Kapitel 53: Ein Spaziergang

Auf der vorgelagerten Plattform des Towers fand er Rebecca. Sie saß auf einer der Stufen, die vom Partydeck auf das Halbrund im Außenbereich führten. Seine Anwesenheit nahm sie mit einem knappen Nicken zur Kenntnis und ihre Blicke trafen sich für einen Moment, der viel zu schnell verfolg. Dann wandte sie sich wieder von ihm ab, um ihre ganze Aufmerksamkeit erneut dem Häusermeer von Manhattan zu widmen, das sich zu Füßen des Avengers Towers bis an den dunstigen Horizont erstreckte.
Bereits am Vortag hatten die dichten Regenwolken sich aufgelöst und so zeigte sich der Herbst an diesem Nachmittag von seiner milden Seite. Nur vereinzelt zogen ein paar Wolken gleich durchscheinenden faserigen Schleiern über den blauen Himmel, wo die Sonne vom höchsten Punkt ihre wärmenden Strahlen gen Erde entsandte, wenngleich ihre Kraft im Laufe des Spätsommers längst nachgelassen hatte.

Unschlüssig, was er als nächstes tun oder sagen sollte, lehnte Bucky sich gegen das Geländer aus Glas und musterte die Frau von der Seite. Eine leichte Brise fuhr durch Beccas Haar, das in langen Wellen über ihren Rücken fiel, blies einzelne Strähnen in ihr Gesicht, die sie wieder und wieder energisch hinter ihre Ohren strich. Offenbar hatte man ihr neue Kleidung besorgt, denn statt der vertrauten grauen Stoffhose und dem weißen Pullover trug sie nun eine hellblaue Jeans, einen grünen Pullover und weiße Turnschuhe.
Es war eigenartig hier oben neben ihr im Sonnenschein zu stehen. In der vergangenen Woche hatte er Becca kaum zu Gesicht bekommen und in den letzten beiden Tagen war sie schließlich wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Nicht ein einziges Wort hatte er innerhalb von 48 Stunden mit ihr gewechselt.
Und nun war Bucky überrascht, dass die Telepathin einen wesentlich besseren Eindruck machte als noch vor Kurzem. Die dunklen Ringe unter ihren Augen waren fast vollständig verschwunden. Auch ihre Gesichtsfarbe hatte zu seiner großen Erleichterung die ungesunde, beinahe schon geisterhafte Blässe verloren. Der Aufenthalt im Tower schien ihr gut zu tun. Zumindest rein äußerlich wirkte es so, als hätte sie sich von den Strapazen der jüngsten Zeit erholt.

„Wie hast du mich gefunden?"

Beccas Stimme klang abwesend. Ihre Augen starrten nach wie vor auf die betriebsame Welt, die sich unterhalb des Hochhauses vor ihnen ausbreitete.

„JARVIS."

Eine glatte Lüge, war es doch in Wirklichkeit Steve gewesen, der noch vor wenigen Augenblicken in seinem Apartment aufgeschlagen war, um ihn fast schon mit Waffengewalt zu nötigen, sie hier aufzusuchen. „Es reicht, Buck", hatte er ihm in ungewohnt harschem Tonfall ins Gewissen geredet. „Du gehst jetzt verdammt nochmal da hoch und redest mit ihr, denn von allein wird sie diesen Schritt ganz sicher nicht machen!"

Beccas leises Schnauben riss Bucky aus seinen Gedanken, als die Blondine bei seiner dürftigen Erklärung leicht den Kopf schüttelte. Sie hatten beide getrennt voneinander Bekanntschaft mit JARVIS gemacht und selbst Bucky musste zugeben, dass es leicht fiel, sich an Starks stets höfliche und überaus dienstbeflissene K.I. zu gewöhnen. Auf seltsame Weise hatte diese Stimme sogar etwas Einnehmendes an sich.

„JARVIS ist manchmal eine ganz schöne Nervensäge und kommt mir vor wie ein altes Waschweib, das nichts für sich behalten kann."

Das Lächeln, das daraufhin kurzzeitig ihre Züge erhellte, verriet allerdings, dass Becca die Anschuldigung nicht wirklich böse meinte, schien sie doch offensichtlich selbst Sympathien für die K.I. zu hegen. Es tat gut, sie endlich wieder lächeln zu sehen.

„Wie sein Erfinder."

Bucky versuchte gar nicht erst zu verhindern, dass sich bei seinen eigenen Worten ein halbseitiges Grinsen auf seine Lippen stahl.
Ihre Blicke trafen sich ein weiteres Mal. Für einen Wimpernschlag blitzte ebenfalls Belustigung im Blau ihrer Augen auf und Bucky war wie schon so oft fasziniert, wie gut er mittlerweile die jeweilige Gemütslage in ihrer Mimik ablesen konnte, selbst wenn Becca stets bemüht war, ihre wahren Emotionen vor ihren Mitmenschen zu verbergen.

„Sollte das etwa ein Witz sein, Bucky Barnes?"

Er zuckte mit der Schulter. Bucky hatte keine Ahnung, ob er witzig sein konnte, ob James Barnes ein humorvoller Mensch gewesen war. Er wusste nur, dass er das Bedürfnis hatte, in Beccas Nähe zu sein, ihre Stimme zu hören, sie wieder glücklich zu sehen. Wenn er ihr mit einer solchen Belanglosigkeit ein Lächeln entlocken konnte, dann ließ er sich gern zu derlei seltsamen Äußerungen hinreißen.
Alles war besser als die vergangenen Tage, die sich für ihn beinahe unerträglich in die Länge gezogen hatten. Becca hatte sich mehr oder weniger in ihrem Zimmer verbarrikadiert, hatte seine Gegenwart ganz offensichtlich gemieden, wo es ihr nur möglich war. Mehrmals hatte er sie aufgesucht, hatte versucht sie zum Reden zu bringen. Er hatte gespürt, dass ihr etwas auf dem Herzen lag, dass es etwas gab, das seit ihrer Entführung zwischen ihnen stand. Doch Rebecca hatte geschwiegen, hatte ihm unmissverständlich klar gemacht, dass sie ihn nicht sehen, nicht sprechen wollte.

Und Bucky war verwirrt gewesen, verletzt, wütend - alles zusammen.

Während im Avengers Tower langsam Ruhe eingekehrt war, hatte er sich hinter den Mauern aus Glas und Beton mehr und mehr wie ein gefangenes Tier gefühlt. Die Alpträume waren mit neuer Vehemenz zu ihm zurückgekehrt und bei Tage übermannten ihn in immer kürzeren Intervallen bruchstückhafte Szenen aus seinem früheren Leben oder aus seiner Zeit als Winter Soldier. Auch das pochende Dröhnen nistete sich auf ein Neues in seinen Schläfen und hinter seinen Augenhöhlen ein, ließ ihn wie einen nervösen Tiger durch sein Apartment schleichen oder zu Unzeiten durch den Tower geistern.
Er fühlte sich im Stich gelassen von der Frau, in der er während ihrer gemeinsamen Flucht so etwas wie eine Vertraute gefunden hatte, eine Leidensgenossin. „Eine Freundin", wisperte eine Stimme in seinem Innersten und benannte damit einmal mehr das, was Bucky immer noch nicht laut aussprechen konnte, wenngleich es doch so treffend beschrieb, was Becca in den vergangenen Wochen für ihn geworden war.

Eine Freundin, ein Mensch, der ihm etwas bedeutete. Wie Steve.

Aber im Gegensatz zu Rebecca würde der Mann, den die Welt als Captain America kannte, nie begreifen können, vor welchen Dämonen er sich fürchtete, wenn der Schlaf seinen dunklen Mantel über seinem Geist ausbreitete. Steve würde nie verstehen, wie man einerseits die eigene Vergangenheit zutiefst verabscheuen konnte, um sich andererseits im gleichen Atemzug nichts sehnlicher herbei zu wünschen, als die Erinnerung an all jene Verbrechen, die man über Jahrzehnte hinweg im Namen einer verfluchten Organisation wie Hydra begangen hatte. Steve konnte nicht wissen, wie es sich anfühlte, wenn die eigene Seele zerbrochen war und man danach lechzte diesen unüberschaubaren Scherbenhaufen erneut zu einem Ganzen zusammenzufügen.
Aber Becca verstand diesen Wunsch. Sie hatte in seine Seele gesehen, sie hatte den Winter Soldier gesehen. Und sie hatte einen winzigen Teil jenes Mannes gesehen, der er einmal gewesen war, der er wieder sein wollte - mehr als alles andere auf der Welt. Er wollte wieder er selbst sein, auch wenn das bedeutete, dass er sich den Geistern der Vergangenheit stellen musste, dass er sich dem Soldier stellen musste.

Mittlerweile kehrten immer mehr Einzelheiten aus seiner Zeit bei Hydra in sein Gedächtnis zurück, schlaglichtartige Szenen weiterer Aufträge, die Erinnerung an das unerträgliche Brennen und Ziehen, wenn sein Körper von eisiger Kälte umfangen wurde und all sein Denken zum Erliegen kam. Vor allem aber erinnerte er sich an die Maschine, an die Schmerzen, die seinen Geist ein ums andere Mal zerrissen hatten, bis schließlich einzig jene willenlose Hülle übrig geblieben war, aus der Hydra ihren Attentäter geformt hatte.
Chimäre, so hieß der Apparat, mit dem sie den Soldaten James Barnes zerstört und in ein Monster verwandelt hatten, das hatte Steve ihm erklärt. Und nun wusste Bucky, dass es wirklich so gewesen sein musste, dass Hydra ihm mit dieser Maschine seine Erinnerungen genommen hatte.
Von einem Projekt namens Chimäre hatte auch Rebecca in der Benfield Lodge erzählt und seit Tagen lastete nun schon die dunkle Ahnung auf Bucky, dass eine Verbindung zwischen der Telepathin und der Maschine bestand und Becca mehr darüber wusste, als sie bisher zugeben wollte. Er konnte sich wieder daran erinnern, wie ein Mann, der sich Zola nannte, ihn in die Chimäre gesteckt hatte, wie ihn der Schmerz beinahe in den Wahnsinn getrieben hatte, jedes Mal wenn die metallischen Platten seine Schläfen eingequetscht hatten und eine Macht gleich einer Flutwelle über seinen Verstand hereingebrochen war. Es ähnelte dem Gefühl, das ihn erfasst hatte, als Becca in der Hydra-Basis brutal in seinen Geist eingedrungen war. Zwar hatte die Telepathin ihn schon zuvor mental manipuliert, doch nie hatte sie dabei ihre volle Stärke eingesetzt, nie hatte sie ihre Gabe in der Absicht angewandt, ihm ernsthaft Schaden oder Schmerzen zuzufügen. Dennoch waren die Parallelen augenfällig und erschreckend zugleich und Bucky wollte nur noch eines: Antworten.

Er wollte Antworten, brauchte Antworten und je länger Becca ihm aus dem Weg ging, sich in Schweigen hüllte und ihm somit die Wahrheit vorenthielt, desto stärker hatten sich Ungeduld und Ohnmacht in Bucky ausgebreitet.

Wie oft hatte er sich in den vergangenen Nächten vor der Tür zu ihrem Apartment wiedergefunden? Wie oft hatte er beschlossen, sie zu konfrontieren, so lange zu bedrängen, bis sie ihm alles erzählte, was sie darüber wusste? Wie oft hätte er sie am liebsten an der Schulter gepackt und so lange geschüttelt, bis sie ihm endlich die Wahrheit sagte?
Aber dann sah er in Gedanken ihr abgekämpftes Gesicht vor sich, ihre tränengeröteten Augen und alle Wut, alle Wissbegierde erlosch, wenn er sich ins Gedächtnis rief, wie sie weinend in seinen Armen gelegen hatte, wie sie sich selbst für den Tod ihres geliebten Hundes verantwortlich gemacht hatte.
Ja, er wollte mehr als alles andere, die Wahrheit aus Rebeccas Mund hören, egal wie schrecklich sie auch sein mochte, doch gleichzeitig wollte er sie nicht noch mehr verletzen, wollte das Vertrauen, das sich wie ein zartes Band zwischen ihnen gebildet hatte, nicht aus selbstsüchtigen Motiven zerreißen.
Er würde seine Antworten bekommen, aber nicht wenn er ihr dafür im Gegenzug weitere Schmerzen zufügen musste. Becca hatte genug gelitten.

„Was siehst du dir da an?"

„Den Central Park", sie deutete auf das weite Grün, das sich wie ein riesiger Teppich zwischen den Wolkenkratzern ausdehnte. „Selbst von hier oben sieht er beeindruckend aus, findest du nicht?"

Ein leichtes Nicken war Buckys einzige Antwort. Warum wunderte es ihn nicht, dass diese Frau inmitten einer lauten, nimmermüden Metropole wie New York ausgerechnet nach einer Parkanlage Ausschau hielt. Andererseits konnte er sie gut verstehen, teilte er doch selbst seit ihrer gemeinsamen Zeit in der Abgeschiedenheit der Wälder dieses Bedürfnis nach der Ruhe, die man wohl nur dort finden konnte, wo die Spuren der Zivilisation sich verloren, wo es nichts gab außer dem Rauschen in den Baumwipfeln und den Stimmen der Vögel.
Der Central Park in Manhattan war sicherlich meilenweit davon entfernt ein einsames Wildnisgebiet zu sein, doch je länger Bucky den Park betrachtete, der ihm wie ein Smaragd aus dem einheitlichen Grau der Gebäude entgegen leuchtete, desto stärker fühlte er sich mit einem Mal zu diesem Ort hingezogen.
Becca erhob sich langsam, gesellte sich zu ihm an den Rand der Plattform. Ihre Augen ruhten immer noch auf der Parkanlage, die sich einige Häuserblocks weiter in die Ferne erstreckte.

„Er erinnert mich an Zuhause, weißt du."

„Washington?", brachte Bucky leise hervor.

„Mein altes Zuhause", sie machte eine kurze Pause, so als müsste sie sich überwinden das Nachfolgende laut auszusprechen. „Deutschland. München. Dort gab es auch einen wunderschönen großen Park, den Englischen Garten. Es gibt ihn wohl immer noch, nehme ich an. Ich war dort oft mit meinen Eltern und meiner Schwester. Damals."

Ihre Stimme verlor sich. In ihrem Gesicht lag auf einmal so viel Verletzlichkeit, so viel Sehnsucht, dass Bucky nichts mehr wünschte, als diesen Ausdruck durch einen gänzlich anderen zu ersetzen. Er kannte das Gefühl, das sie in diesem Moment beherrschte. Er kannte es nur zu gut.
Das Gefühl, einen Teil von sich selbst für immer verloren zu haben, Menschen, die man einst geliebt hatte, für immer verloren zu wissen.

Sie hatten sich selbst und ihre Vergangenheit überlebt. Steve, Becca und er waren in einer Welt aufgewacht, die nicht mehr die ihre war. Die Zeit hatte ihnen unbarmherzig all das entrissen, was einst für sie von Bedeutung gewesen war.

Bucky konnte sich zwar nach wie vor nicht wirklich an seine Familie erinnern oder an andere Menschen aus seinem früheren Leben außer Steve, aber mit jedem noch so winzigen neuen Gedankenfetzen aus seiner Zeit vor Hydra wurde ihm bewusst, was James Barnes alles genommen worden war. Im Moment konnte er die Bruchstücke seiner einstigen Existenz noch nicht einmal ansatzweise zu einem Gesamtbild zusammensetzen, noch nicht, doch irgendwann würde er sich wieder erinnern können, irgendwann würde er wieder wissen, wer der Mann gewesen war, mit dem er sich seinen Namen teilte und der Steve Rogers wie einen Bruder geliebt hatte. Irgendwann.

„Willst du hin?", hörte er sich selbst fragen.

„Wohin?"

Becca beäugte ihn von der Seite. Er konnte ihren prüfenden Blick gut verstehen, immerhin hatte die Tatsache, dass er seinen spontanen Einfall ihr gegenüber laut geäußert hatte, nicht nur die Telepathin überrascht.

„In den Central Park."

„Du willst den Tower verlassen?", erkundigte sie sich und ihre großen Augen musterten ihn mit so viel Erstaunen, als hätte er soeben eine Reise zum Mars in Erwägung gezogen.

Bucky konnte sich nicht erklären, was genau ihn dabei geritten hatte, ihr tatsächlich einen Ausflug in diesen Park vorzuschlagen, so als wären sie irgendwelche Touristen, die nichts Besseres zu tun hatten, als sich die Sehenswürdigkeiten einer Großstadt anzuschauen.
Dennoch hatte ihm sein Vorstoß schlagartig ihre ungeteilte Aufmerksamkeit eingebracht. Und er genoss es. Er genoss die erste richtige Unterhaltung mit Becca, seit er ihr von Wallensteins Tod berichtet hatte. Ihre Nähe hatte ihm gefehlt, ihre zumeist recht einseitigen Diskussionen hatten ihm gefehlt, sie hatte ihm gefehlt und das Wissen, dass nur Wände und Türen sie voneinander trennten, war ihm in den vergangenen Tagen und Nächten zu einer schier unerträglichen Qual geworden.
Es war verrückt, entbehrter jedweder Vernunft, aber er hatte sich zwischenzeitlich mehr als einmal zurück in die Benfield Lodge gewünscht. Dort hatte er sich in einer trügerischen Sicherheit gewogen und es war genau jene friedliche Atmosphäre, die er wieder erleben wollte. Gemeinsam mit Becca wollte er an diesen stillen Ort zurückkehren und alles andere hinter sich lassen.
Aber sie konnten nicht umkehren, genauso wenig wie sie die Ereignisse der jüngsten Zeit ungeschehen machen konnten oder den Verlust von Rebeccas Hund. Hydra hatte ihnen auch diesen letzten Zufluchtsort genommen.
Bucky wollte jedoch verdammt sein, wenn er noch einen weiteren Tag dabei zusah, wie Becca sich weiter mit ihrer Trauer und ihrem Schmerz in diesem verfluchten Apartment vergrub. Sie hatte ihm geholfen, als er verloren gewesen war, vollkommen allein und orientierungslos in einer fremden Welt. Zu Beginn war diese Hilfe wohl eher unfreiwilliger Natur gewesen, aber trotzdem hatte sie ihn nicht im Stich gelassen, war ihm sogar dann noch gefolgt, als er sie beinahe umgebracht hatte, während er in einem seiner unzähligen Alpträume gefangen gewesen war.
Becca und er waren so viel mehr als zwei geschundene Seelen, die der Zufall in den Straßen von Washington zusammengeführt hatte, so viel mehr. Und er weigerte sich das alles aufzugeben.

„Warum sollten wir den Tower nicht verlassen können?", beantwortete er also seinerseits ihre Frage mit einer Gegenfrage und versuchte sich dabei an einem Lächeln. „Wir sind schließlich keine Gefangenen."

„Das vielleicht nicht, aber Steve und die anderen wären davon ganz sicher nicht begeistert."

„Brauchen wir jetzt deren Erlaubnis für einen verdammten Spaziergang in einem Park?"

Ungewollt schlich sich ein gereizter Unterton in seine Stimme ein, doch Rebecca schien sich daran nicht zu stören. Überhaupt machte sie einen weniger verschreckten Eindruck als noch vor wenigen Tagen, ein weiteres Indiz dafür, dass sie allmählich zu ihrem alten Selbst zurückfand. Mit einem leisen Seufzer stieß sie sich von dem Geländer ab.

„Also schön, du hast gewonnen. Lass uns den Central Park erkunden!"

Durch eine gläserne Tür kehrte sie ins Innere des Towers zurück. Nach kurzem Zögern folgte er ihr, sprachlos ob des plötzlichen Tatendranges, der ihre Wangen in einem zarten Rot leuchten ließ und einen Glanz in ihren Augen brachte, den er dort schon viel zu lange nicht mehr gesehen hatte. Was genau sie dazu bewogen hatte, ihre Meinung zu ändern, konnte Bucky nicht sagen, aber allein die Vorstellung, endlich aus diesem verdammten Tower rauszukommen, beflügelte seine Schritte und er schloss schnell zu ihr auf.

„Falls die Anderen uns vermissen sollten, wird JARVIS ihnen sicher verraten, wo wir zu finden sind. Nicht wahr?"

Becca hatte wohl bewusst laut gesprochen und legte den Kopf leicht schief, als sie die Reaktion der K.I. erwartete.

„Miss Goldstein, ich muss sie daran erinnern, dass ich angewiesen bin, umgehend Mister Stark und Mister Rogers zu informieren, sobald sie dieses Gebäude verlassen."

„Sag ich doch", achselzuckend drehte sich Becca zu ihrem Begleiter um. „Ist ja nicht so, dass in meinem schicken neuen Halsschmuck kein Chip eingebaut wäre, mit dem mich sein Chef höchstwahrscheinlich überall auf dem Globus orten könnte, oder wie war das noch gleich, JARVIS?"

„Stark hat dir einen Peilsender verpasst?"

Fassungslos stierte Bucky in das Gesicht der Frau, auf dem sich für einen Wimpernschlag ein trauriges Lächeln abzeichnete.

„Der AT-HR wurde in der Tat zu Miss Goldsteins persönlicher Sicherheit mit einem Mikrochip der neuesten Generation ausgestattet", beantwortete JARVIS an Stelle von Rebecca seine Frage.

„Ich kann mir schlimmere Babysitter vorstellen als Iron Man oder Captain America", ließ die Blondine verlauten, um einen leichtfertigen Ton bemüht, während sie gemeinsam auf die Aufzugtür zuschritten. „An deiner Stelle würde ich mir viel eher Gedanken um dein eigenes Outfit machen oder willst du wirklich so durch New York laufen?"

Sie lenkte das Gespräch einmal mehr von sich ab, soviel war selbst Bucky klar, aber dennoch wanderte sein Blick bei ihren Worten irritiert an seinem Oberkörper hinab. Es dauerte einen Augenblick, bis er begriff, dass der Stoff seines T-Shirts die metallische Armprothese so gut wie gar nicht vor neugierigen Augen schützte. Seine Zeit in der scheinbaren Sicherheit des Avengers Towers hatte ihn wohl nachlässig werden lassen, wenn er ohne richtig nachzudenken so auf die Straße gehen wollte.

„Ich lass mir was einfallen", brummte Bucky vor sich hin, als der Lift sich in Bewegung setzte.

Allzu lange dauerte ihre Fahrt nicht an, denn wenige Ebenen unterhalb des Partydecks befand sich sein eigenes Apartment, wo der Aufzug sanft abstoppte. Dort ließ er Becca kurz zurück, stieg anschließend mit einem Kapuzenpullover und einer Basecap erneut in den Lift ein, die er eilig aus dem viel zu großen Kleiderschrank seines Schlafzimmers geangelt hatte. Als er sich den dunkelroten Pullover übergestreift hatte und gerade dabei war, die Basecap auf seinem Kopf zu platzieren, konnte er Beccas Augen auf sich spüren.
Ein eigentümliches Schmunzeln umspielte ihren Mund, während sie ihn wortlos betrachtete.

„Schade, dass wir die Rentier-Mütze nicht mehr haben, die hätte sich wirklich ausgezeichnet zu diesem Pullover gemacht."

Zuerst glaubte Bucky, dass er sich verhört haben musste. Erst als der Aufzug im Erdgeschoss des Towers zum Stehen kam, realisierte er, dass Becca wirklich versuchte hatte, die angespannte Stimmung mit einem Scherz aufzulockern. Es war das erste Mal seit ihrem Wiedersehen, dass sie in seiner Gegenwart wieder zu Späßen aufgelegt war, dass sie überhaupt mehr als das Nötigste mit ihm sprach.

Steve hatte ihm erzählt, dass er Rebecca vor ein paar Nächten zu später Stunde auf dem Partydeck begegnet war und sie sich bis in den frühen Morgen miteinander unterhalten hatten. Den genauen Inhalt ihres Gesprächs hatte er ihm freilich nicht verraten, doch allein das Wissen, dass Becca sich scheinbar einem anderen Mann öffnen konnte, der im Grunde nicht viel mehr als ein Fremder für sie sein musste, für ihn selbst jedoch zeitgleich nichts als Abweisung und Schweigen übrig hatte, war wie ein Stich in Buckys Brust gewesen. Das heftige Gefühl, das seine Innereien förmlich zum Kochen gebracht hatte, konnte er erst Stunden später als das identifizieren, was es tatsächlich war: Eifersucht.
Bucky war rasend eifersüchtig auf Steve Rogers gewesen, weil dieser es geschafft hatte mit Becca eine normale Unterhaltung zu führen, während er es nicht einmal über sich bringen konnte, ihr länger als einen Herzschlag in die Augen zu sehen, geschweige denn vernünftige Sätze in ihrer Gegenwart zu äußern. Er beneidete Steve um jede Sekunde, die er mit ihr zugebracht hatte, um jedes Lächeln, das sie ihm womöglich in dieser Zeit geschenkt hatte. Und er verfluchte sich wieder und wieder für seine eigene Unfähigkeit, die richtigen Worte zu finden, überhaupt Worte zu finden.

Wenn Steve nicht gewesen wäre, hätte er sich wohl auch heute nicht dazu durchringen können, die Telepathin aufzusuchen. Eigentlich sollte er dem Mann und seiner verfluchten Hartnäckigkeit dankbar sein, stattdessen ertappte Bucky sich dabei, wie er immer noch einen stillen Groll gegen den Mann hegte, der sich aus seiner neu gewonnenen Eifersucht speiste. Er tat Steve damit Unrecht, soviel war selbst ihm bewusst.

Als die Aufzugtür sich gemächlich öffnete und den Blick auf das weitläufige Foyer des Towers freigab, verstummte seine innere Stimme. Wenige Schritte hatte sie in Richtung des gläsernen Ausgangs getan, da brachte ein leises Räuspern hinter ihren Rücken sie zu einem abrupten Halt.

„Und? Was haben wir für heute geplant? Ellis Island? Das Empire State Building oder wollt ihr etwa das MoMA besichtigen? Ich persönlich war ja schon lange nicht mehr im Museum of Natural History, aber hey, lasst euch von mir in eurer Freizeitgestaltung nicht beeinflussen."

Grinsend verschränkte Clint Barton die Arme vor seiner Brust, während er in aller Seelenruhe an ihre Seite geschlendert kam. Er trug zivile Kleidung, ein schwarzes Shirt und eine Jeans, und seine Augen wurden von einer Sonnenbrille verdeckt.

„Diese kleine elektronische Petze", hörte Bucky die Telepathin leise neben sich auf Deutsch schimpfen, dabei war es im Grunde wenig überraschend, dass JARVIS wohl schon während ihrer Unterhaltung den Agenten verständigt hatte, den man wohl eigens für ihre Überwachung abgestellt hatte.

„Jetzt schau nicht so griesgrämig drein, Barnes. Order von deinem Kumpel. Glaub mir, ich könnte mir heute Nachmittag auch spannender Dinge vorstellen, als euch beiden hinterher zu dackeln. Aber keine Sorge, ihr werdet meine Gegenwart gar nicht bemerken bei eurem kleinen Da...ähm...Ausflug."

Mit einem unterdrückten Knurren wandte sich Bucky von dem Mann ab, sah stattdessen zu Becca, auf deren Wangen sich einmal mehr die Röte ausbreitete.

„Schon gut. Wir hätten ja auch einfach Bescheid geben können, dass wir gerne ein Wenig frische Luft schnappen möchten."

Becca war sichtlich bemüht, sich im Angesicht dieser neuesten Entwicklung unbeeindruckt zu geben. Der Ton, in dem sie mit dem Mann plauderte, verriet Bucky außerdem, dass sie sich wohl schon mehrfach begegnet waren.

„So, so, frische Luft also. Da muss ich euch leider enttäuschen, denn für Frischluftfanatiker ist der Big Apple eher ungeeignet."

„Deshalb wollen wir auch in den Central Park", antwortete Becca und verschränkte nun ebenfalls die Arme vor der Brust, um den Agenten mit einem spöttischen Funkeln in ihren Augen zu bedenken. „Da gibt's auch genug Büsche und Bäume, hinter denen man sich verstecken kann, um andere Leute zu observieren."

„Büsche und Bäume?", Barton schob die Sonnenbrille etwas nach unten und schielte über den Rand der verdunkelten Gläser, während sie gemeinsam ihren Weg fortsetzten. „Hast du Jack Bauer oder Ethan Hunt schon mal hinter einem Busch sitzen sehen?"

„Wen?", wollte Bucky wissen, doch der Agent ignorierte ihn mit einem wissenden Lächeln und fuhr unbeirrt fort. „Warum sollte ich bitte in irgendeinem Gestrüpp hocken, wenn ich entspannt auf einer Parkbank sitzen oder im Gehen einen Milkshake schlürfen kann, während ich euch dabei beobachte, wie ihr...hey, was genau wollt ihr denn überhaupt im Central Park machen?"

„Einen Spaziergang", presste Bucky zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, wenig begeistert von der Vorstellung, dass der Kerl ihnen nun während ihres gesamten Freiganges an den Fersen kleben würde.

„Spaziergehen? Verstehe, ja, das machen wohl Leute in eurem Alter so", war Bartons letzter Kommentar, bevor sie den Ausgang erreichten und er munteren Schrittes vor ihnen das Gebäude verließ.

Bucky richtete sich bereits auf weitere Sprüche ein, doch offensichtlich war der Agent in seinen Neckereien nicht so ausdauernd wie Tony Stark und ließ es damit auf sich bewenden. Im Grunde war ihm Barton von allen Avengers noch am liebsten, denn der Mann hatte zumindest ein Gespür dafür, in welchen Situationen es besser war, den Mund zu halten und das Geschehen im Stillen zu beobachten.

Als sie langsam die vielbefahrene Straße entlanggingen, fiel ihr Begleiter schließlich immer mehr zurück und spätestens nach zwei weiteren Straßenzügen war seine Gegenwart sogar für Bucky nicht mehr wahrnehmbar. Der Lärm der unzähligen Autos und die schiere Menge der anderen Menschen nahm stattdessen all seine Sinne in Beschlag. Die hektische Geschäftigkeit außerhalb des Towers überrollte Bucky im ersten Moment und es dauerte einige Minuten, bis er sich einigermaßen an seine neue Umgebung gewöhnt hatte. Neben sich bemerkte er, wie Becca immer wieder ihren Kopf in den Nacken legte, um einen besseren Blick auf die Hochhäuser zu erhaschen, die das Straßenbild von Manhattan prägten
Im Gedränge wurde sie plötzlich von einem Anzugträger mit Aktentasche angerempelt und aus dem Gleichgewicht gebracht. Reflexartig zog Bucky die Frau an sich, nur um festzustellen, wie sich ihr gesamter Körper bei der unerwarteten Berührung augenblicklich versteifte. Schweigend löste er seine Hand von ihrer Schulter, richtete seinen Blick auf die Straße vor sich. Die Ungezwungenheit, die für kurze Zeit auf der Außenplattform des Towers zwischen ihnen existiert hatte, war erneut wie weggeblasen. Während sie sich mühsam zu ihrem eigentlichen Ziel vorarbeiteten, hing jeder von ihnen seinen eigenen Gedanken nach und es kam Bucky wie eine halbe Ewigkeit vor, bis sie endlich eine breite Straße überquerten und schließlich am Rand der Parkanlage ankamen.

„Vom Avengers Tower sah das irgendwie näher aus", sprach Becca neben ihm seine eigene Beobachtung aus, während sie eine Reiterstatue aus dunklem Stein passierten, die neben einem Treppenabgang in den mittlerweile wolkenlosen Himmel über New York City hinauf ragte.

Von dort führte sie ein geschwungener Weg in den Park. Ein Meer aus herbstlichen Farben begrüßte sie bereits nach wenigen Schritten und je weiter ihre Füße sie trugen, desto mehr rückte der Lärm der Großstadt in den Hintergrund, wenngleich die hohen Gebäude stets wie graue Riesen die Wipfel der Bäume überblickten und sie daran erinnerten, dass sie sich nach wie vor in einer Millionenstadt befanden.
Auf einem kleinen See schwammen mehrere weiße Wasservögel. Bucky und Becca blieben eine Weile stehen, beobachteten wie die Tiere in gemächlichen Kreisen über die dunkelgrüne Oberfläche glitten.
Irgendwann gingen sie weiter, schlenderten entlang von mächtigen Felsblöcken, die wie zufällig das saftige Grün der Rasenflächen immer wieder unterbrachen, so als hätten sie schon dort gelegen, bevor die ersten Siedler dieses Land bevölkert hatten. Es fiel Bucky bereits nach kurzer Zeit nicht mehr schwer auszublenden, dass dieser Park ein Stück menschengemachte Natur mitten in einer Welt aus Beton, Lärm und Dreck war.

„Was glaubst du, wie viele Gärtner die hier beschäftigen?", durchbrach Beccas Stimme irgendwann das Schweigen.

Bucky zuckte mit der Schulter. Über so etwas hätte er sich ganz sicher keine Gedanken gemacht, wenn seine Begleiterin ihn nicht danach gefragt hätte

„Irgendwo hab ich mal gelesen, dass fast 50 verschiedene Vogelarten hier leben. Kannst du dir das vorstellen, mitten in Manhattan?"

Aus ihren Augen sprach auf einmal eine fast schon kindliche Faszination. Wieder konnte Bucky nur stumm mit dem Kopf schütteln.
Immer tiefer drangen sie unterdessen in das Herz der Parkanlage vor. Becca wirkte wie befreit, als hätte sie all den seelischen Ballast am Eingang des Parks hinter sich gelassen. In ihren hellen Augen konnte er ein neugieriges Leuchten ausmachen und während die Frau jeden neuen Eindruck, jede skurrile Pflanze, jedes malerische Fleckchen, das sie abseits der Wege entdeckte, in sich aufsaugte wie eine Verdurstende den Anblick von Wasser und sattem Grün in einer Oase, konnte Bucky kaum seine Augen von ihr lassen, erwischte sich dabei, wie sein Umfeld immer mehr ins Hintertreffen gelangte und er irgendwann nur noch jede Regung ihres Gesichtes verfolgte, jedes Zucken ihrer Mundwinkel, jedes Funkeln in ihren Augen. Er verschwendete keinen einzigen Gedanken mehr an den Agenten, der ihnen mit Sicherheit die ganze Zeit unauffällig folgte.
Während er stumm neben Becca herlief, unterbrach sie bisweilen das Schweigen, um ihn auf eine besondere Entdeckung aufmerksam zu machen. Es tat gut, ihre Stimme zu hören, sie an seiner Seite zu haben. Irgendwann bemerkte Bucky, dass jedes Mal, wenn sie etwas Interessantes erspähte, ein kleiner, kaum hörbarer Laut ihren Lippen entwich. Und bei jedem dieser unbewussten, gehauchten Töne verstärkte sich das Kribbeln in seiner verbliebenen menschlichen Hand und sein Magen zog sich zusammen.

Sie passierten eine riesige offene Rasenfläche, die von unzähligen anderen Parkbesuchern bevölkert wurde. Überall sprangen Kinder umher, junge Männer warfen sich Bälle zu und Menschen saßen auf Picknickdecken, unterhielten sich, steckten ihre Nasen in Bücher oder genossen im Liegen den Sonnenschein. Immer wieder kreuzten Radfahrer und Jogger ihren Weg und es dauerte lange, bis sie diesen Bereich der Parkanlage hinter sich gelassen hatten. Irgendwann jedoch erreichten sie eine Terrasse, von der aus sich der Blick auf einen großen runden Springbrunnen eröffnete, auf dem eine geflügelte Gestalt über dem Geschehen thronte. Prunkvoll gestaltete Treppen führten von zwei Seiten eine Ebene tiefer und nachdem Becca und er den Platz überquert hatten, gelangten sie an das Ufer eines gigantischen Sees, dessen tatsächliches Ausmaß man von dort nur erahnen konnte.

Immer weiter gingen sie nebeneinander auf den verschlungenen Pfaden am Rande des Gewässers, bis sie schließlich auf eine filigrane Brücke stießen, die sich wie der Körper eines grazilen Insekts über eine besonders schmale Stelle des Sees schwang. Bucky war so tief in seine eigene Gedankenwelt versunken, dass er gar nicht bemerkte, wie seine Begleiterin am Ufer stehen geblieben war. Als er sich zu Becca umdrehte, hatte sie sich bereits im Laub niedergelassen. Ihr Blick wanderte von dem weißen Bauwerk über die Wasseroberfläche, weiter zu den Spitzen der Wolkenkratzer, die wie die Wachtürme einer gewaltigen Mauer den Park umfingen, und streifte flüchtig sein Gesicht, nur um erneut weiter zu schweifen.

Langsam näherte sich Bucky der Frau, nahm neben ihr auf dem weichen Untergrund Platz. Es verging einige Zeit, in der keiner von ihnen ein Wort sprach. Stattdessen genossen sie die Anwesenheit des anderen und dieses stille Beisammensein rief in ihm einmal mehr ihre gemeinsame Zeit in der Benfield Lodge wach, die Erinnerung an jenen Moment, als sie beim Licht des frühen Tages die Hirsche auf der Waldlichtung beobachtet hatten, als er ihre Hand in seiner Hand gehalten hatte.

„Es tut mir leid, Bucky."

Er blinzelte mehrmals, bevor sein Geist wieder vollständig ins Hier und Jetzt zurückfand.

„Es tut mir leid, dass ich dir aus dem Weg gegangen bin."

„Du musst dich nicht entschuldigen, Becca", erwiderte er und betrachtete sie von der Seite.

Sie drehte ein gelbes dreizackiges Blatt in ihrer Hand und noch immer wanderten ihre Augen in unruhigen Bewegungen die Wasseroberfläche entlang.

„Das verstehst du nicht, Bucky, das kannst du gar nicht verstehen."

Becca ließ das Blatt fallen, wandte ihm ruckartig das Gesicht zu. Unentschlossenheit und Furcht lagen in ihrer Miene, verliehen ihrem Mund einen ungewohnt harten Zug.

„Dann erklär es mir. Sag mir, was sie mit dir gemacht haben, was du erlebt hast, dass du meine Anwesenheit seither nicht mehr ertragen kannst!"

Die plötzliche Vehemenz in seiner eigenen Stimme ließ die Frau zusammenzucken und Bucky bereute im selben Atemzug jedes einzelne Wort.

„Ich-ich kann's einfach nicht", brachte sie nur hervor und der Glanz in ihren Augen verriet Bucky, dass sie gegen Tränen ankämpfte.

„Aber bei Steve ging es!"

Er konnte nicht verhindern, dass die Verbitterung der letzten Tage in seiner Stimme mitschwang. Als er den verletzten Ausdruck in ihren hellen Augen bemerkte, verfluchte er sich für sein unüberlegtes Verhalten, für seine schroffe Art, die es ihm unmöglich machte auch nur ein einziges Mal die angemessenen Worte in einer solchen Situation zu finden. Neben sich vernahm er einen gequälten, tiefen Atemzug.

„Ich wusste nie, wofür Zola mich damals gebraucht hat." Ihre Stimme war so leise, dass Bucky kaum wagte selbst zu atmen. „Ich wusste nicht, welchem Zweck all die Tests, all die Experimente -" Sie stockte einen Moment, bis sie sich wieder gefangen hatte. „All diese unschuldigen Menschen, die sterben mussten, nur um diese Maschine zu bauen."

Er spürte ihren brennenden Blick auf sich. Bucky konnte gar nicht anders, als in das Blau ihrer großen traurigen Augen zu starren, während sie langsam weitersprach.

„Ich habe ihnen dabei geholfen, ich habe Hydra dabei geholfen diese grässliche Maschine zu erschaffen, die sie Chimäre getauft haben. Mit diesem Höllenapparat haben sie dir dein Gedächtnis genommen. Mit dieser Maschine haben sie dich all die Jahre gequält. Und wenn ich nicht gewesen wäre, dann hätte Hydra dieses verfluchte Folterinstrument vielleicht nie entwickeln können."

Eine einzelne Träne rollte in einer zähen Bahn über ihre gerötete Wange. Becca riss ihren Blick von ihm los, wollte sich hektisch aus ihrer Position am Boden erheben, als Buckys kybernetische Hand plötzlich ihre viel kleinere ergriff und festhielt.

„Ich weiß."

Ihre Augen weiteten sich, als sie die Tragweite seiner Worte verarbeitete. Tief in seinem Herz hatte er es gewusst, seit Rebecca in der Bunkeranlage in seinen Geist vorgedrungen war. Es war derselbe Schmerz, dasselbe grässliche Druckgefühl wie in der Maschine, wenn die Metallplatten seinen Schädel gleich einer Schraubzwinge umschlossen und unbarmherzig zerquetscht hatten. Und nun, da seine Erinnerung an das Grauen von damals langsam zu ihm zurückkehrte, wusste Bucky, dass seine Intuition ihn nicht getäuscht hatte. Ein Teil von Becca war in der Maschine, irgendwie war es Hydra gelungen ihre telepathischen Fähigkeiten in der Chimäre nachzuahmen. Aber es war nicht Becca gewesen, die ihn gequält hatte, und es war nicht ihre Schuld, was mit ihm passiert war.

„Ich kann mich wieder an den Apparat erinnern, an den Schmerz, wenn mein Verstand auseinandergerissen wurde. Als du Steve und mich im Bunker angegriffen hast, da wusste ich, dass es deine Fähigkeiten waren, die Hydra mit dieser Maschine imitiert hat, dass sie dich damals benutzt haben müssen, um diese Prozedur zu entwickeln."

„Bucky-ich-ich-"

Die Tränen erstickten ihre Stimme, aber noch bevor er irgendetwas erwidern konnte, spürte er wie ihre schmalen Arme seine Schultern umfingen und ihr Kopf gegen seine Brust gepresst wurde.

„Vergib mir, bitte vergib mir!"

Sie wiederholte diesen Satz immer wieder, solange bis die Worte in ein undefinierbares Schluchzen übergingen, das ihren gesamten Körper wie ein Erdbeben erschütterte.

„Becca", seine menschliche Hand strich über ihr Haar. „Becca, schau mich an!"

Langsam hob sie ihren Kopf, sah ihn aus geröteten Augen an und spätestens in diesem Moment wusste Bucky, dass Rebecca Goldstein so viel mehr war als eine verwandte Seele, eine Leidensgenossin oder eine neue Freundin.

„Becca, da gibt es nichts zu vergeben, das gab es nie."

Mit seiner menschlichen Hand fuhr er einmal die Kontur ihres Gesichts nach, ließ seine Fingerkuppen federleicht über ihre Haut wandern, die sich unter seine Berührung ungewohnt erhitzt anfühlte. Für Bucky waren keine weiteren Worte mehr notwendig, um das auszudrücken, was Becca wohl in diesem Moment ganz ohne Telepathie in seinen Augen ablesen konnte. Wenn er jemals so etwas wie Zorn oder Hass auf diese Frau verspürt hätte, dann wären all jene Emotionen spätestens in dem Augenblick verschwunden, als er sie blutend in der Hydra-Basis in seine Arme gezogen hatte, als er geglaubt hatte, sie wäre ihm für immer genommen worden.

Er konnte nicht sagen, wer von ihnen schließlich den Abstand überwand, wer sich dem anderen zuerst annäherte.

Es zählte in diesem Moment auch nicht mehr, was sie in einem früheren Leben getan hatten oder welche ungewisse Zukunft vor ihnen lag. Es war bedeutungslos, dass jeder andere Parkbesucher sie sehen konnte, dass Clint Barton sie höchstwahrscheinlich sehen konnte. Bucky wusste nur, wie es sich anfühlte, sie endlich in seinen Armen zu halten und seinen Mund auf ihren unvorstellbar weichen Lippen zu spüren.

Zum ersten Mal seit mehr als 70 Jahren fühlte er sich wieder lebendig.

Hier am Ufer eines Sees, inmitten einer Metropole wie New York, verstummten endlich die Stimmen in seinem Kopf, die ihm wieder und wieder sagten, dass er nichts weiter als ein Mörder war, der zahllose Menschenleben auf dem Gewissen hatte und unzählige Familien zerstört hatte, ein wertloses Abfallprodukt und gefühlskaltes Geschöpf, das es verdiente für seine abscheulichen Taten hingerichtet oder bis zum Ende seiner Tage in einer Zelle weggesperrt zu werden.

Als er Becca an einem Nachmittag im Herbst im Central Park küsste, anfangs unsicher und furchtsam, dass sie ihn womöglich von sich stoßen könnte, dass sie nicht das Gleiche empfand wie er selbst, und sie schließlich seinen Kuss erwiderte, zuerst zögerlich, vorsichtig, doch dann unvorstellbar sanft und quälend intensiv, da war Bucky wieder ein Mensch aus Fleisch und Blut.

Und er war glücklich.

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