Kapitel 52: Nachtgespräche
„Ich bin wohl nicht der Einzige, der nicht schlafen kann."
Mit einem unterdrückten Schrei fuhr die Frau zu ihm herum. Beinahe glitt ihr dabei die Flasche aus der Hand, die sie in diesem Moment an ihre Lippen setzen wollte.
Barfuß, nur in ein Top und eine Shorts gekleidet, hatte Rebecca nun schon eine ganze Weile vor dem geöffneten Kühlschrank gestanden und regungslos in das grell erleuchtete Innere gestiert, als gäbe es dort einen spannenden Spielfilm zu sehen. Irgendwann hatte sie eine Plastikflasche mit weißer Flüssigkeit herausgefischt, nur um daraufhin einige Minuten unschlüssig Löcher in die Luft zu starren, bevor sie in Zeitlupe die Flasche öffnete und an ihren Mund führte. Sie musste wirklich tief in ihrer eigenen Gedankenwelt verloren sein, denn ihr war vollkommen entgangen, wie Steve sich der Bar genähert hatte.
Er war überrascht, sie mitten in der Nacht auf dem so genannten Partydeck des Avengers Towers anzutreffen, aber andererseits war es auch kein Wunder, dass sie schlaflose Nächte hatte. Er kannte dieses Problem aus erster Hand und seine eigenen nächtlichen Spaziergänge endeten meist ebenfalls in diesem Teil des Gebäudes.
Manchmal fragte sich Steve, ob überhaupt irgendwer im Tower einer gesunden Schlafroutine nachging.
Sein Blick blieb an Rebeccas Hals hängen, um den nach wie vor Starks Metallreif befestigt war. Tony, als der misstrauische Kontrollfreak, der er nun einmal war, hatte darauf bestanden, dass die Telepathin den AT-HR anbehielt, wenn sie sich frei im Tower bewegen wollte. Erstaunlicherweise war die Frau ohne ein einziges Widerwort dieser Forderung nachgekommen. Steve hatte den Eindruck, dass sie das metallische Ding seltsamerweise nicht als Eingriff in ihre Persönlichkeitsrechte betrachtete, dabei stellte es doch im Grunde nichts anderes als Starks dezentere Version einer Zwangsjacke dar. Ganz im Gegenteil, Rebecca schien erleichtert und dankbar, dass man ihr überhaupt gestattete im Hauptquartier der Avengers zu bleiben und allmählich beschlich Steve der Verdacht, dass sie in dem Halsreif die einzige Möglichkeit sah, um von ihrer Umwelt wie ein ganz normaler Mensch behandelt zu werden. Die Vorstellung, dass sie sich durch Verleugnung und Unterdrückung ihres wahren Selbst Akzeptanz versprach, machte ihn wütend und traurig zugleich. Er selbst stand Starks eigenwilligen Machtspielchen kritisch gegenüber, ahnte er doch, dass diese Vorsichtsmaßnahme auf Tonys fast schon zwanghaftem Bestreben fußte, jede potenzielle Gefahrenquelle bereits im Vorfeld unschädlich zu machen.
Der Angriff der Chitauri hatte auch bei Iron Man seine Spuren hinterlassen und worin der Tony von einst vielleicht ein vielversprechendes Forschungsprojekt gewittert hätte, sah der Mann nach dem Kampf von New York nun in Menschen wie Rebecca vor allem eine Bedrohung, der er mit seinem brillanten Erfindergeist entgegentrat. Steve wusste jedoch aus eigenen Erfahrungen, dass die Angst vor dem Unbekannten, dem Unkontrollierbaren stets ein schlechter Ratgeber war, aber solange die Telepathin sich nicht an der Beschneidung ihrer Fähigkeiten störte, akzeptierte er ebenfalls die momentane Situation.
„Es ist unhöflich, sich an seine Mitmenschen anzupirschen."
Schnell stellte Rebecca die Flasche auf der Theke ab, so als hätte ihr Gegenüber sie gerade dabei erwischt etwas Verbotenes zu tun. Erst jetzt wurde Steve bewusst, dass er längere Zeit hinter der Telepathin gestanden haben musste, bevor er sich bemerkbar gemacht hatte. Sein plötzliches Auftauchen bereitete ihr offensichtlich Unbehagen, denn sie verschränkte in einer fast schon trotzigen Geste die Arme vor der Brust, musterte ihren Besucher mit diesen durchdringenden Augen, deren forschendem Blick man sich nur schwerlich entziehen konnte. Auch wenn ihre Kräfte eingeschränkt waren, fühlte Steve sich nichtsdestotrotz in ihrer Gegenwart auf unheimliche Weise in seinen Überlegungen ertappt.
Steve schüttelte diese Gedanken eilig ab.
„Tut mir leid. Ich habe nicht damit gerechnet, dass sich hier um diese Uhrzeit jemand herumtreibt, um Tonys Bar zu plündern."
Der Gesichtsausdruck der Blondine war Gold wert, schwang binnen weniger Sekunden von überrascht in beschämt um. Und Steve konnte sich ein amüsiertes Lächeln nicht verkneifen. Es tat gut, endlich einmal andere Emotionen in ihrem Mienenspiel zu beobachten als jene, die Rebecca seit ihrer Befreiung zu quälen schienen.
„Ich-ich wollte nicht -"
Es dauerte ein paar Atemzüge, bis sie realisierte, dass er sie auf den Arm genommen hatte. Dann jedoch schoss eine geschwungene dunkelblonde Augenbraue herausfordernd nach oben und ihre gesamte Körperhaltung veränderte sich. Fast wirkte es, als fiele in diesem Augenblick eine tonnenschwere Last von ihren Schultern und zum ersten Mal seit Tagen wich die Anspannung zumindest vorübergehend aus Rebecca Goldsteins Körper.
„In meinem Apartment gibt es keine Küche und J.A.R.V.I.S. meinte, hier findet man immer etwas zu Trinken", sie machte eine bedeutungsvolle Pause. „Allerdings hat er vergessen zu erwähnen, dass die Getränke hier allesamt hochprozentig sind."
War das etwa so etwas wie ein Scherz? Steve überbrückte mit wenigen Schritten die Distanz zur Theke.
„Außer der Milch?"
„Außer der Milch", antwortete Rebecca und dabei stahl sich ein kleines schüchternes Lächeln in ihr Gesicht, das augenblicklich ein warmes Gefühl in seiner Brust entstehen ließ.
Es war schön, sie lächeln zu sehen. Er hatte sie bisher kein einziges Mal dabei beobachten können. Stattdessen lag seit Tagen eine ausdrucklose Maske über ihren Zügen, ein Schutzmechanismus, um zu verbergen, was sich wohl in ihrem Inneren tatsächlich abspielte. Steve kannte diesen leeren Gesichtsausdruck nur zu gut, er hatte ihn schon unzählige Male bei Bucky gesehen. Umso glücklicher machte es ihn nun, dass Rebecca ihm ein ehrliches Lächeln schenkte, selbst wenn es nur von kurzer Dauer war.
„Na, dann nehm ich doch mal ein Glas Milch. Ich meine natürlich nur, wenn du mir etwas abgibst."
Steve zog einen Barhocker zu sich. Während er Platz nahm, kam die Frau seiner Bitte nach, kramte unter der Theke, wahrscheinlich auf der Suche nach Gläsern. Sicherlich entging ihr die Ironie dieser Situation ebenfalls nicht. Ausgerechnet sie, die als Kellnerin in einer Bar gearbeitet hatte, stand nun erneut hinter dem Tresen und bediente einen unerwarteten Gast. Während Steve sie eindringlich musterte, zog sie zwei Gläser hervor und platzierte sie wortlos vor sich auf der dunklen Platte.
In einem losen Zopf fiel ihr das Haar über die Schulter. Einzelne Strähnen hatten sich gelöst, umspielten wie leuchtende Sonnenstrahlen ihr Gesicht. Zwischen ihren Augenbraunen bildete sich eine kleine senkrechte Falte, wohl ein Zeichen dafür, dass sie ihre volle Konzentration einer Sache widmete.
Nach wie vor wirkte sie angeschlagen, verletzlich, so als könne eine falsche Berührung, ein falsches Wort sie auf der Stelle zerbrechen lassen. Mehrere Tage waren nun schon seit der Rettungsaktion vergangen und es bedurfte dennoch einer zufälligen nächtlichen Begegnung, damit er mit Rebecca Goldstein mehr als zwei knappe Sätze wechseln konnte. Überhaupt hatten er und seine Teamkollegen nicht viel von der Telepathin zu Gesicht bekommen, seit sie im Avengers Tower Zuflucht gefunden hatte. Rebecca mied sie, vergrub sich in ihrem kleinen Apartment, das wohl so etwas wie ein sicherer Hafen für sie sein musste. Sie wollte niemanden sehen mit Ausnahme von Romanoff. Ausgerechnet Black Widow war es irgendwie gelungen so etwas wie ein Vertrauensverhältnis zu ihrem neuesten Gast aufzubauen, was vielleicht schlicht und ergreifend an der Tatsache lag, dass sie das einzige weibliche Teammitglied der Truppe war, wenn man Agent Hill nicht mitzählte. Offensichtlich fiel es Rebecca leichter die Gegenwart einer anderen Frau zu ertragen, nach allem, was sie in den vergangenen Tagen durchgemacht hatte und Romanoff schien diesen Umstand lange vor ihren Teamkollegen intuitiv richtig eingeschätzt zu haben. Trotzdem war Steve erstaunt über Natashas Einfühlungsvermögen in Hinblick auf die Telepathin und einmal mehr wurde ihm bewusst, wie schlecht er Romanoff doch kannte.
Rebecca hatte ihnen keine Einzelheiten erzählt. Das war auch gar nicht notwendig, konnte jeder sich doch lebhaft ausmalen, welche Abscheulichkeiten die junge Frau ein weiteres Mal in Hydras Klauen hatte erdulden müssen. Sie hatten ihr schreckliche Dinge angetan, daran zweifelte Steve keine Sekunde. Selbst wenn Dr. Ito keine äußerlichen Anzeichen von Folter hatte erkennen können, genügte ein Blick in ihre Augen, um das unausgesprochene Grauen zu erahnen, dem Rebecca ganz alleine ausgeliefert gewesen war.
Irgendwann hatte sie sich im Laufe der Woche bereit erklärt, von ihrer Gefangenschaft zu berichten, widerwillig zwar, aber aus freien Stücken. Vielleicht fühlte sie sich dazu verpflichtet, möglichst viele Informationen über ihren gemeinsamen Feind mit den Avengers zu teilen, weil sie wusste, dass Steve und die anderen viel riskiert hatten, um ihr zu helfen. Trotzdem beschränkte die Telepathin sich auf Orts- und Personenbeschreibungen und dabei wurde schnell deutlich, dass sie ihnen nicht einmal die Hälfte von dem erzählte, was in der Hydra-Basis wirklich vorgefallen war. Selbst Bucky hatte sie sich nicht anvertrauen wollen, eine Tatsache, die diesem wohl mehr zusetzte, als er sich vor Steve eingestehen wollte. Man musste jedoch kein besonders guter Menschenkenner sein, um zu registrieren, wie sehr der einstige Winter Soldier unter dem abweisenden Verhalten der jungen Frau litt.
Zumindest hatten sie von Rebecca erfahren, mit wem genau sie es zu tun hatten. Offenbar war Brock Rumlow seiner Verhaftung entgangen, um im Verborgenen die verbliebenen Hydra-Anhänger in den Staaten um sich zu scharen und ein Mann namens Seizew, offenbar ein Russe, unterstützte ihn dabei. Oder hatte ihn wohl viel eher unterstützt, denn es handelte sich bei diesem um eben jenen Angreifer, den Barton mit einem seiner Pfeile im Bunker niedergestreckt hatte. Irgendetwas musste in Zusammenhang mit diesem Seizew vorgefallen sein. Denn auch nach dessen vermutlichem Ableben, weigerte sich Rebecca beharrlich auch nur ein weiteres Wort über diesen Mann zu verlieren.
Sie akzeptierten ihr Schweigen. Weder Steve noch seine Teamkollegen wollte sie zu etwas zwingen. Sie hatte genug gelitten. Rebecca verdiente Ruhe und Sicherheit und genau das fand sie im Avengers Tower.
Dennoch waren sie es der Telepathin schuldig gewesen, im Umkehrschluss von all dem zu berichten, was seit ihrer gemeinsamen Flucht mit Bucky geschehen war. Und Rebecca war untröstlich, als Steve und Sam ihr erzählten, was Hydra ihrer englischen Freundin angetan hatte, um ihren möglichen Aufenthaltsort aus ihr herauszupressen. Sie war zusammengebrochen, einfach umgekippt, und erst nach einem langen Telefonat mit Angela Benfield, die immer noch im Krankenhaus behandelt wurde, war Rebecca wieder zu einigermaßen klaren Gedanken fähig gewesen. Danach hatte sie sich allerdings noch mehr zurückgezogen. Selbst Wilson, der mit vielen traumatisierten Soldaten in seiner Selbsthilfegruppe zu tun hatte und in den vergangenen Tagen mehrmals das Gespräch mit Rebecca gesucht hatte, war an ihrem anhaltenden Schweigen gescheitert.
Sie verließ ihr Zimmer kaum und wenn sie zu einem gemeinsamen Essen erschien, wirkte sie wie ein Geist, eine leere Hülle. Auch Bucky wollte sie nicht mehr an sich heran lassen und diese plötzliche Ablehnung zehrte an Steves Freund. Ihr Verhalten verletzte ihn, dabei glichen sie einander doch so sehr. Wie verletzte Tiere igelten sich der einstige Winter Soldier und die Telepathin ein, aus Angst, dass die Welt, dass ihre Mitmenschen ihnen ein weiteres Mal Schmerzen zufügen würden. „Gib ihr Zeit", hatte er Bucky geraten, als dessen Miene sich von Tag zu Tag verfinsterte. „Rebecca hat so viel durchgemacht, sie braucht einfach Zeit und Ruhe." Aber wie sooft waren seine gutgemeinten Worte auf taube Ohren gestoßen und seit Tagen war die Atmosphäre im Tower derart geladen, dass selbst Stark lieber in sein Labor flüchtete, bevor er mit einer unüberlegten Bemerkung das emotionale Pulverfass endgültig zum Explodieren bringen würde.
„Hier", Rebecca hielt ihm ein bauchiges Glas mit weißer Flüssigkeit entgegen, das eigentlich für Whiskey gedacht war. „Wodka und Kahlúa hab ich auch gefunden. Wenn wir noch irgendwo Eiswürfel auftreiben, können wir uns White Russian mixen. Big Lebowski-Style."
Den verwirrten Ausdruck in Steves Augen beantwortete sie mit einem leisen Schnauben, während sie sich hinter der Theke ein eigenes Glas mit Milch füllte. War das etwa Rebeccas wiederholter Versuch ihrerseits einen Scherz zu machen?
„Den Film kennst du wohl nicht", murmelte sie, als ihr Gegenüber stumm blieb. „Na egal, wenn ich's mir recht überlege, dann lassen wir das sowieso besser. Als ich das letzte Mal mit Bucky getrunken habe, ging das mächtig in die Hose."
Ihre Blicke trafen sich und trotz des gedämmten Lichts bemerkte Steve, dass Rebecca ihre unüberlegten Worte wohl schon bereute, denn sie presste ihre Lippen aufeinander und dabei legte sich ein zarter Anflug von Röte über ihre Wangen. Diese seltsame Mischung aus Schlagfertigkeit und Verletzlichkeit faszinierte ihn und er konnte sich gut vorstellen, wie überfordert Bucky mit dieser Frau auf der gemeinsamen Flucht gewesen sein musste. Es war das erste Mal, dass er so etwas wie eine ungezwungene Unterhaltung mit der Telepathin führte und Steve war erleichtert, dass sie offenbar in der Stimmung für Gespräche war, dass sie fast schon in einem plauderhaften Ton mit ihm redete.
„Gestern habe ich noch einmal mit Anna telefoniert."
In den vergangenen Tagen hatte Steve häufiger mit Beccas Kollegin aus dem „Red Passion" gesprochen. Er selbst hatte die Tänzerin angerufen, um ihr mitzuteilen, dass Rebecca in Sicherheit war und die nächste Zeit wohl in New York im Avengers Tower verbringen würde. Natürlich hatte er der aufgebrachten Frau am Hörer keine Details verraten, schließlich war es Rebeccas Entscheidung, inwieweit sie Anderen von ihrer Vergangenheit und ihren besonderen Fähigkeiten erzählen wollte. Anna hatte ihm erzählt, dass Rebecca ihren Job in der Bar mittlerweile los war, denn ihr Chef war nicht länger bereit gewesen, auf seine verschollene Kellnerin zu warten. Steve und Anna waren sich allerdings einig, dass das zumindest für Rebecca keinen allzu großen Verlust bedeutete. Im Weiteren hatte er die Tänzerin aber regelrecht ausbremsen müssen, denn sie und der Barkeeper Patrick waren nach eigener Aussage bereits drauf und dran gewesen, selbst in den Big Apple zu reisen, um sich persönlich vom Wohlergehen ihrer Freundin zu überzeugen. So sehr sich Steve über ein Wiedersehen mit der hübschen Brünetten freuen würde, ein Besuch der Beiden war wohl das Letzte, was Rebecca in ihrer derzeitigen Verfassung gebrauchen konnte.
„Lass mich raten, sie und Pat wollen hierher kommen."
„Natürlich wollen sie das."
Rebecca seufzte bei seiner Antwort hörbar.
„Sie machen sich Sorgen. Immerhin dachten wir alle zuerst, dass Bucky dich entführt hat."
Becca nippte einige Zeit schweigend an ihrem Glas. Man konnte ihr praktisch ansehen, wie ihr Verstand auf Hochtouren arbeitete.
„Ich weiß nicht, was ich ihnen sagen soll, wie ich das alles erklären soll. Mehr als drei Jahre kenne ich jetzt Pat und die Mädels, aber eigentlich wissen sie doch rein gar nichts über mich."
„Und trotzdem sehen sie eine Freundin in dir, Becca. Ohne Annas Hilfe hätten wir dich und Bucky wohl nie aufgespürt, hätten Angela Benfield nicht gefunden -"
Steve verstummte. Er hatte sich geschworen, Rebecca nicht zu bedrängen, aber genau das tat er im Moment. Dabei konnte er ihre Ängste sogar verstehen. Die Telepathin fürchtete sich vor der Reaktion ihrer Mitmenschen, wenn sie sich ihnen als das offenbarte, was sie nun einmal war: ein Mensch mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, aber nichtsdestotrotz ein Mensch.
„Ich kann das nicht, Steve, ich pack das einfach noch nicht."
Ihre Stimme war nur ein Flüstern.
„Und was ist mit Bucky? Warum meidest du ihn auf einmal?"
Die Frage kam ihm unbeabsichtigt über die Lippen. Steve ärgerte sich über seine eigene Direktheit, bemerkte er doch, wie Rebecca bei seinen Worten zusammenzuckte. Ihre Antwort ließ länger auf sich warten, so als müsse sie sich genau überlegen, was sie ihm anvertrauen wollte und was sie lieber für sich behielt. Er wartete geduldig, leerte derweil sein Glas und blickte durch die große Fensterfront auf die bunten nimmermüden Lichter Manhattans.
„Ich kann mich wieder erinnern."
Als Steve sich ihr zuwandte, schlug die Telepathin die Augen nieder, so als könne sie seinem Blick nicht standhalten, ausgerechnet sie, die über die Gabe verfügte, tief in das Innerste jedes Menschen zu sehen.
„Ich kann mich an alles erinnern, was im Bunker passiert ist", sie holte einmal hörbar Luft, fuhr anschließend unbeirrt fort. „Und ich kann mich an die Maschine erinnern, an die Chimäre."
Er ahnte wohin ihre Worte führen würden, aber zugleich wirkte es so, als müsse Rebecca endlich all das laut aussprechen, was wohl schon seit Tagen auf ihrer Seele lastete. Und irgendwie war Steve froh, dass sie damit herausrückte, dass sie es endlich über sich brachte, darüber zu sprechen. Warum es ausgerechnet in diesem Augenblick und in seiner Gegenwart der Fall war, konnte Steve sich nicht erklären, aber er hütete sich davor ihr ins Wort zu fallen, als sie langsam weitersprach.
„Ich weiß, was sie mit diesem Höllending getan haben. Ich weiß, was sie Bucky damit angetan haben. Sie haben mich in dieses Ding gesteckt und da habe ich es begriffen."
Sie hielt kurz inne und aus ihren Augen sprachen so viel Mitgefühl und Trauer, dass Steve sich innerlich verfluchte, sie auf dieses Thema angesprochen zu haben.
„Mit dieser Maschine haben sie Bucky die Erinnerungen genommen, damit haben sie sein Gedächtnis ausgelöscht und den Winter Soldier in seinen Kopf gepflanzt. Mit der Chimäre haben sie dieses Monster aus ihm gemacht."
„Becca", wollte Steve sie mit sanftem Ton unterbrechen, aber ihre Stimme war so voller Bitterkeit, voller Verzweiflung, dass es ihm die Kehle zuschnürte und er stattdessen mit wachsender Unruhe ihren weiteren Worten lauschte, die sie unter großer Anstrengung herauspresste.
„All die Tests, all die Toten, all das nur um diesen Apparat zu erschaffen, um dieses Ding zu bauen, das so viel Leid verursacht hat. Wie oft haben sie Bucky dort hinein gesteckt in den vergangenen Jahrzehnten? Wie oft haben sie ihm Schmerzen zugefügt mit diesem widerwärtigen, ekelhaften Folterinstrument? Rumlow hat recht. Wie kann ich ihm weiter in die Augen sehen, wenn ich doch diejenige war, die Zola dabei geholfen hat, diese Maschine zu entwickeln? Ohne mich gäbe es die Chimäre nicht, ohne mich hätten sie vielleicht nie den Winter Soldier aus ihm machen können."
„Ich weiß", flüsterte Steve.
„Du weißt -"
Ihre Stimme verlor sich. Fassungslos stand sie ihm gegenüber. Ihre kleine Hand umklammerte das Trinkglas so krampfhaft, dass er befürchtete, es könne jeden Moment unter dem Druck in tausend Teile zerbersten.
„Wir wissen, wozu Zola dich gezwungen hat. Wir haben Filmaufnahmen gefunden, die zeigen wie -"
Rebecca fiel ihm ins Wort.
„Weiß er es? Weiß Bucky, dass es meine Schuld ist?"
Panik beherrschte ihre Stimme und die pure Angst spiegelte sich in ihren großen blauen Augen, mit denen sie ihn fast schon flehend anstarrte.
„Ich habe Buck die Aufnahmen nicht gezeigt."
„Weiß er es?", bohrte sie unbeeindruckt weiter.
Unterdrückte Wut lag nun in ihrer Stimme und er schüttelte als Antwort nur mit dem Kopf. Von ihm würde Bucky nicht erfahren, dass Rebecca Goldstein wohl diejenige gewesen war, mit deren unfreiwilliger Unterstützung Hydra überhaupt erst das Gehirnwäscheverfahren entwickeln konnte, durch das man ihn in eine willenlose Tötungsmaschine verwandelt hatte. Nun begriff Steve allmählich, was die junge Frau in den vergangenen Tagen neben den Schrecken ihrer erneuten Gefangenschaft gequält haben musste, welche Dämonen sie wohl selbst im Schlaf heimgesucht hatten. Langsam glitt er von seinem Hocker, umrundete den Tresen, hinter dem die Blondine stand, regungslos, als sei sie zu einer Salzsäule erstarrt.
„Becca, es ist nicht deine Schuld."
Eine Armlänge entfernt blieb er vor ihr stehen, musterte ihr bleiches Gesicht mit den leuchtenden Augen, in denen sich nun Tränen sammelten.
„Du warst ein Kind, ein hilfloses Mädchen. Hydra hat dich benutzt, wie sie auch Bucky benutzt haben und viele andere im Laufe der Jahrzehnte. Nichts davon ist eure Schuld."
„Du irrst dich Steve. Im Gegensatz zu Bucky hatte ich die Wahl. Und ich hab mich für Sarah entschieden. Ich habe damals beschlossen, dass mir das Leben meiner kleinen Schwester wichtiger ist als das all jener unschuldigen Menschen, die bei Zolas Experimenten gefoltert und ermordet wurden. Und weißt du, was das Schlimmste ist? Ich würde mich immer wieder so entscheiden, ich würde mich immer wieder für Sarah entscheiden."
Ein unterdrücktes Schluchzen ließ ihre Schultern erzittern und es brach Steve das Herz, einen anderen Menschen so leiden zu sehen. Er überwand den Abstand zwischen ihnen, schloss Rebecca ohne weiter darüber nachzudenken in seine Arme. Manchmal hatte er sich gewünscht, das Gleiche bei Bucky zu tun. Ihn einfach still zu umarmen, für ihn da zu sein, wenn Worte allein keine Linderung verschaffen konnten. Es tat gut Rebecca festzuhalten und in diesem Moment hätte Steve alles gegeben, um ihr auch nur einen Teil jener ungeheuerlichen Schuldgefühle zu nehmen, die sie wohl schon ihr ganzes Leben mit sich herumschleppte.
Unbestimmte Zeit standen sie einfach nur da. Sie still weinend, er unfähig die richtigen Worte zu finden.
Es war nicht an ihm, ihr für etwas zu verzeihen, an dem sie seiner Meinung nach keine Schuld trug. Bucky sollte an seiner Statt hier sein, sollte diese Frau in den Armen halten und ihr sagen, dass es nichts zu vergeben gab, dass Hydra sie mindestens so sehr gequält hatte wie ihn selbst, dass sie beide aufhören mussten in der Vergangenheit zu leben. Dort gab es nichts als böse Geister für sie, Alpträume, die sich tief in ihr Unterbewusstsein hineingefressen hatten und nur darauf warteten hervorzubrechen, sobald die Schwärze der Nacht sie umfing.
„Er wird mich dafür hassen", erklang auf einmal ihre tränenerstickte Stimme. „Wenn er es erfährt, wird Bucky mich hassen."
„Nein", Steve strich in ruhigen, gleichmäßigen Bewegungen über ihr langes Haar, das sich unter seinen Fingerspitzen kalt und seidig anfühlte. „Das wird er nicht."
Rebecca irrte sich. Bucky würde sie niemals hassen können, egal, was sie in der Vergangenheit auch getan hatte. Steve kannte den Mann, der weder James Barnes noch der Winter Soldier war, zwar nicht so gut wie er seinen einst besten Freund gekannt hatte, aber einer Sache war er sich sicher. Er liebte Rebecca. Irgendwie hatte sie es geschafft sich einen Weg in seine verschlossene, geschundene Seele zu bahnen. Und es war verdammt nochmal langsam an der Zeit, dass Buck ihr das selbst sagte, egal, ob sie ihn nun sehen wollte oder nicht, ob sie sich die Schuld an allen Übeln gab, die Hydra in die Welt gesetzt hatte, oder ob sie sich einreden wollte, dass der Mann, der ohne zu zögern sein Leben für sie aufs Spiel gesetzt hatte, sie von einem Moment auf den anderen würde hassen können. Diese Aussprache war längst überfällig! Und wenn Steve nicht völlig danebenlag, dann war die Telepathin mindestens genauso vernarrt in seinen schweigsamen Freund wie es umgekehrt der Fall war.
Ja, es war wirklich höchste Zeit, dass die Beiden miteinander redeten, dass sie sich endlich eingestanden, was doch jeder Blinde erkennen konnte, sobald sie zusammen in einem Raum waren.
Nach einer Weile löste Rebecca sich von ihm, rieb sich in einem Anflug von Trotz die letzten Tränen aus den Augen und starrte dann betreten auf ihre nackten Füße. Es war ihr wohl unangenehm sich so verletzlich vor ihm zu zeigen. Die Telepathin war stets so bemüht nach außen hin taff zu wirken, dabei genügte nur ein einziges Wort, um diese mühevoll errichtete Fassade zum Einstürzen zu bringen. Rebecca Goldstein war eine verletzliche junge Frau, auch wenn sie alles daran setze, um ihre Mitmenschen vom Gegenteil zu überzeugen. Und genau dieser Charakterzug erinnerte Steve an einen jungen, kränklichen Mann aus Brooklyn, der sich nichts Anderes gewünscht hatte, als in die Army einzutreten, um für sein Heimatland zu kämpfen.
„Hier steh ich mitten in der Nacht mit einem Nationalhelden und heule ihm das T-Shirt voll."
Ihr Versuch, die unangenehme Situation mit einem bitteren Scherz zu überspielen, misslang gründlich, doch Steve war erleichtert, dass Rebecca sich wieder einigermaßen gefangen hatte. Vielleicht war es genau das gewesen, was sie gebraucht hatte. Vielleicht war es einfacher, sich in den Armen eines mehr oder minder Fremden fallen zu lassen, all die Tränen zu vergießen, die sie sich in der Gegenwart der Anderen nicht zugestehen wollte.
„Ich könnte nun doch so einen White Russian vertragen", versuchte Steve die einsetzende Stille nun seinerseits mit einem lockeren Spruch zu durchbrechen.
„Big Lebowski-Style?"
Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, doch aus Rebeccas Augen sprach unendliche Dankbarkeit.
„Big Lebowski-Style", bestätigte Steve schmunzelnd, auch wenn er keinen blassen Schimmer hatte, worauf genau er sich da gerade einließ.
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