zustande, wobei Becca nicht entging, dass er schlagartig errötete.

„Puh, okay, ich hoffe Stark hat guten Stoff in seiner Bar, denn ich brauch jetzt ganz dringend einen Drink."

Und damit stürmte Pat an ihnen vorbei in Richtung Steve und Sam, die noch immer auf Barhockern an der Theke saßen und alarmiert dem Geschehen folgten. Becca versuchte derweil ihre Atmung zu kontrollieren. Dann wanderten ihre Augen zu Anna, die sie ungewohnt still musterte.

„Becca?"

„Hm?"

„Sag mal, hast du unsere Gedanken früher schon einmal gelesen?"

„Niemals", gab Becca schockiert von sich, „das würde ich niemals ohne Erlaubnis bei euch tun."

Annas unerwartetes Kichern ließ sie die Stirn runzeln.

„Du findest das Ganze witzig, echt jetzt?"

Ihre Freundin versuchte vergebens sich zu beherrschen, aber ihr unterdrücktes Glucksen ließ eindeutig an ihrer Ernsthaftigkeit zweifeln. Wahrscheinlich war das Annas Art mit dieser verstörenden Enthüllung klarzukommen.

„Weißt du Becca, ich musste nur gerade daran denken, dass unser lieber Pat wohl deshalb mit hochrotem Kopf abgerauscht ist, weil er sicher schon den einen oder anderen schmutzigen Gedanken in deiner Nähe hatte, der ganz sicher nicht für deine Öhrchen bestimmt war." Ihre Stimme hatte einen verschwörerischen Tonfall angenommen. „Du bist quasi wie Mel Gibson in dieser Komödie, ach verdammt, wie hieß die doch gleich nochmal? ‚Was Frauen wollen', ja genau, die meine ich."

„Wer ist denn dieser Mel Gibson?", schaltete sich nun Bucky mit unsicherer Miene ein, da er wieder einmal eine Anspielung auf die Popkultur der vergangenen Jahrzehnte nicht als solche erkannte.

Ein kleines Lächeln schlich sich auf Beccas Lippen, während sie Anna bei dem verzweifelten Versuch dabei beobachtete, dem einstigen Winter Soldier den Inhalt des Filmes wild gestikulierend zu erklären. Sie konnte kaum glauben, dass sie hier immer noch mit ihren Freunden in einem Raum verweilte, ohne dass diese sie zum Teufel gejagt hatten. Nach und nach wandelten sich ihre Nervosität und Angst in unbändige Freude und Dankbarkeit. Ihre Augen huschten zur Bar, wo Pat sich hinter dem Tresen bereits häuslich einrichtete und diverse Flaschen mit Hochprozentigem vor Steve und Sam aufgereiht hatte. Über den Raum trafen sich ihre Blicke und in Gedanken sandte Becca eine stumme Entschuldigung an den Barkeeper.

„Ich wusste immer, dass du was ganz Besonderes bist, Sternchen. Wie besonders, nun ja, das konnte keiner von uns ahnen. Gib uns einfach ein bisschen Zeit, das alles zu verdauen, ja? Eigentlich sollte einen heutzutage zwar nichts mehr überraschen, aber wow, was soll ich sagen, du hast es jedenfalls geschafft", konnte sie Pats Worte hören, die er im Geist an sie richtete. „Ach, und noch was, wenn dein Freund Mr. Metallarm dich nicht anständig behandelt, dann kriegt er es mit mir zu tun, verstanden? Ich würde Eins gegen Eins zwar höchstwahrscheinlich den Kürzeren ziehen, immerhin ist der Kerl quasi eine Art Supersoldat wie der Cap, wenn ich das richtig verstanden habe, aber hey, ich bin Ire, vor Schlägereien sind wir noch nie davongelaufen."

„Mr. Metallarm heißt Bucky und wir sind nicht zusammen, Pat."

„Ach komm schon, Becca, wem machst du hier was vor? Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock und ich als Barkeeper hab für sowas ohnehin einen siebten Sinn. Der Typ ist bis über beide Ohren in dich verschossen, sag ich dir, und du scheinst ja auch eine ganze Menge für ihn übrig zu haben. Glückliches Kerlchen! Höchste Zeit, dass er mal langsam die magischen drei Worte an die Frau bringt, sollte das nicht längst passiert sein. Eins kann ich dir nämlich versprechen, wenn dein Bucky nicht bald in die Puschen kommt, werd ich ihm persönlich Beine machen. Supersoldat hin oder her. Verlass dich drauf!"

„Danke, Pat. Für alles, für einfach alles."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top