Kapitel 58: Das schwarze Tor
Wahrscheinlich spiegelte sich in ihrem Gesicht eine Mischung aus Staunen und Enttäuschung wider, als Becca die Tür ihres Apartments öffnete und dort Natasha Romanoff vorfand, mit einem wissenden Schmunzeln und einer großen Papiertüte bewaffnet, von der die geschwungenen roten Schriftzeichen des gemeinsamen Lieblingsasiaten grüßten.
„Oh, du bist es."
„Ich hatte eine etwas herzlichere Begrüßung erwartet", merkte die Rothaarige gespielt beleidigt an, während sie sich an Becca vorbei durch den Türrahmen drängte und kurz darauf das Essen auf dem Couchtisch platzierte. „Immerhin hab ich Chinesisch mitgebracht und ich weiß ja mittlerweile, dass du die kleinen Frühlingsröllchen von Opa Wang quasi inhalierst."
„Tu-tut mir leid, Natasha, ich habe heute einfach keinen Besuch mehr erwartet."
„Für Jemanden, der die Gedanken anderer Menschen lesen kann, bist du eine verdammt schlechte Lügnerin, Becca", konterte die Agentin mit einem Augenzwinkern und ließ sich auf dem Sitzpolster nieder, um anschließend in der mitgebrachten Tüte zu wühlen.
Die Hände auf dem Rücken krampfhaft verknotet, schlich Becca ebenfalls zu dem L-förmigen Sofa aus dunklem Leder, blieb aber wenige Schritte entfernt stehen, um ihren unerwarteten Gast kritisch zu beäugen. Eine weitere Entschuldigung formte sich auf ihren Lippen, als grüne Katzenaugen sie mit einem Mal über den Raum hinweg fixierten.
„Ich kann mir schon vorstellen, mit wem du nach dem gemeinsamen Ausflug in den Central Park eigentlich gerechnet hast!" Beccas glühende Wangen überging Natasha großzügiger Weise kommentarlos und förderte stattdessen zwei eckige weiße Pappboxen aus der Tüte zutage. „Na komm schon, Opa Wang geht doch immer! Ich hab' sogar die Spezial-Frühlingsröllchen mit Hummerfüllung für uns besorgt."
Bei der bloßen Erwähnung des Essens machte sich Beccas Magen wie auf Kommando lautstark bemerkbar. In den vergangenen Tagen hatte Natasha sie praktisch mit Junk Food am Leben gehalten, hatte sie sich doch mehr oder weniger in ihrem Gästeapartment im Avengers Tower verkrochen, um vor allem Bucky aus dem Weg zu gehen. Mit einem ergebenen Seufzer gesellte Becca sich zu ihrer Besucherin.
„Danke, Natasha." Das kleine Lächeln, das sich in Beccas Gesicht stahl, als ihr der vertraute Duft aus der geöffneten Box in die Nase stieg, kam von Herzen.
„Keine Ursache. Irgendjemand muss schließlich ein Auge darauf haben, dass du nicht verhungerst", erklärte die Russin zwischen zwei Bissen. „Von den Anderen werden wir heute ohnehin keinen mehr zu Gesicht bekommen. Steve hat mir erzählt, dass er mit Barnes und Wilson im Kraftraum trainieren will und wie ich die Kerle so kenne, wird sich das Ganze zu einem regelrechten Testosteron-Wettstreit auswachsen. Clint ist am Schießstand. Und Tony, ganz ehrlich, keine Ahnung, was der den lieben langen Tag in seinem Labor treibt, wenn Pepper auf Geschäftsreise ist. Kurzum, uns bleibt genug Zeit zum Plaudern."
„O-Okay", murmelte Becca in ihre Box und vermied einen Blickkontakt.
Sie kannte Natasha Romanoff nicht lange und auch wenn die Frau recht bemüht um sie war und ihr nie einen Anlass zu Misstrauen gegeben hatte, fühlte sie sich bei ihren Unterhaltungen manchmal wie in einem Verhör. Dabei war Natasha eine äußerst sympathische Gesellschafterin, fand stets die richtigen Worte in den richtigen Momenten und hatte durch ihre unaufgeregte, verständnisvolle Art schnell eine Beziehung zu dem verheulten Häufchen Elend aufgebaut, das Becca in den vergangenen zwei Wochen ganz sicher gewesen sein musste.
Im Grunde war es doch ganz einfach. Sie mochte Natasha Romanoff, auch wenn sie eigentlich gar nicht wusste, wer genau sich hinter der attraktiven Fassade dieser Frau verbarg. Das konnten wohl selbst ihre Teamkollegen nur erahnen, wie Becca im Stillen vermutete. Nur bei Clint Barton war sie sich da nicht ganz so sicher, denn dass ihn und Natasha mehr als eine bloße Freundschaft unter Kollegen verband, hatte sie schon beim ersten längeren Treffen gespürt, als sie die beiden zusammen erlebt hatte. Oh, die Agenten waren äußerst geübt darin, sich in der Anwesenheit anderer Menschen wie ganz normale Kollegen zu verhalten. Doch ab und an, wenn er glaubte niemand würde es bemerken, schlich sich ein warmes Lächeln auf Bartons Lippen, sobald sein Blick zu der Rothaarigen wanderte. Und in den Augen der Russin flackerte wiederum ein eigentümliches Leuchten auf, wenn sie den Bogenschützen mit einem spöttischen Schmunzeln bedachte, wann immer sie sich eines ihrer spielerischen Wortgefechte lieferten.
Becca trug zwar nach wie vor Starks Halsreif, aber sie brauchte ihre telepathischen Kräfte nicht, um in die Köpfe dieser zwei Geheimniskrämer sehen zu können und sie wunderte sich über die scheinbare Ignoranz der übrigen Avengers. Ungewollt wanderte ihre rechte Hand zu dem Metall um ihren Hals. Dann bemerkte sie Natashas schiefes Lächeln.
„Es stört dich, oder?" Die Frage war vielmehr eine Feststellung und Becca ließ ihre Hand abrupt sinken.
„Das sollte es eigentlich nicht", brachte sie hervor und bewunderte einmal mehr die gute Beobachtungsgabe ihres Gegenübers. „Ich habe solange meine Kräfte unterdrückt, dass es keinen Unterschied machen sollte."
„Aber es macht einen Unterschied, nicht wahr?" Natasha legte ihren Kopf leicht schief, eine Angewohnheit, die Becca schon häufiger bei der Frau bemerkt hatte. „Wir können nun einmal nicht ändern, wer wir sind."
Sie stellte ihr Essen vor sich auf den Tisch, schlug elegant ein Bein über das andere und ließ Rebecca dabei keinen Wimpernschlag aus den Augen.
„Nein, das können wir nicht", echote Becca und starrte auf einen unbestimmten Punkt an der gegenüberliegenden Wand.
Eine Zeit lang saßen die beiden Frauen schweigend beisammen, jede beschäftigt mit Opa Wangs Frühlingsröllchen und den eigenen Gedanken. Es war wie so oft Natasha Romanoff, die auf ein Neues das Gespräch suchte.
„Ich kann ihn dir abnehmen. Hier und jetzt, wenn du das willst."
„Den Halsreif?" Becca starrte Natasha an, als hätte sie soeben ihre Verlobung mit Clint Barton verkündet.
„Ja, der AT-HR war eine reine Sicherheitsvorkehrung und selbst Tony ist mittlerweile davon überzeugt, dass von dir keine Gefahr mehr ausgeht. Also haben wir beschlossen, dass wir dich von dem Ding befreien - unter einer Bedingung."
Ein leiser Seufzer entwich Becca, denn auch sie kannte Stark inzwischen gut genug, um zu wissen, dass ein Gefallen seinerseits stets mit einer Gegenleistung verknüpft war.
„Was soll ich tun?"
Natashas leises Lachen bewahrte das Gespräch davor, eine bittere Note anzunehmen und in eine Richtung abzudriften, die Becca nicht zum ersten Mal gedanklich eingeschlagen hatte.
„Ich nehme dir jetzt dieses scheußliche Teil ab, etwas was nicht nur ich schon seit geraumer Zeit tun möchte, und du trägst stattdessen ab sofort das hier", verkündete die Agentin und zog aus der Tasche ihrer Jeans ein fingerbreites Armband hervor.
„Hat Stark das Design verbessert?" Becca zog eine Augenbraue nach oben und konnte nicht verhindern, dass die Ernüchterung aus ihren Worten nur allzu deutlich herauszuhören war.
Natasha überging Beccas als Sarkasmus getarnte Nachfrage mit einem halbseitigen Grinsen und erhob sich stattdessen, um die Couch zu umkreisen. Als ihre Haare sanft von der anderen Frau beiseitegeschoben wurden und kurz darauf ein leises Piepsgeräusch ertönte, stieß Becca in einem langgezogenen zischenden Laut all die Luft aus, die sich in ihrer Lunge aufgestaut hatte.
Und dann war es, als würde eine tonnenschwere Last von ihren Schultern genommen. Das unangenehme Druckgefühl in ihrem Kopf, an das sie sich in den vergangenen Wochen fast schon gewöhnt hatte, war mit einem Mal wie weggeblasen. Langsam fuhr ihre Hand über die Leere, die das Metall auf ihrer Haut zurückgelassen hatte.
„Besser, oder?"
Natasha legte den AT-HR auf den Couchtisch, als sie sich ein weiteres Mal zu ihr gesellte. Und so ungern wie Becca es auch zugab, sie hatte Recht. Es fühlte sich gut an.
„Das hier", die Rothaarige deutete auf das Armband, als sie weitersprach. „Das ist nur ein simples Schmuckstück, in das Stark einen winzigen Mikrochip eingebaut hat. Wie im Fall des AT-HR können wir dich dadurch überall orten. Es dient also allein deiner Sicherheit, das verstehst du doch, oder Becca?"
Ein Nicken war alles, was Becca zustande brachte, als sie das Armband über ihr Handgelenk streifte. In ihrem Hals hatte sich ein Kloß geformt und es fiel ihr schwer, nicht ein weiteres Mal an diesem Tag in Tränen der Dankbarkeit auszubrechen. Sie hatte es Steve, Tony und den anderen Avengers nie verübelt, dass sie ihr nach den Geschehnissen im Bunker misstraut hatten, selbst dann nicht, als sie nach und nach zu sich selbst zurückgefunden hatte. Doch die Gewissheit, dass dieser berechtigte Argwohn sich nun endgültig in Akzeptanz gewandelt hatte, rief in ihr ein Gefühl hervor, dass ihr vollkommen neu war. Stolz. Sie war stolz, das Vertrauen dieser außergewöhnlichen Menschen gewonnen zu haben.
„Vermisst du Washington?"
Der überraschende Themenwechsel ließ Becca aus ihren Überlegungen schrecken. Washington. Pat, Anna, das „Red Passion", ihr altes Leben, das alles schien im Moment so weit weg zu sein. Und Wallenstein, Gott, er fehlte ihr so sehr. Wann würde sie aufhören, jeden Morgen auf dem Boden neben ihrem Bett nach ihrem schlafenden Hund Ausschau zu halten? Wann würde sie endlich begreifen, dass sie auch diesen Weggefährten für immer verloren hatte?
„Deine Freunde machen sich Sorgen um dich, Becca. Diese Anna scheint ziemlich hartnäckig zu sein, zumindest vergeht kaum ein Tag, an dem sie den guten alten Cap nicht anruft, um sich nach dir zu erkundigen."
„Sie wissen es nicht, Natasha. Sie haben keine Ahnung, wer ich wirklich bin."
„Glaubst du, dass sie dich weniger mögen, wenn sie erfahren, dass ihre Kollegin und Freundin ein Mensch mit besonderer Begabung ist?"
„Besondere Begabung! Als würden es hier ums Klavierspielen oder Malen gehen." Trotzig wandte Becca ihren Blick ab. „Ich habe sie jahrelang belogen, habe ihnen etwas vorgegaukelt. Bestimmt werden sie ohne weiteres über die Tatsache hinwegsehen, dass ihre angebliche Freundin in Wahrheit ein Psychofreak aus dem letzten Jahrhundert ist."
„Vielleicht überraschen dich diese Menschen ja", antwortete ihre Gesprächspartnerin gänzlich unbeeindruckt von Beccas beißendem Sarkasmus. „Vielleicht haben sie in den vergangenen Jahren mehr von der echten Rebecca gesehen, als du glaubst."
Die echte Rebecca? Sie wusste nicht mehr, wer das überhaupt sein sollte. Das junge Ding, das Angela Benfield aus einem Straßengraben gefischt hatte? Die kleine Kellnerin, die sich ein paar Dollar in einem Stripclub verdient hatte, um sich irgendwie über Wasser zu halten? Die Telepathin, die gemeinsam mit einem Fremden vor übermächtigen Feinden in einem abgelegenen Ferienhaus untergetaucht war? Die Frau, die noch vor wenigen Stunden Bucky Barnes geküsst hatte, eben jenen Mann, der ihretwegen so viel Leid und Schmerz hatte erdulden müssen? Wer war Rebecca Goldstein?
Ungebeten hallten mit einem Mal Nicolaj Seizews Worte in ihrem Innersten wider.
Ich sehe, was du wirklich bist, Red Star. Du bist die Weiterentwicklung der Menschheit, die nächste Stufe der Evolution. Du bist ein Wunder.
Energisch schüttelte Becca ihren Kopf, wollte die Stimme dieses verfluchten Psychopathen ein für alle Mal loswerden. Es beschämte sie, dass ihr damals die kranke Logik dieses Irren tatsächlich eingeleuchtet hatte, dass sie seinen Lügen geglaubt hatte. Sie war kein Wunder und Hydra war nicht ihre Familie, sie hatte mit diesen Schweinen nichts gemeinsam und sie empfand eine kalte Genugtuung, dass ihr Folterknecht nunmehr unter Tonnen von Erde und Gestein begraben lag. Er hatte Angela fast zu Tode gequält, wie sie einige Zeit nach ihrer Rettung erfahren musste. Er hatte Wallenstein auf dem Gewissen. Und wenn die Explosion im Bunker ihn auf wundersame Weise nicht erledigt haben sollte, würde sie selbst dafür sorgen, dass er nie wieder einem anderen Lebewesen etwas antun konnte, das hatte Becca sich geschworen, als sie die Erinnerungen an die zurückliegenden Tage allmählich eingeholt hatten.
„Was hast du zu verlieren, Becca? Warum willst du ihnen nicht einmal die Chance geben, dich wirklich kennenzulernen?" Natashas Hand berührte sachte ihre Schulter, riss Becca aus dem Netz ihrer düsteren Gedanken.
„Weil ich Angst habe, Natasha. Ich habe so verdammte Angst vor dem Ausdruck in ihren Augen, wenn sie begreifen, dass ich anders bin als sie."
„Wer sagt, dass Andersartigkeit etwas Schlechtes sein muss? Wer entscheidet darüber, was normal ist? Sieh dir doch mal die Avengers an. Ein Supersoldat aus dem Zweiten Weltkrieg, ein durchgeknallter Multimilliardär in einer High-Tech-Rüstung, ein verdammter Donnergott aus einer anderen Welt und zu guter Letzt ein Wissenschaftler mit einem ziemlich großen grünen Aggressionsproblem."
„Nicht zu vergessen die beiden Weltklasse-Agenten", ergänzte Becca mit einem kleinen Lächeln.
„Clint und ich sind wohl die mit Abstand langweiligsten Mitglieder dieses bunten Haufens, aber wir haben uns deshalb nie ausgegrenzt gefühlt. Jeder von uns hat einen anderen Weg hinter sich, bringt andere Fähigkeiten ins Team ein. Wir sind so unterschiedlich und dennoch sind wir zu einer Einheit zusammengewachsen. Wir sind nicht mehr bloße Kollegen oder Mitstreiter, wir sind Freunde, Familie. Glaub mir, vor einigen Jahren hätte ich mir etwas Derartiges niemals vorstellen können. Ohne Clint stünde ich nicht da, wo ich heute stehe."
„Er bedeutet dir viel, oder?"
Natashas Lächeln glich dem verschlagenen, zugleich frechen Gesichtsausdruck eines Fuchses, als sie sich langsam erhob, den Halsreif vom Couchtisch aufsammelte und das Metall zwischen ihren Fingern drehte. „Weißt du, Becca, ich denke, du brauchst deine Gabe gar nicht, um in die Köpfe und Herzen deiner Mitmenschen zu sehen. Und es waren auch ganz bestimmt nicht deine telepathischen Kräfte, mit denen du dir die Sympathie deiner Arbeitskollegen verdient hast oder Barnes' Eispanzer geknackt hast. Ich bin im Laufe meines Lebens schon vielen außergewöhnlichen Menschen begegnet. Manche von ihnen waren innerlich wie äußerlich hässlich, andere haben sich hinter hübschen Masken versteckt, hinter perfekten Fassaden. Allen war gemein, dass sie herzlose Kreaturen waren. Aber du, Rebecca, gehörst ganz sicher nicht zu dieser Spezies. Ja, du bist anders, manche würden sich vor deinen Fähigkeiten fürchten, aber du bist ein guter Mensch, Becca. Lass dir von niemandem das Gegenteil einreden!"
Nicht zum ersten Mal versetzte Natasha Romanoff sie in Erstaunen. Und es war typisch, dass die Frau das Überraschungsmoment nutzte, um sich nach dieser kleinen Ansprache mit einem charmanten Lächeln davonzustehlen, wohlwissend, dass sie einmal mehr das letzte Wort hatte und eine weitere Mission erfolgreich absolviert hatte.
Ja, vielleicht sollte sie endlich Anna anrufen oder Pat. Becca drückte sich schon lange genug vor einer Aussprache. Es war schrecklich egoistisch von ihr gewesen, die wenigen Menschen, denen sie wohl etwas zu bedeuten schien, die in ihr sogar eine Freundin sahen, so im Dunkeln tappen zu lassen. Die wohldosierten Worte der Russin hatten ihre Wirkung nicht verfehlt, fast schon ärgerte sich Becca über Natashas elegante Manipulation, doch sie konnte es der Agentin nicht verübeln, einmal mehr von ihrer wirkungsvollsten Waffe Gebrauch gemacht zu haben. Im Grunde hatte sie ihr nur das gesagt, was sie tief in ihrer Seele schon wusste.
„Danke für das Essen."
„Gerne." Natasha war schon auf halbem Weg in Richtung Tür und zwinkerte ihr ein letztes Mal über ihre Schulter zu.
„Gute Nacht, Natasha."
„Schlaf schön, Becca."
Zum ersten Mal seit Wochen fielen Rebecca rasch die Augen zu, als sie sich am späten Abend die Bettdecke bis unter ihre Nase zog und ihr Gesicht in das weiche Kissen vergrub. Und zum ersten Mal seit Tagen verfolgten sie keine Alpträume, als ihr Geist im Schlaf in die tieferen Ebenen ihres Unterbewusstseins hinüberglitt.
+++
Ein gellender Schrei ließ Becca mitten in der Nacht auffahren. Ihr Herz schlug bis in ihren Hals. In dem dunklen Zimmer war sie so orientierungslos, dass sie glaubte, womöglich von ihrer eigenen Stimme wachgerüttelt worden zu sein. Erst als erneut dieses grässliche Geräusch wie ein Stromschlag durch ihr Innerstes zuckte, begriff Becca, dass es der Schrei eines anderen Menschen war, dass sie im Schlaf unbewusst in den Geist eines Mitmenschen vorgedrungen sein musste und nun dessen Schmerz fast schon körperlich nachempfinden konnte. Ein heftiger Alptraum musste diesen Menschen quälen, doch sein Geist war zu weit entfernt, als dass sie den genauen Ursprung dieser Panik ausmachen konnte.
Und dann wurde ihr klar, dass es nicht irgendjemand war, der so herzzerreißend aufschrie. Es war Buckys Stimme, die sie aus dem Schlaf gerissen hatte, die sie in diesem Augenblick immer noch hören konnte, wenngleich sie nun kaum mehr denn ein leises Wimmern war. Ohne weiter nachzudenken, schwang Becca ihre Beine aus dem Bett und wankte anschließend durch ihr Apartment in Richtung Tür. Es musste weit nach Mitternacht sein und auf dem Gang war keine Menschenseele zu sehen.
Ein weiteres Mal dröhnte ein Schrei durch ihren Geist, traf Becca wie ein Schlag in die Magengrube. Mit einem Keuchen stützte sie sich mit beiden Händen gegen die metallische Aufzugtür, als sie auf den Lift wartete, der sie einige Ebenen nach oben befördern würde. Sie wusste, es war eine schlechte Idee, Bucky in diesem Zustand ungebeten aufzusuchen. Es war eine verdammt schlechte Idee. Aber Becca pfiff auf die Stimme der Vernunft, die ihr riet, sich von dem einstigen Winter Soldier unter allen Umständen fernzuhalten. Es war ihre Schuld, dass er Nacht um Nacht von seinen inneren Dämonen heimgesucht wurde, ganz egal, ob er selbst, Steve oder Natasha sie vom Gegenteil zu überzeugen versuchten. Becca fühlte sich für Buckys Schicksal zumindest teilweise mitverantwortlich. Die Vorstellung, dass er genau in diesem Augenblick unvorstellbares Leid erdulden musste, obwohl sie über die Macht verfügte, ihn zumindest kurzzeitig zu erlösen, war unerträglich.
Sie hatte dazu gelernt. Sie würde nicht mehr so unvorsichtig sein wie damals in der Benfield Lodge. Dieses Mal wusste Becca, womit sie es zu tun hatte. Dieses Mal wusste sie, was sie tun musste.
Sie hatte das Gefühl ihre Sinne wären zusätzlich geschärft, als der Aufzug sanft auf jener Etage abstoppte, auf der sich Buckys Apartment befand. Mit einem leisen Surren gilt die automatische Tür auf. Becca presste sich eine Hand auf ihren Mund, als ein weiterer Aufschrei gleich einer Welle über sie hereinbrach und sie einen Schritt zurücktaumeln ließ. Wahrscheinlich hielten die Empfindungen eines anderen Menschen sie so ungewohnt kraftvoll umklammert, weil ihre angeborenen Fähigkeiten wochenlang durch den AT-HR künstlich unterdrückt worden waren. Nun waren die Barrieren niedergerissen, all die Gefühle und Gedanken strömten wie bei einem Dammbruch auf sie ein und es kostete Becca ein großes Maß an Selbstbeherrschung, um unter der geballten Macht von Buckys Alptraum nicht selbst in die Knie zu gehen. Stattdessen verbannte sie seine Schmerzen aus ihrem Kopf, ließ ihren eigenen Geist durch den düsteren Raum schweifen.
Noch bevor sie ihn sehen konnte, spürte sie seine Anwesenheit. Bucky lag auf der Couch. Langsam tastete Becca sich auf ihn zu, blieb schließlich einige Meter vor ihrem Ziel stehen und beobachtete mit blutendem Herzen, wie sich der Mann, der sie noch vor wenigen Stunden in eine so zärtliche Umarmung geschlossen hatte, der sie geküsst hatte, wie es kein Mann zuvor getan hatte, unter entsetzlichen Qualen immer wieder ruckartig zusammenkrümmte. Unverständliches Murmeln kam ihm über die Lippen. Manches klang wie Russisch und ab und an meinte Becca das ein oder andere deutsche Wort aus dem zusammenhanglosen Gewirr herauszuhören. Die Schreie waren verstummt, doch immer noch wand Bucky sich wie unter der Last eines unsichtbaren Angreifers. Ihr kamen die Erzählungen über den so genannten Nachtmahr in den Sinn, jene Schauermärchen über ein bösartiges Wesen, das sich in der Nacht auf den Brustkorb seines schlafenden Opfers setzte und diesem so langsam und qualvoll das Leben ausquetschte.
Becca atmete einmal tief durch, bevor sie mit ihrem eigenen Geist nach Buckys träumenden Verstand griff.
Sie fiel. Schneeflocken stoben in alle Himmelsrichtungen, als sie mit den Knien auf einem harten, eisigen Untergrund aufschlug.
Becca hatte damit gerechnet, an denselben Ort wie damals zu reisen. Doch dieses Mal befand sich kein zugefrorener Fluss unter ihren Füßen, als sie sich hektisch aufrappelte und um die eigene Achse drehte. Auch ragten keine Felswände über ihr in den grauen Himmel. Stattdessen stand sie in einer Winterlandschaft, deren Idyll aus verschneiten Nadelbäumen und sanften Hügeln jedem weihnachtlichen Musikvideo von Wham! Konkurrenz machen konnte. Dieser Vergleich war derart absurd und in ihrer jetzigen Situation unangebracht, dass Becca sich zusammenreißen musste, um ihre Gedanken weiterhin fokussieren zu können. Derartige Unachtsamkeit war brandgefährlich und während sie über schneebedeckte Wurzeln und Baumstämme kletterte, schalt Becca sich im Stillen für so viel Sorglosigkeit im Angesicht größter Gefahr.
Mit ihren Augen scannte sie die Umgebung, suchte nach der einen Konstante, die sich wie ein roter Faden durch Buckys und ihre eigenen Traumlandschaften zog. Sie konnte einen Ruf hören, leise wie die ferne Brandung des Ozeans. Sie konnte eine Präsenz spüren, machtvoll, dröhnend, stetig.
Das schwarze Tor.
Irgendwo musste es sein und ihr blieb nicht viel Zeit, um es aufzuspüren. Plötzlich fuhr Becca herum. Im Augenwinkel meinte sie eine Bewegung erkennen zu können. Doch wahrscheinlich spielte ihr die Nervosität in Kombination mit dem Adrenalin, das durch ihre Adern pumpte, einen Streich, denn als sie die Bäume in ihrem Rücken eindringlich musterte, konnte sie nichts Auffälliges feststellen. Ihr Atem kam stoßweise, als sie weiter eilte. Die eisige Luft brannte schmerzhaft in ihrer Brust. Das ungute Gefühl in ihrem Innersten wurde langsam aber sicher zu einer Gewissheit, je länger sie durch den nicht enden wollenden Tunnel aus Tannen und Fichten rannte.
Sie wurde verfolgt. Etwas verfolgte sie. Jemand.
Gleich einem Schatten legte sich diese Bedrohung über die Winterwelt, deren weiße Schönheit von Beginn an trügerisch gewesen war. Dann aber öffneten sich die Baumreihen unvermittelt vor Becca, ließen Hoffnung in ihr aufkeimen. Wenige hundert Meter entfernt ragte das schwarze Tor wie ein unwirkliches Mahnmal in die Höhe.
Geschafft, sie hatte es fast geschafft!
Erleichterung beschwingte ihre Schritte. Als sie jedoch hinter sich das unverkennbare Knirschen von Schnee unter schweren Stiefeln vernahm, wandelte sich ihr flüchtiges Triumphgefühl in blankes Entsetzen.
Er war hier und er hatte sie gefunden!
Sie musste sich beeilen, musste so schnell es ihr möglich war das Tor erreichen. Nur dort war sie sicher, dort war das Portal, der Schlüssel, ihr Ausweg und Buckys Rettung. Ohne sich umzudrehen, hastete Becca weiter, ignorierte das Stechen in ihren Rippen, den beißenden Wind, der Schnee und Kälte mit sich führte und in ihr Gesicht peitschte. Immer näher kamen die Schritte, fast meinte sie, den Atem eines anderen Menschen hinter sich hören zu können.
So nah, so verflucht nah. Gerade einmal fünfzig Meter trennten Becca noch von den dunklen Torflügeln, hinter denen nun ein immer stärker anschwellendes Rufen zu vernehmen war. Ein letztes Mal mobilisierte sie ihre verbliebenen Kraftreserven, wollte in einem finalen Aufbäumen ihren Verfolger endlich abschütteln. Ihre Beinmuskulatur schrie unter der Belastung auf, ihre Atmung überschlug sich beinahe.
Sie musste es einfach schaffen, sie musste.
Dann prallte etwas schmerzhaft in ihren Rücken, riss sie mit sich zu Boden. Die eisige Kälte des Schnees beraubte Becca jedes weiteren Gedankens, der schmerzhafte Aufprall presste alle Luft aus ihrer Lunge. Einen Augenblick war alles um sie herum in Schwärze getaucht.
Es war ihr Überlebensinstinkt, der Becca aus ihrer Schockstarre katapultierte. Panisch versuchte sie sich unter dem schweren, unnachgiebigen Körper herauszuwinden, der sie unter sich begraben hatte. Blind vor Wut und Verzweiflung schlug und trat sie mit Händen und Füßen um sich, schaffte es mit ihrer heftigen Gegenwehr sich tatsächlich irgendwie von ihrem Angreifer zu befreien. Auf allen Vieren kroch sie durch den Schnee, der eine rutschige Oberfläche bildete und ihre Bewegungen verlangsamte. Weit kam sie nicht. Eine Hand vergrub sich in ihren Haaren, zerrte Becca brutal zurück. Tränen schossen in ihre Augen, verwischten ihre Sicht, als sie kreischend gegen den eisernen Griff ankämpfte, mit ihren Fingernägeln wie von Sinnen über die Faust ihres Peinigers kratzte.
„Ich habe mich schon gefragt, wann du wieder auftauchst."
Becca landete schmerzhaft auf dem Rücken und fand sich Auge in Auge mit dem Winter Soldier wieder. Sie wusste, dass es nicht Bucky war, dessen unnatürlich helle Augen sich wie Eiszapfen in ihren Geist bohrten, dessen Hände ihre Handgelenke wie Schraubzwingen umschlossen und in den Schnee neben ihren Kopf drückten. Mit letzter Kraft kämpfte sie gegen ihn an, bäumte sich unter ihrem Feind auf, doch ihre Bemühungen entlockten ihm nur ein gehässiges Lachen, das unter der schwarzen Maske, die seine untere Gesichtshälfte verdeckte, zu einem unmenschlichen Krächzen verzerrt wurde.
„Lass mich los!", zischte Becca ihm entgegen, versuchte in seinen Kopf vorzudringen.
Aber da war nichts, woran sie ihren Geist heften konnte, nichts außer Leere und dem Drang zu zerreißen, zu zerstören.
„Bucky, bitte, wenn du irgendwo da drin bist, dann hilf mir!"
Erneutes, mechanisches Gelächter war ihre einzige Antwort und die Gewissheit, dass es keine Hilfe für sie geben würde, wenn sie sich nicht selbst rettete.
Ihre Arme wurden über ihren Kopf gerissen. Einhändig hielt er ihre Handgelenke mühelos fest, selbst als Becca ein weiteres Mal unter seinem Gewicht zappelte wie ein Fisch an einer Angelschnur. Unterlegen, ausgeliefert und dennoch beseelt von einem Kampfgeist, wie ihn nur Lebewesen besaßen, die echte Todesangst verspürten, weigerte sich Becca aufzugeben.
„Es ist ein Traum, nur ein Traum. Ich kann jederzeit erwachen, wenn ich das will", redete sie sich ein, während ihr tränenverhangener Blick an ihrem Feind vorbeiglitt, die Umgebung nach einer Möglichkeit absuchte, irgendeinem rettenden Anker, der sie aus ihrer derzeitigen Lage befreien konnte, der ihr genug Zeit verschaffen würde, um irgendwie das Portal zu erreichen. Dieses Mal würde sie nicht wie ein verängstigtes Tier die Flucht ergreifen, das hatte sie sich geschworen.
„Er kann dich nicht hören, nicht hier. Niemand kann das."
Er rammte sein Knie zwischen Beccas Beine. Gleichzeitig versenkten sich die Finger seiner Metallhand wie die Zähne eines Raubtieres in ihr Kinn, zwangen sie so in seine kalten leblosen Augen zu sehen. Becca war von ihrer eigenen Panik gelähmt. Seine gezischten, heißeren Worte, die an ihr Ohr drangen, ließen binnen eines Herzschlages das Blut in ihren Adern gefrieren und sie lag wie erstarrt auf dem Untergrund, unfähig sich in diesem Augenblick gegen diesen Teufel zur Wehr zu setzen.
„Du willst doch nicht schon wieder verschwinden, oder? Jetzt, da wir uns näher kennenlernen."
Ein Schrei formte sich in Beccas Kehle, aber kein Laut kam über ihre Lippen, als sie das Monster anstarrte, hinter dessen Maske sich das Gesicht von Bucky verbarg, von Bucky, in den sie sich verliebt hatte, Bucky, dem sie hatte helfen wollen, Bucky, den sie in ihrer grenzenlosen Selbstüberschätzung ein weiteres Mal enttäuschen und im Stich lassen würde, so wie sie alle, die ihr je etwas bedeutet hatten, im Stich gelassen hatte.
„Nein", durchfuhr es sie. „Nicht dieses Mal, dieses Mal würde sie kämpfen."
Becca versuchte alles um sich herum auszublenden, versenkte ihren Geist in sich selbst, wie sie es früher immer getan hatte, wenn sie ihre Kräfte durch Meditation kontrollieren wollte. Und da war es ihr auf einmal, als würde sie schweben, als würde sie nicht mehr wiegen als eine Feder, die ein Windstoß mit sich in die Höhe trug. Sie konnte sich selbst sehen, sah ihr bleiches Gesicht, wie sie unter dem Soldier im Schnee lag, die Augen in blankem Entsetzen weit aufgerissen.
Sie wandte ihren Blick von der Bestie und ihrem Opfer ab, bewegte sich auf das schwarze Tor zu. Sie musste die riesigen Torflügel nicht berühren, um all das zu spüren, was dahinter machtvoll gegen die undurchdringliche Barriere drängte, sie benötigte keinen Schlüssel, um das Portal aufzuschließen, um jene Hilfe zu rufen, die sie so dringend benötigte. Das Tor war ihr nicht mehr fremd, es war ein Teil von ihr, eine jene geistigen Mauern, die sie selbst in Zolas Gefangenschaft zu errichten gelernt hatte, ein Instrument, um den freien Willen eines anderen Menschen zu knechten. Der Soldier war der Torwächter, nicht mehr als ein Trugbild, das man in Buckys Bewusstsein gepflanzt hatte, ein bösartiges Geschwür. Die Chimäre hatte ihrer monströsen Namensgeberin alle Ehre gemacht und ein weiteres Ungeheuer hervorgebracht.
Aber dann war er plötzlich da.
Sie konnte seine Gegenwart spüren. Er war wie ein Sonnenstrahl in einer düsteren Welt und er war erwacht, weil sie ihn gerufen hatte, weil er schon immer dagewesen war, tief verborgen unter ewigem Eis und unendlichem Schnee. Der Bann war gebrochen, zumindest für diesen kurzen Augenblick, und als ihr Geist ein weiteres Mal in ihren Körper zurückgeworfen wurde, als der Alptraum sie erneut mit voller Wucht erfasste und der Soldier sie unbarmherzig in den Schnee drückte, wusste Becca, dass sie in diesem Kampf nicht länger alleine war.
Ihr Angreifer realisierte gar nicht, was über ihn kam, als er an den Schultern gepackt und mit einem Wutschrei ein paar Meter von Rebecca entfernt in den Schnee geschleudert wurde.
Sie war nicht mehr allein, denn sie hatte ihn gefunden und er war ihrem Ruf gefolgt.
Irgendwie hatte Becca es geschafft, gerade diese Erinnerung aus der Schwärze des Portals heraufzubeschwören, ausgerechnet jenen Mitstreiter aus Buckys altem Leben in diesem Alptraum auftauchen zu lassen. Im Prinzip wusste sie nicht einmal selbst, wie genau sie das angestellt hatte, aber als Becca mit einem Seufzer die Augen schloss und ihren Geist behutsam aus Buckys Verstand löste, umspielte ein Lächeln ihre Mundwinkel.
Der Winter Soldier würde fortan nicht mehr unangefochten Buckys Unterbewusstsein beherrschen. Er hatte einen neuen Gegner. Sie hatte einen Teil von Buckys altem Selbst zu neuem Leben erweckt.
Sie hatte ihm die Erinnerungen an Steve Rogers zurückgegeben.
Becca öffnete ihre Augen, japste wie eine Ertrinkende nach Luft, so als hätte sie im letzten Moment die rettende Wasseroberfläche durchbrochen. Sie war wieder im Tower, in Buckys Apartment und Dunkelheit umfing sie.
Ihr Gehirn benötigte ein paar Sekunden, um zu registrieren, dass etwas nicht stimmte. Sie lag noch immer auf dem Boden, alles drehte sich um sie. Panisch begann sie zu zappeln, denn sie glaubte in ihrer Benommenheit, es wäre der Soldier, dessen brutaler Griff sie noch immer gefangen hielt, dessen Körper sich erbarmungslos gegen den ihren drängte. Als aber ein Beben durch den Mann über ihr ging, begleitet von einem gequälten Stöhnen und einer Hand, die zittrig über ihre erhitzte Wange strich, wusste sie, dass sie sich getäuscht hatte.
„Becca, was hast du getan?"
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