Kapitel 57: Klärungsbedarf

„Ihr seid verdammte Bestien!"

Wilson verzog gequält das Gesicht, bevor er einen weiteren Schluck aus seiner Wasserflasche nahm.

„Ehrlich, Leute, das war das erste und letzte Mal, dass ich mit euch zusammen trainiere. Ich spür jetzt schon, wie meine Muskeln übersäuern."

Ein entschuldigendes Lächeln war Steves einzige Antwort auf das anhaltende Jammern seines Freundes. Dabei fuhr er sich durch das helle Haar, das nach beinahe zwei Stunden intensivem Krafttraining strähnig an seinen Schläfen klebte, eine Geste, die Bucky mittlerweile vertraut war.
Der Winter Soldier war ein exzellenter Beobachter gewesen und wahrscheinlich war es eben diese jahrzehntelange Angewohnheit, sein Umfeld in jedem wachen Moment genaustens zu analysieren, die Bucky auch nach seiner Zeit bei Hydra nicht ablegen konnte. Selbst wenn es ihm häufig schwerfiel zu erraten, was genau in den Köpfen seiner Mitmenschen vor sich ging, ihre Körpersprache war für ihn umso leichter zu deuten. Und Bucky konnte sich nicht entsinnen, dass ihm schon einmal jemand begegnet war, dessen Seelenleben so sehr einem offenen Buch glich wie es bei Steve Rogers der Fall war. So verriet die große Hand, die in diesem Augenblick ein weiteres Mal rastlos durch den sonst so akkurat sitzenden blonden Haarschopf geisterte, dass sein Gegenüber ganz offensichtlich ein schlechtes Gewissen plagte.
Dabei gab es gar keinen Grund für irgendwelche Schuldgefühle - zumindest nicht aus Buckys Sicht. Immerhin war Sam Wilson ein erwachsener Mann, noch dazu ein ehemaliger Soldat, und konnte wohl sehr gut einschätzen, was für seinen Körper zumutbar war. Trotzdem war es keine halbe Stunde her, da hatte Wilson noch keuchend und zappelnd auf einer Trainingsbank gelegen und wäre beinahe unter dem Gewicht einer Langhantel zerquetscht worden, nur weil er sich allem Anschein nach einen ziemlich kruden Konkurrenzkampf mit Steve leistete.
Seit dem Tag, als Steve den Ex-Soldaten auf seiner täglichen Joggingstrecke in Washington mehrfach überrundet hatte, gab es dieses sportliche Kräftemessen, zumindest war es Sams lapidare Erklärung für das gewesen, was sich noch bis vor wenigen Augenblicken in dem weitläufigen Trainingsraum im unteren Bereich des Avengers Towers abgespielt hatte.
Egal welche Übung Steve absolviert hatte, Wilson war ihm stets dicht auf den Fersen gewesen. Auch beim Bankdrücken war er dementsprechend erpicht darauf, ein ähnliches Gewicht wie Captain America zu stemmen. Am Ende hatte Steve ihn mit Buckys Hilfe aus seiner misslichen Lage befreien müssen, bevor nicht nur Wilsons sportlicher Ehrgeiz unter beinahe 400 Kilogramm begraben wurde.
Seine Niederlage lachte Sam gutgelaunt weg, beklagte sich scherzhaft über unfaire Wettbewerbsbedingungen und gedopte Supersoldaten, was schließlich in einer längeren Diskussion über die Olympischen Spiele und diverse Weltrekorde der vergangenen Jahrzehnte gipfelte, von der Bucky jedoch nur die Hälfte mitbekam.

Schon beim Training war er mit seinen Gedanken meist an einem anderen Ort gewesen. Mehrmals hatten ihn Steve oder Sam dabei erwischt, wie er mit Kurzhanteln bewaffnet vor der großen verspiegelten Wand gestanden hatte, um regungslos Löcher in die Luft zu starren.
Und ein weiteres Mal rückten die Stimmen der Beiden an den Rand seiner Wahrnehmung, verschwammen irgendwann zu einem undefinierbaren Hintergrundgeräusch.

In seinen Gedanken war Bucky immer noch im Central Park. Er konnte den gedämpften Lärm der Großstadt hören, den das Zwitschern der Vögel und Rauschen der Baumkronen wie eine unwirkliche Melodie überlagerte. Er konnte den kühlen Luftzug in seinem Gesicht spüren, den der Wind von der naheliegenden Wasseroberfläche des großen Sees zu ihnen ans Ufer herübertrug.
In seinen Gedanken hielt er Becca immer noch seinen Armen. Ihr Herz schlug wie wild an seiner Brust und die Wärme ihres Körpers kroch nach und nach in seine eigenen Glieder, als seine metallische Hand ihre Wirbelsäule entlangwanderte, um sie an sich zu drücken.

In seinen Gedanken fuhr sein Mund immer noch über ihre Lippen, die so weich waren, so unvorstellbar weich, dass er nie mehr aufhören wollte, sie zu küssen. Er hörte den erstaunten Laut, der sich auf einmal in ihrer Kehle formte, so als würde ihr in diesem Moment etwas bewusst, was sie zuvor nicht verstanden hatte.

Er kannte dieses Gefühl, konnte es nur zu gut nachvollziehen.

Und dann fand er sich mit ihr vor der Tür ihres Apartments wieder, hin und her gerissen, zwischen dem Impuls, sie ein weiteres Mal an sich zu ziehen, um ihren warmen Kuss zu schmecken, und der Angst, die sich zeitgleich in ihm ausbreitete. Die Angst, sich in ihrer Gegenwart nicht mehr unter Kontrolle zu haben, die Angst vor dem Weg, den er einschlagen würde, sobald er den letzten Funken Selbstbeherrschung verlor, die Angst, vor sich selbst und der fremdartigen Gefühlsregung, die seit Neuestem alle seine Sinne zu beherrschen schien.

„Hey, Buck, alles in Ordnung?"

In Steves Stimme schwang Besorgnis mit. Zwei Paar Augen ruhten auf ihm. Stumm nickte er, blickte dann an seiner kybernetischen Prothese herab. Die Plastikflasche in seiner Metallhand ächzte verräterisch unter dem anhaltenden schraubstockartigen Druck, den seine zu Krallen verbogenen Finger unbewusst auf den schlanken Hals ausübten. Ruckartig öffnete Bucky seine Faust. Mit einem Knall landete die Flasche auf dem Boden. Sein leerer Blick folgte ihr, während sie durch den Raum kullerte, bis ihre Reise schließlich von der wenige Meter entfernten Beinpressmaschine beendet wurde.

„Okay, das war gruselig."

„Sam!", zischte Steve, schien dann aber selbst um Worte verlegen zu sein, während er Bucky beäugte, der einmal kurz seinen Kopf schüttelte, um endlich wieder im Hier und Jetzt anzukommen.

„Hör zu, Buck, es gibt da etwas, worüber ich mit dir reden wollte."

Der Blonde verstummte, als er von eisigen Augen fixiert wurde. Irgendetwas an der Art, wie Steve ihn gerade ansah, gefiel Bucky nicht im Geringsten.

„Das ist der Moment, in dem ich mich in Richtung Dusche verabschiede", ließ Wilson auf einmal verlauten. „Ich muss morgen früh raus, wenn ich den Zug nach Washington erwischen will und irgendwo muss ich jetzt noch Magnesiumtabletten auftreiben, damit ich heute Nacht nicht an einem Wadenkrampf zugrunde gehe. Also, man sieht sich."

Wenige Atemzüge später fiel die Tür mit einem dumpfen Geräusch ins Schloss. Die nachfolgende Stille erfüllte den Raum.

„Du hast dich mit Rebecca ausgesprochen, oder?"

Wieder nur ein Nicken, mehr brachte Bucky nicht zustande. Steve ließ sich von seiner abweisenden Haltung nicht beeindrucken, sprach weiter, während ein Lächeln seine Mundwinkel zum Zucken brachte.

„Das freut mich, Buck. Ehrlich."

Er spürte Steves Hand auf seiner Schulter, widerstand jedoch dem Impuls sich aus dieser nach wie vor ungewohnten Berührung zu winden.

„Ich bin froh, dass du zu ihr gegangen bist, dass ihr miteinander geredet habt."

„Wenn ich geahnt hätte, dass Becca sich solche Vorwürfe macht, dass sie denkt, das alles wäre ihre Schuld, dann wäre ich früher -"

Buckys Stimme war ein bloßes Flüstern, verlor sich schließlich vollends, doch sein Gegenüber klopfte ihm mit einem versöhnlichen Lächeln einmal kurz auf die Schulter, bevor er zurückwich, um einen Schluck aus der Wasserflasche zu nehmen, die er in seiner Linken hielt.

„Ich habe mit Tony über Beccas Fähigkeiten gesprochen", hob Steve nach einer erneuten kürzeren Pause an.

„Was will Stark denn noch? Sie trägt sein verdammtes Hundehalsband doch schon Tag und Nacht."

Bucky gab sich nicht einmal Mühe, seinen Ärger zu verbergen, als er Steve anstarrte und seine Kiefer fast schon schmerzhaft aufeinander mahlten. Ihm war bewusst, dass Rebecca und er selbst den Avengers viel zu verdanken hatten, dass sie Tony Stark viel zu verdanken hatten, doch gab dieser Umstand dem Mann auch das Recht, über die Telepathin zu verfügen, wie es ihm beliebte, jeden ihrer Schritte zu kontrollieren, so als sei sie eine Schwerverbrecherin?

„Es geht nicht darum, was Tony will oder was ich will." Steve plusterte seine ohnehin schon breite Brust auf, etwas, was er immer tat, wenn er sich für eine unerfreuliche Situation wappnete. Auch diese Haltung war Bucky mittlerweile vertraut, ebenso wie die leicht verkniffene Miene, die sich kurz vor einer unangenehmen Diskussion über die sonst so ebenmäßigen Züge legte. „Es geht um dich, Buck. Es geht darum, dass Becca dir mit ihren Kräften vielleicht helfen könnte. Ich bin mir sicher, dass sie gerne versuchen würde, dein Gedächtnis - "

„Auf gar keinen Fall."

Steve zuckte unter seiner unerwartet schnellen und harschen Antwort leicht zusammen, holte bereits auf ein Neues Luft, um sicherlich sehr überzeugende Argumente anzubringen, warum es aus Tonys und seiner Sicht eine ausgezeichnete Idee war, dass Becca sich mithilfe ihrer telepathischen Fähigkeiten um die Wiederherstellung von Buckys zerbrochenem Selbst bemühen sollte.
Natürlich hatte er in den vergangenen Tagen nicht nur einmal an diese Möglichkeit gedacht. Doch genauso schnell hatte er den Gedanken wieder verworfen, weil er sich nur zu gut daran erinnern konnte, was beim letzten Mal passiert war, als die Telepathin während eines Alptraumes in seinen schlafenden Verstand eingedrungen war.

„Becca wird nicht in meinem Kopf herumwühlen."

„Findest du nicht, dass sie hier auch ein Wort mitzureden hat, Buck?"

In Steves Augen spiegelte sich Hoffnung aber auch Trotz, als er sich vor Bucky aufbaute, ganz offensichtlich bereit den aufkeimenden Streit bis zum bitteren Ende durchzustehen.

„Nein. Becca schuldet mir nichts. Sie schuldet niemandem etwas."

„Dann hat sie deiner Meinung nach also nicht die Chance verdient, ihre Gabe zum vielleicht ersten Mal überhaupt in ihrem Leben für etwas Gutes einzusetzen?"

„Wenn du wüsstest, was beim letzten Mal passiert ist, als sie in meinem kaputten Hirn unterwegs war, dann würdest du anders reden, Steve!"

Buckys Brust hob und senkte sich in heftigen Stößen, während er die Worte herauspresste und sich die Szene in der nächtlichen Benfield Lodge ein weiteres Mal in seinem Innersten entfaltete.

„Weil du Becca aus dem Schlaf heraus angegriffen hast? Ja, das hat sie mir erzählt. Aber weißt du was? Im gleichen Atemzug hat sie mir auch gesagt, dass sie es jederzeit wieder tun würde."

Kurzzeitig verschlug es ihm die Sprache. Wütend fixierte er den Mann vor sich. Bucky wusste gar nicht, was in diesem Moment mehr sein Blut zum Kochen brachte. Die Vorstellung, dass Rebecca sich seinem einstigen Freund mit derart beschämenden und gleichsam intimen Details ihrer gemeinsamen Zeit anvertraut hatte, oder die Gewissheit, dass Steve trotzdem ganz selbstverständlich davon ausging, dass sie dazu bereit war, sich erneut in die irren Windungen seines verschrobenen Hirns vorzuwagen.

„Hat sie dir auch gesagt, dass ich sie beinahe erdrosselt hätte, dass ich sie kaltblütig ermordet hätte, wenn ihr Hund mich nicht im letzten Moment davon abgehalten hätte?"

Steves hörbares Schlucken sagte Bucky alles, was er wissen musste. Mit einem letzten aufgebrachten Schnaufen wandte er dem plötzlich Verstummten den Rücken zu und steuerte Richtung Ausgang.

„Das war's? Enden unsere Gespräche jetzt künftig alle damit, dass du wütend davonrauschst, wenn dir ein Thema nicht passt?"

„Verdammt, Steve, was willst du eigentlich?"

Langsam drehte Bucky sich zu dem Blonden um. Während er sprach, wurde seine Stimme immer lauter.

„Glaubst du wirklich, alles kann noch einmal so sein wie früher? Glaubst du, ich kann noch einmal so sein wie früher?"

Steve machte einen Schritt auf ihn zu.

„Ich weiß, dass es nie wieder so sein kann wie früher, Buck. Wir können die Uhr nicht zurückdrehen. Du, Becca und ich, wir sind aus unserer Zeit gefallen, wir haben Dinge gesehen und durchgemacht, die für zehn Leben reichen würden. Wir sind nicht mehr die gleichen Menschen wie damals."

Steves vormals energischer Ton wurde mit einem Mal sanfter, so wie auch die verhärteten Züge in seinem Gesicht einem weicheren Mienenspiel wichen. Immer weiter bewegte er sich auf Bucky zu, bis er schließlich direkt vor ihm zum Stehen kam.

„Aber weißt du was, Buck? Es ist mir egal, es ist mir verdammt nochmal egal, seit ich weiß, dass du am Leben bist, dass du damals bei deinem Sturz in den Alpen nicht gestorben bist, seit ich weiß, dass mein bester Freund irgendwie die letzten 70 Jahre überlebt hat."

„Steve, ich bin - ich bin nicht mehr der Mann, den du gekannt hast, der Mann, mit dem du gemeinsam im Krieg gekämpft hast. Selbst wenn Becca es schaffen sollte, meine Erinnerungen wiederherzustellen, werde ich nie wieder James Buchanan Barnes sein und das wissen wir beide."

„Ja", gab Steve beinahe kleinlaut zurück, doch dann straffte er seine Schultern und sah ihm mit einer Entschlossenheit in die Augen, die Bucky vollkommen unvorbereitet traf. „Du hast recht. Du bist nicht wie der Bucky von damals, aber du irrst dich, wenn du glaubst, dass du der Einzige bist, der sich im Laufe der Zeit verändert hat."

Sein kaltes Lachen brachte Steve zum Schweigen.

„Ach ja? Wie viele Menschenleben hat denn Captain America auf dem Gewissen? Wie viele Unschuldige hast du in den letzten 70 Jahren umgebracht, Steve? Meine Erinnerungen sind unvollständig, ja, aber mittlerweile kann ich mich an viele Dinge erinnern, so viele Dinge, die ich lieber wieder vergessen würde. Becca muss sich nicht in meinen Kopf einklinken, damit ich weiß, was für ein Monster Hydra aus mir gemacht hat. Das erfahre ich jede Nacht aufs Neue, wenn ich aus einem meiner Alpträume aufschrecke."

„Du hast Angst, Bucky, das ist völlig verständlich und nichts wofür du dich schämen musst. Was Hydra dir angetan hat, das ist - das ist -"

Steve rang um Worte. Seine Augen wanderten ziellos durch den Trainingsraum.

„Ja, ich bin ein Feigling, Steve. Ist es das, was du hören willst? Ein gottverdammter Feigling, sonst hätte ich mir in dem Moment eine Kugel in den Kopf gejagt, als ich realisiert habe, was für ein Ungeheuer darin haust und nur darauf wartet, ein weiteres Mal entfesselt zu werden. Ich bin ein Feigling, weil ich davongelaufen bin, weil ich mich versteckt habe und weil ich nicht will, dass Becca noch einmal diesem widerlichen Monster gegenübertritt, das sie fast umgebracht hätte. Sie soll mich nicht noch einmal so sehen, Steve, verstehst du das? Sie soll nie wieder den Winter Soldier in mir sehen."

Dieses Mal war es an Steve stumm zu nicken. Mit einem gequälten Seufzer kehrte Bucky ihm erneut den Rücken, um den Raum und seinen einstmals besten Freund zu verlassen.

„Falls du zu Rebecca willst, sie hat gerade Besuch von Natasha."

Bucky hielt in seiner Bewegung inne. Sein scharfer Blick taxierte Steve über seine Schulter hinweg.

„Dann hast du also Romanoff vorgeschickt, um Becca weiterzubearbeiten?"

„Niemand will Rebecca bearbeiten oder zu sonst irgendetwas nötigen." Steve seufzte ebenfalls hörbar. „Ob du's glaubst oder nicht, Natasha kann sehr einfühlsam sein, wenn sie will, und Becca scheint sie zu mögen."

Ein unterdrücktes Knurren war Buckys einzige Antwort, bevor er die Türklinke vor sich ergriff und dann eilig den Trainingsraum und Steve Rogers mit seinen großen traurigen Augen hinter sich ließ, deren Anblick er keine Sekunde länger ertragen konnte. Mit großen Schritten bewegte er sich auf den Aufzug am Ende des langen hell erleuchteten Ganges zu, der ihn zurück zu seinem Apartment und zu einer längst überfälligen Dusche befördern würde. Vielleicht konnte er unter dem kalten Wasser endlich wieder einen klaren Gedanken fassen.
Als sich die automatische Tür öffnete, war Bucky erstaunt, dass sich bereits ein weiterer Passagier an Bord befand. Scheinbar war Steve unzureichend informiert, denn es war Natasha Romanoff, die mit verschränkten Armen und einer hochgezogenen Augenbraue im Inneren des Aufzuges stand, als hätte sie ihn dort erwartet.

„Romanoff."

„Barnes", echote die Rothaarige in einem ähnlich unterkühlten Tonfall, als Bucky die entsprechende Taste für das Stockwerk betätigte, in dem sein Apartment gelegen war.
Wenig später setzte sich der Lift in Bewegung und die beiden Insassen standen schweigend auf engstem Raum nebeneinander.

„Wie war das Training?", erklang irgendwann zwischen Ebene sechs und sieben Romanoffs Stimme, die eine Aura von abgeklärtem Smalltalk umgab.

„Aufschlussreich", brachte Bucky zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.

„Dann hat Steve also mit dir über Rebecca gesprochen."

Eine Feststellung, keine Frage, aber binnen eines Herzschlages ließ dieser einzelne Satz Buckys Puls zum wiederholten Male innerhalb weniger Minuten in ungeahnte Höhen schnellen.

„Was erwartet ihr eigentlich alle von Becca? Dass sie einen kurzen Abstecher in meinen kaputten Kopf macht und ich danach wieder ganz der Alte bin?"

Wieder reckte die Russin eine geschwungene Augenbraue nach oben. Dabei bedachte sie ihn mit einem Seitenblick, der zwischen amüsiert und genervt pendelte, um dann schließlich in einem wissenden Lächeln zu gipfeln.

„Keine Ahnung, was da gerade zwischen dir und Steve abgelaufen ist, Barnes, aber ich für meinen Teil habe vorhin mit Rebecca ein nettes Gespräch unter Frauen geführt, etwas, was wir nicht zum ersten Mal getan haben und wofür sie ganz sicher nicht deine Erlaubnis braucht."

Mit einem Pling-Geräusch kam der Aufzug auf Ebene 15 zum Stehen und Romanoff wollte sich in Bewegung setzen, als sich die Tür mit einem leisen Surren öffnete. Buckys metallischer Arm schoss blitzschnell nach vorne und blockierte den Durchgang. Ein gefährliches Funkeln schlich sich in die Katzenaugen der Agentin, als sie ihre Arme in die Hüften stemmte und ihren Kopf leicht schief legte.

„Wir haben uns früher schon einmal getroffen. Odessa, nicht wahr? Ich hab auf dich geschossen."

Für einen Herzschlag zeichnete sich echtes Erstaunen auf dem Gesicht der Frau ab, dann verzogen sich ein weiteres Mal ihre Lippen zu einem Schmunzeln.

„Clint hat also geplaudert."

Buckys kybernetischer Arm sank an seine Seite zurück, als er ihr in mechanischem Tonfall antwortete.

„Barton hat mir davon erzählt, ja. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Woran ich mich aber erinnern kann, ist eine lange Autofahrt und an ein Mädchen mit roten Haaren und grünen Augen, ein Mädchen namens Natalia."

Die entspannte Miene war bei seinen letzten Worten aus Romanoffs Gesicht gewichen. Zum ersten Mal seit er der Frau begegnet war, schien sie regelrecht perplex zu sein und nicht zu wissen, was sie tun oder sagen sollte.

„Das warst du, oder?", bohrte Bucky erbarmungslos weiter. „Wir sind uns schon einmal begegnet, lange vor Odessa."

Ihr Nicken war Antwort genug. Die Erinnerung hatte Bucky erst kürzlich eingeholt, als er Romanoff und Barton gemeinsam auf dem Partydeck des Towers gesehen hatte. Plötzlich waren da all diese unbekannten Bilder vor seinem inneren Auge aufgetaucht und er hatte sich selbst am Steuer eines Wagens sitzen gesehen, wie er im Rückspiegel immer wieder ein junges Mädchen mit feuerrotem Haar gemustert hatte, deren grüne Augen seinen Blick ohne den leisesten Anflug von Furcht erwidert hatten.

„Du erinnerst dich."

Bucky zuckte mit den Schultern und machte einen Schritt zurück ins Innere des Aufzuges.

„Unvollständige Szenen, kleine Puzzelteile. Ich weiß nicht einmal, wann das gewesen sein soll."

„Aber du erinnerst dich, James."

Sie hatte ihn noch nie beim Vornamen genannt. Sein eigener Name klang seltsam aus ihrem Mund, irgendwie falsch. Es war auch das erste Mal, dass Natasha Romanoff ihn mit einem Blick bedachte, der weder von Argwohn noch von Abneigung geprägt war.

„Die Erinnerungen kommen wieder. Langsam und bruchstückhaft, aber sie kommen wieder."

Neben sich hörte er die Rothaarige einmal laut ausatmen. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sie ihr Kinn ein Wenig in die Höhe reckte, bevor sie aus dem Auszug heraustrat. Ein weiteres Mal trafen ihre Augen aufeinander, als sie sich nach mehreren Schritten zu ihm umwandte.

„Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schmerzhaft der Blick in die Vergangenheit sein kann. Wir können Vergangenes nicht ändern, wir können unsere Fehler nicht ungeschehen machen, unsere Hände nie vollständig reinwaschen von all dem Blut, das wir vergossen haben. Aber wir können daran wachsen, wir können dadurch stärker werden."

Sie machte eine kurze Pause. Erneut stahl sich ein Lächeln auf ihre vollen Lippen und ein eigentümlicher Glanz lag in ihren Augen, als sie seinen eisigen Blick mühelos erwiderte.

So wie damals, schoss es unweigerlich durch seinen Kopf.

„Lass dir helfen, James, lass dir von Rebecca helfen. Sie ist stärker als diese Maschine, stärker als die Programmierung, und du weißt selbst, dass du nur mit ihrer Hilfe den Soldier ein für alle Mal besiegen kannst. Und wenn du es nicht für dich selbst tun willst, dann tu es für Steve. Er hat es verdammt nochmal verdient, dass du um seinen einstigen Freund kämpfst."

Mit einem Pling schloss sich die Tür und der Aufzug setzte seinen Weg in die obere Sektion des Gebäudes fort. Bucky blieb mit seinen Gedanken allein zurück.

Romanoff hatte recht. Steve hatte recht. Irgendwann musste er sich dem Monster stellen, das sich all die Jahre gleich einem Parasiten tief in seinem Unterbewusstsein eingenistet hatte und nur darauf lauerte, im passenden Moment auf ein Neues hervorzubrechen, um die Kontrolle über all sein Tun und Denken zu übernehmen.
Er musste sich dem Soldier stellen, musste sich seinen Erinnerungen stellen. Doch das war sein Kampf, sein Kampf allein, und er weigerte sich, Becca ein weiteres Mal in Gefahr zu bringen, jetzt, da er sie endlich wieder wohlbehalten in seiner Nähe wusste, jetzt, da er an kaum etwas Anderes denken konnte als ihren ersten zaghaften Kuss im Central Park.

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