Kapitel 60: Fressen und gefressen werden
„Kolja! [Anm. d. A.: russ. Koseform für Nicolaj]"
Ein Schwall von Verwünschungen ging in einem lauten Poltern hinter der Holztür unter, als etwas Schweres gleich einem Backstein auf dem Boden aufschlug und seine ganze Welt wie bei einem Erdbeben erschütterte. Gleichzeitiges, blechernes Scheppern erinnerte ihn daran, dass er in seiner aufkommenden Panik den leeren Zinneimer vor dem Kamin hatte stehen lassen, mit dem er dieser Tage den Schnee über dem Feuer zu Wasser schmolz.
Der nachfolgende Wutschrei, der aus dem Wohnraum zu ihm durchdrang, glich einem Versprechen, dass er seine eigene Unachtsamkeit in Kürze bereuen würde. Langsam grub die Angst ihre eisigen Krallen in sein Herz, das ihm bis in den Hals pochte und dabei so laut gegen seinen schmalen Brustkorb hämmerte, dass der dumpfe Widerhall in seinem Schädel dröhnte.
„Kolja, verdammt, wo steckst du?"
Das Stampfen mächtiger Stiefel ließ ihn bei jedem weiteren Schritt in Richtung seines Versteckes zusammenzucken. Mit bebenden Händen klammerte er sich an der Hündin fest, deren warmer Körper sich an seine Seite presste. Gemeinsam mit ihrem jungen Menschenfreund zitterte das Tier so entsetzlich um die Wette wie dürre Zweige in den kalten Winterstürmen ihrer sibirischen Heimat, wenn der Atem von Väterchen Frost sogar reißende Flüsse zu weißblauem Eis erstarren ließ. Verzweifelt kniff er die Augen zu, versuchte sich vorzustellen, er wäre an einem anderen Ort. Ein Ort, an dem er ihn nicht finden konnte. Ein Ort ohne Furcht, ohne Schmerzen, an dem alles noch so war wie früher.
Wie lächerlich dieser Wunsch doch war! Einen solchen Ort gab es nicht, würde es für ihn wohl nie geben.
Trotzig biss er seine Zähne zusammen, so fest und brutal, dass sich allmählich ein wohltuendes brennendes Ziehen bis in seine Schläfen ausbreitete. Er musste aufhören, an solchen kindischen Träumen festzuhalten. Solche Gedanken machten ihn verletzlich, schwach. Dabei hatte er sich doch vorgenommen stark zu sein und mutig.
Es war seine Schuld, wenn Ninotschka die kommenden Wochen wieder humpeln würde. Und es war seine Schuld, wenn er sich heute Nacht ein weiteres Mal in den Schlaf weinen musste. Er hatte um das Risiko gewusst, als er Ninotschka zu sich ins Warme geholt hatte. Ihm war klar gewesen, welche Konsequenzen sein Handeln mit sich bringen würde. Vater hatte ihm verboten, die Hündin in die Hütte zu lassen, wenn er mit den älteren Tieren auf der Jagd war. Und was Vater sagte, war Gesetz. Aber er liebte die kleine Laika zu sehr, als dass er sie bei dieser Eiseskälte allein in dem zugigen Holzverschlag neben ihrer Behausung eingesperrt ihrem Schicksal überlassen wollte. Vater pflegte stets zu sagen, dass ein Hund eben nicht zäh genug war, wenn er den russischen Winter nicht überlebte, dass in dieser Welt nur die Besten überlebten. Nur die Starken. Doch das grau-weiße Fellknäuel war ihm gegen seinen Willen zu sehr ans Herz gewachsen, als dass er auf dessen Gesellschaft in den unzähligen einsamen Stunden verzichten wollte. Mit Ninotschka an seiner Seite fühlte er sich etwas weniger einsam und dieses zarte Gefühl von Geborgenheit wollte er einfach nicht aufgeben.
So war es vielleicht am Ende mehr seine eigene Selbstsucht gewesen und weniger das Mitleid, das ihn dazu gebracht hatte, sich heimlich seinem Vater zu widersetzen. Er wusste, dass er für diesen Regelbruch, diesen winzigen Anflug von Aufsässigkeit im Laufe des Abends seine Strafe erhalten würde. Aber im Grunde war ihm ebenso bewusst, dass er ohnehin nicht ungeschoren davon kommen würde, wenn Pjotr Seizew wieder einer seiner düsteren Launen anheimfiel, wie es in den vergangenen Wochen und Monaten immer häufiger der Fall gewesen war.
Während er versuchte seine hektische Atmung unter Kontrolle zu bringen, entfernten sich die schweren Schritte hinter der Tür. Das vertraute Klirren einer Flasche gepaart mit dem anschließenden Quietschen des alten Ledersessels verriet ihm, dass der Jäger wohl beschlossen hatte, seiner liebsten Beschäftigung nachzugehen, anstatt weiter nach seinem Taugenichts von Sohn zu suchen.
Es verging noch einige Zeit, bis er schließlich all seinen Mut zusammennahm und sich mit wackligen Knien erhob.
„Seizew, können Sie mich hören?"
Ein widerliches Piepsgeräusch dröhnte in seinem Schädel. Anhaltend, bohrend, schmerzhaft wie der Stachel eines Insekts, dessen Gift sich über seine Blutbahnen bereits in all seinen Organen ausbreitete, seine Arme und Beine langsam absterben ließ, seine Atmung lähmte. Sein gesamter Körper fühlte sich an, als sei er durch den Fleischwolf gedreht worden. Mehrmals.
„Seizew, können Sie mich hören?"
Seine Haut brannte, als hätte man sie mit Säure übergossen. Krampfhaft versuchte er die Augen zu öffnen, einen Laut aus seiner geschundenen Kehle herauszuwürgen, die sich roh anfühlte, so als hätte er stundenlang wie am Spieß geschrien. Innerlich stieß er einen Fluch nach dem nächsten aus, als ihm weder das eine noch das andere gelang, als er weiterhin regungslos dalag. Erbärmlich, hilflos, schwach.
Dann streckte die Dunkelheit auf ein Neues ihre Finger nach ihm aus. Er kämpfte darum, bei Bewusstsein zu bleiben, wehrte sich wie ein Ertrinkender gegen die Flut, deren Wellen wieder und wieder über sein Innerstes hereinbrachen. Der Sog riss ihn mit sich in die Tiefe. Und er ließ sich mit dem Strom treiben. Undurchdringliche Schwärze und das Echo von damals waren alles, was ihn umgab.
„Bleib hier, Ninotschka! Ich komm dich später holen."
Er kraulte den Hund hinter einem plüschigen Ohr, um anschließend zum Ausgang der kleinen Speisekammer zu wanken, in deren dunklem muffigem Inneren er sich mit dem Tier versteckt hielt, seit er gerade noch rechtzeitig durch das mit Eiskristallen übersäte Fenster die Ankunft seines Vaters vor der Veranda ihrer Blockhütte bemerkt hatte. Dass Pjotr Seizew so zeitig vor Sonnenuntergang zurückgekehrt war, konnte nur bedeuten, dass er entweder schnell Beute gemacht hatte oder die Sicht durch den anhaltenden starken Schneefall so eingeschränkt war, dass er die Jagd frühzeitig hatte abbrechen müssen. Während er lautlos die Tür hinter sich schloss, betete er zur heiligen Gottesmutter, dass es Ersteres sein möge, denn dann wäre der Vater zumindest in besserer Stimmung als für gewöhnlich.
Mit gesenktem Kopf schlich er zum Kamin, beobachtete aber den Jäger derweil möglichst unauffällig aus dem Augenwinkel. Breitbeinig saß sein Vater auf dem mit Elchleder bezogenen Ohrensessel und setzte die bereits halbleere Wodka-Flasche gerade erneut an, um einen tiefen Schluck der brennenden Flüssigkeit in seinen Rachen zu kippen. Dabei tanzte sein hervorstechender Adamsapfel wie wild unter der mit dunklen Bartstoppeln bedeckten Haut auf und ab.
Gegen seinen Willen und wider jede Vernunft entwich ihm bei diesem komischen Anblick ein leises Kichern. Der kurze kindliche Moment verflog jedoch binnen eines Herzschlages, als sein Vater wie tollwütig aus seiner scheinbaren Trägheit emporschoss und mit unstetem Gang auf ihn zu getorkelt kam.
Wie immer war es eine saftige Ohrfeige, die den nachfolgenden ungleichen Kampf zwischen dem Bären von einem Mann und seinem schlaksigen Sohn einleitete, der gerade einmal bis an die Brust seines hochgewachsenen Vaters reichte.
Das Innere der kleinen Holzhütte drehte sich um ihn wie bei der Fahrt in einem Kinderkarussell, sein Kopf fühlte sich an, als sei er mit Watte vollgestopft. Die Knie gaben nach und er fand sich auf dem Boden wieder. In seinen Ohren nistete sich das altbekannte, durchdringende Pfeifen ein, das sich bis in die hintersten Winkel seines Gehirns zu wühlen schien.
Dann kollidierte mit der Wucht eines Hammerschlages schon etwas unvorstellbar Hartes mit seiner Magengegend, trieb ihm die Tränen in die Augen und die Luft aus seiner Lunge. Der Schrei, der sich auf seinen Lippen formte, verkam zu einem wässrigen Keuchen.
„Lässt einfach dein Zeug in der Gegend rumliegen!"
Ein Lallen schlich sich in Pjotrs Stimme, als er ihn wie ein gereizter Wolf umkreiste, so als würde er die nächste Reaktion seines Opfers abwarten.
Wieder ein Tritt. Er biss sich auf die Zunge, schmeckte das warme Blut in seinem Mund. Sein Körper krümmte sich reflexartig zusammen.
„Hast keinerlei Anstand, keinen Respekt! Undankbarer Scheißbengel!"
Ein letzter Tritt, dann das grässliche so bekannte Klirren der Gürtelschnalle und das Geräusch von Leder, das quälend langsam über Stoff gezogen wurde.
„Seizew, verstehen Sie mich? Sie befinden sich in einer Hydra-Basis nahe Novi Grad in Sokovia."
Wieder das Piepsgeräusch, vermischt mit seinen eigenen, schweren Atemzügen. Schwärze umgab ihn, lastete wie ein Totentuch auf ihm. Dann explodierte der Schmerz in seiner Schulter, als jemand energisch an seinem Arm rüttelte.
„Seizew, sind Sie wach?"
Verfluchter Wichser! Wer auch immer gerade wie ein Wahnsinniger an seiner Schulter zerrte, die wie Feuer brannte, er würde ihm liebend gern dieselbe Behandlung angedeihen lassen und langsam und genüsslich dessen Arm aus dem Gelenk kugeln.
„Seizew, hören Sie mich?"
„Laut und deutlich, du verdammtes Arschloch", wollte er nur zu gerne der penetranten Stimme entgegen brüllen, aber weder seine Zunge noch seine Stimme machten Anstalten, seinem innigsten Wunsch nachzukommen.
Als er jedoch tiefer in sich selbst hinein lauschte, geriet seine Umwelt ins Hintertreffen. Sein Körper fühlte sich leicht wie eine Feder an, vibrierte mit einer eigentümlichen Energie, die rhythmisch und stetig durch seine Venen zirkulierte, als sei er Teil eines riesigen Stromkreises. Er genoss dieses Gefühl, diese Kraft, auch wenn jede Faser seines Körpers ihm zugleich unmissverständlich klarmachte, dass er wohl eine ziemlich beschissene Zeit hinter sich haben musste.
Er konnte sich nicht daran erinnern, noch lag alles im Dunkeln und nur längst vergangene Ereignisse und verdrängte Gesichter versuchten sich mit ekelhaftem Nachdruck in seinen Hirnwindungen festzusetzen.
Wach bleiben! Er musste bei Bewusstsein bleiben! Aber erneut wurde sein Atem immer schwerer, ein weiteres Mal verlor er den Kampf gegen diese namenlose Macht, die seinen Körper auseinander riss, wie ein Messer in sein Innerstes fuhr und alles in eine offene, wütende Wunde verwandelte.
„Bitte!" Seine eigene Stimme war ein bloßes Röcheln.
„Halt die Schnauze!"
Beißend kroch der Gestank des Wodkas in seine Nase, strömte über seinen Nacken, als sein Vater wie eine aufgetürmte Gewitterwolke vor ihm aufragte. Die Pupillen geweitet, die Nase gerötet vom Alkohol. Grob drückte er ihn bäuchlings mit seinem Stiefel auf den Boden.
„Denkst wohl, dein Vater merkt nicht, dass du den Drecksköter wieder bei dir hattest, was? Denkst wohl, du bist besonders schlau?"
„Bi-Bitte!" Sein Flehen war nicht mehr als ein tonloses Schluchzen.
„Weißt du, was du bist, Nicolaj? Du bist ein Niemand, nur ein kleiner beschissener Niemand. Du bist ein Nichts, ein Schwächling, ohne mich bist du nichts! In dieser Scheißwelt überleben nur die Starken, nur die Besten! Wie oft muss ich dir das noch in dein verdammtes Spatzenhirn reinprügeln, bis du es endlich kapierst, hm?"
„Bi-Bitte!", brachte er ein letztes Mal stammelnd hervor, schämte sich gleichzeitig der Tränen, die brennend über seine Wangen liefen.
Neben seinem Kopf fiel die Gürtelschnalle auf den hölzernen Boden, der von einem alten, längst ausgeblichenen fleckigen Teppich bedeckt war. Er starrte das glänzende Metall an, so als könne er mit der Kraft seiner Gedanken allein dieses an Ort und Stelle fixieren. Doch allmählich wanderte die Schnalle nach oben, wurde quälend langsam seinem Blickfeld entrückt. Sein Vater zog hörbar scharf die Luft ein und dann erhob sich ein weiteres Mal die Symphonie des Grauens in Pjotr Seizews einsamer Hütte am Rande der weiten schneebedeckten Nadelwälder.
Seine eigenen heißeren Schreie vermengten sich mit Ninotschkas Winseln und Jaulen hinter der Tür der Speisekammer, dem verzweifelten Kratzen ihrer krallenbewehrten Pfoten am Holz zu einem scheußlichen Konzert, unterbrochen nur von dem grunzenden Schnaufen, wenn sein Vater wieder mit dem Gürtel ausholte, wenn das Leder wieder wütend zischend durch die Luft peitschte. Gleich den messerscharfen Klauen eines Greifvogels grub sich der Schmerz in seinen Rücken, ließ grelle Lichter vor seinen Augen tanzen.
Pjotr Seizew war an diesem Abend gnädig gestimmt und so war es nur das ledernde Ende des Gürtels, dass ein ums andere Mal mit einem schmatzenden Geräusch auf zuckendes Fleisch niedersauste.
Er war ein Niemand. Ein Nichts. Und es gab kein Entkommen aus der Hölle, die sein Leben war.
Selbst die Leute im kleinen Nachbardorf wussten ganz genau, was der alte Seizew mit seinem Sohn anstellte, wenn er wieder einmal zu tief ins Glas schaute und im Suff die Kontrolle verlor. Wenn er das wahre Gesicht hinter der Maske des gleichgültigen Jägers zeigte. Aber es interessierte keinen. Es war ihnen schlichtweg egal, dass der Junge häufig eines seiner Beine ein wenig nachzog, dass ein dunkelblaues Veilchen meist eines seiner Augen zierte oder seine Lippe wieder einmal geschwollen und aufgeplatzt war. Hier kümmerte sich jeder nur um seinen eigenen Dreck.
Pjotr Seizew sagte die Wahrheit.
Für die Anderen war er ein Niemand, ein Nichts. Die Welt, wie er sie kennengelernt hatte, war ein Ort voller Unmenschen und Grausamkeiten. Aber irgendwann, das schwor er sich auch an diesem Abend, als er wie all die Male zuvor unter Tränen und Wimmern in einen unruhigen Erschöpfungsschlaf hinüberglitt, irgendwann würde ihm das alles keine Angst mehr machen. Er würde älter werden, größer, schneller, stärker. Er würde so viel mehr sein. Und dann war er nicht mehr derjenige, der zitternd und blutend am Boden lag.
Nie wieder.
Er musste nur durchhalten. Überleben. Das konnte er. Darin war er gut.
„Seizew, können Sie mich hören?"
Seine Lunge füllte sich mit Sauerstoff. Sein Herz raste, überschlug sich beinahe in dem rasanten Galopp, untermalt von dem verhassten eindringlichen Piepskonzert, das ihn in der Dunkelheit willkommen hieß.
Eine plötzliche Erkenntnis riss ihn aus dem Strudel seiner wirren Gedanken, die sich auf ein Neues in den Tiefen des Gewesenen zu verlieren drohten. Es war ihm, als wäre sein Geist aus einem langen Traum erwacht, als könne er seine Umgebung und seine Mitmenschen zum ersten Mal in seinem Leben wirklich und wahrhaftig spüren, ohne dass er sie dafür mit seinen Augen sehen musste.
„Werte stabil", ertönte eine andere Stimme aus der Finsternis. „Er wacht auf, Dr. List! Diesmal wacht er wirklich auf!"
„Zwei Wochen! Ganze zwei Wochen, Schedler!" Eine weitere Stimme. Männlich, voller Euphorie. „Es ist unfassbar. Ich glaubte längst alles verloren, all unsere Anstrengungen umsonst."
„Und denken Sie, dass er - dass er -?"
„Ich weiß es nicht, werter Kollege. Aber allein die Tatsache, dass er die Prozedur überlebt hat, ist vielversprechend. Die Zeit wird es uns zeigen. Bei den Zwillingen dauerte es auch einige Tage, bis sich ihre Kräfte manifestierten. Die Aufwachphase ist aber besonders kritisch. Wir haben ihn schon mehrmals wieder verloren. Lassen Sie ihn keine Sekunde aus den Augen, Schedler! Ich muss umgehend persönlich den Kommandanten verständigen, dass White Death aus dem Koma aufgewacht ist."
Schritte entfernten sich eilig. Ein einzelner Mann blieb zurück. Sein Augenlicht war noch nicht zu ihm zurückgekehrt, doch trotzdem sah Seizew ihn neben sich stehen. Nein, falsch, er konnte seine Gegenwart spüren, konnte fühlen wie sich die Luft um ihn herumbewegte. Staubkörner, die um seinen Körper tanzten, Moleküle, die sich im Raum verschoben.
„Mein Gott, wenn Sie sich nur sehen könnten, Seizew", hörte er mit einem Mal Dr. Schedler neben sich in beinahe andächtigem Tonfall flüstern. „Sie waren hirntot. Es war schon vorbei. Aber Sie haben sich einfach geweigert zu sterben. Sie sind zu uns zurückgekehrt. Was auch immer Sie am Leben gehalten hat, es ist ein Wunder."
Seizew schenkte dem weiteren Gefasel des Wissenschaftlers keine Beachtung. Stattdessen badete er in all den neuartigen Empfindungen, die seinen Geist, trotz der unbestreitbaren Erschöpfung seines Körpers, in nie gekannte Ekstase versetzte. Ihm war, als hätte er eine Tür aufgestoßen, als hätte er ein Portal durchschritten in eine vollkommen neue Welt. Er war blind gewesen. All die Jahre hatte er rein gar nichts von dieser geheimen Sphäre, die alles Lebende umgab, geahnt. Als hätte er einen Apfel vom Baum der Erkenntnis gekostet, bewunderte Seizew voller Staunen dieses seltsame doch nunmehr vertraute Wissen, um die geheimsten Mechanismen des Lebens.
Aber im selben Atemzug beschlich ihn der Verdacht, dass er zuvor nicht wirklich vollständig gewesen war, dass immer etwas gefehlt hatte. Er hatte in dem Glauben gelebt, bereits die höchste Stufe des Möglichen erreicht zu haben. Sein Irrtum, seine Arroganz erschienen ihm rückblickend geradezu lächerlich. Wie bei einem halbfertigen Mosaik waren viele Bausteine nötig, um ein perfektes Ganzes zu erschaffen und die Erkenntnis, dass nun womöglich die letzten fehlenden Puzzleteile nach all den Jahren ihren angestammten Platz gefunden haben sollten, brachte sein Blut in Wallung und ließ sein Inneres triumphierend aufheulen. Jetzt war er der, der er immer hatte sein sollen. Das namenlose Streben, die nagende Unzufriedenheit, die ihn zeit seines Lebens verfolgten, fanden heute und an diesem Tag ihr Ende.
Ja, verflucht, sein Körper war zerbrochen, schwach und ausgezehrt. Er konnte sich keinen Millimeter rühren, keinen Laut von sich geben, noch nicht einmal seine Augen aufschlagen. Er war abhängig von den Wissenschaftlern, von ihren Gerätschaften, hilflos wie ein Neugeborenes. Der Schmerz brannte noch immer heiß und unnachgiebig in seinem Fleisch. Der Kopfschmerz war beinahe unerträglich. Aber sein Geist, seine Sinne waren völlig klar, überempfindlich, übermenschlich.
Schedler hatte Recht.
Langsam kroch die Erinnerung an die vergangenen Tage und Wochen zurück in sein Bewusstsein. Nicolaj Seizew hätte tot sein müssen. Verreckt wie eine Laborratte bei den Experimenten, die der Wissenschaftler und seine Hydra-Kollegen an ihm durchgeführt hatten. Aber er war nicht tot, ganz und gar nicht. Und das verdankte er sicher keinem beschissenen Wunder, wie der Doktor behauptet hatte.
Er erinnerte sich plötzlich wieder an seine Aufnahmeprüfung im zweiten Winter Soldier Programm, an sein erstes Aufeinandertreffen mit seinem späteren Mentor Wolkow.
„Warum glauben Sie, dass ausgerechnet Sie für unsere Zwecke geeignet sind, Genosse Seizew?", hatte der Oberst ihn damals gefragt. „Warum glauben Sie, dass die Prozedur bei Ihnen erfolgreich sein wird?"
„Weil ich überleben werde, Herr Oberst", hatte er geantwortet. „Weil ich immer überlebe."
Menschen waren Gewohnheitstiere, sie handelten und funktionierten nach dem, was sie im Laufe ihres Lebens gelernt hatten, nach den Erfahrungen, die sie in der Vergangenheit gemacht hatten. Deshalb fiel es ihnen auch so verdammt schwer, alte Angewohnheiten abzulegen.
Er war es schon immer gewohnt gewesen, zu kämpfen. Er hatte gelernt, zu überleben.
Sein Vater hatte es schon damals verstanden. Er war vielleicht ein Säufer gewesen, ein mieser Schläger und beschissener Dreckskerl, aber er hatte den tiefen doch so simplen Sinn des Lebens begriffen, hatte seinem Sohn dieses Wissen wieder und wieder eingeprügelt. Pjotr Seizew hatte ihm jenes Kredo beigebracht, das seit jeher all sein Denken und Tun bestimmte, das ihn dorthin gebracht hatte, wo er jetzt war.
Fressen und gefressen werden, so einfach war es. Die Welt war nichts weiter als ein riesiger Haufen Scheiße. Nur die Starken überlebten hier, nur die Besten.
Und er konnte es kaum erwarten, sein neues besseres, stärkeres Ich kennenzulernen.
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