Kapitel 51: Sibirien

„Du hast mir nie erzählt, woher dieser Hass auf den Winter Soldier kommt."

Nicolaj Seizews Blick glitt über die letzten bewaldeten Ausläufer der Karpaten, die sich in das Hügelland unter ihnen erstreckten. Der grüne Teppich wurde nur vereinzelt von Flüssen unterbrochen, die sich wie blaue Bänder durch die weiten Täler schlängelten, in denen sich seit hunderten von Jahren keine größeren menschlichen Behausungen angesiedelt hatten. Es war schon einige Zeit her, seit er in diesen abgelegenen Teil Europas gereist war, in dem die Zeit seit dem Kalten Krieg stillgestanden zu sein schien.

Sokovia.

Ein Land, zerrüttet von einem nicht enden wollenden Bürgerkrieg, gesteuert von einem korrupten Politikerpack, das einen Scheiß auf Menschenrechte und Meinungsfreiheit gab und damit zur idealen Brutstätte für ihre wunderbare Organisation geworden war, zu einem perfekten Rückzugsort, um neue Kräfte zu mobilisieren.

Sokovia. Hydras letzte große Bastion.

Unentdeckt von den Augen der Welt hatten sie sich hier unter dem Deckmantel einer S.H.I.E.L.D.-Friedensmission eingenistet. Weithin sichtbar thronte über der Hauptstadt Novigrad die Jahrhunderte alte Burg eines längst untergegangenen Adelsgeschlechts und beherbergte nun die geheimen Labore ihres neuen Hydra-Anführers Baron Wolfgang von Strucker. Nicht mehr lange und das Gemäuer würde in Sichtweite kommen, doch wie bei einem Eisberg lag der Großteil der Basis unterhalb der Oberfläche und so erstreckte sich im Verborgenen ein weitverzweigtes Bunkernetz, gegen das ihr vorheriger Stützpunkt nahe Washington wie ein mickriger Fuchsbau wirkte.

Seizew wandte sich vom Fenster des Militärjets ab. In Brock Rumlows Visage war ein bösartiges Grinsen gepflastert, als dieser ihn mit seinen dunklen Augen studierte und seine Reaktion abwartete. In den vergangenen Stunden hatten sich die beiden Männer mehr oder weniger schweigend im Flugzeug gegenüber gesessen, schließlich war zwischen ihnen alles gesagt, was es vor ihrer Ankunft zu besprechen gab. Neben Rumlow hatte Dr. Schedler im Flieger Platz genommen, wobei der Wissenschaftler aus für ihn selbst unerfindlichen Gründen ganz erpicht darauf gewesen war, sie auf dieser Reise zu begleiten. Mehrmals hatte er etwas von Dr. List gefaselt, aber Seizew hatte nur mit halben Ohr zugehört, denn im Grunde war es ihm doch scheißegal, warum das Doktorchen so scharf auf seine Bildungsreise nach Sokovia war.

Reise, war das überhaupt die richtige Bezeichnung für diese überhastete Unternehmung? Der Jet war schließlich auf Geheiß des Barons in die Staaten entsandt worden, um seinen ranghöchsten Offizier jenseits des Atlantiks persönlich in das osteuropäische Land zu transportieren.

Seizew wusste es besser. Das hier war keine Reise, das war Rumlows verflucht langer Weg zum Schafott, zumindest wenn es nach dem miesen Gefühl ging, das White Death schon bei ihrer letzten Lagebesprechung beschlichen und seither nicht mehr losgelassen hatte. Nicht einmal die hübsche kleine Ärztin, deren Name ihm schon wieder entfallen war, als er am frühen Morgen aus ihrem Zelt geklettert war, hatte ihn von der wachsenden Unruhe ablenken können, die sich zusehends in ihm breitmachte. Noch in der Nacht ihrer Niederlage hatte der Kommandant ihm eröffnet, dass er nach Sokovia beordert worden war und er ihn dort an seiner Seite wünschte. Seizew hatte sich dem Befehl nicht widersetzen wollen, allerdings verspürte er genauso wenig Lust für Fehler, die eindeutig auf Rumlows Konto gingen, den Kopf hinzuhalten, um am Ende womöglich gemeinsam mit diesem ins Gras zu beißen. Andererseits war Neugierde schon immer eine seiner Schwächen gewesen und so brannte er förmlich darauf, mit eigenen Augen zu sehen, was Hydra in der Zwischenzeit in Sokovia erreicht hatte.

Als Seizew bemerkte, dass Rumlow ihn immer noch herausfordernd angrinste, während seine eigenen Gedanken kurzzeitig auf Wanderschaft gegangen waren, überspielte er die beginnende Irritation mit einer bissigen Gegenfrage.

„Wird das jetzt beschissener Smalltalk?"

Der Kommandant zuckte als Antwort mit den Schultern.

„Es interessiert mich, das ist alles."

Mit einem gelangweilten Seufzer streckte Seizew seine Beine vor sich aus, ignorierte dabei seinen protestierenden Körper. Bewegungen verursachten ihm nach wie vor Schmerzen. Zwei Tage waren seit dem Aufeinandertreffen mit den Avengers vergangen und er hatte sich immer noch nicht von seinen Verletzungen erholt. Vor allem der geprellte Rippenbogen sowie die Pfeilwunde in seinem Oberkörper machten ihm zu schaffen, aber wenigstens war seine Nase doch nicht gebrochen, wie zunächst vermutet, und so war die Schwellung in seinem Gesicht zügig abgeklungen. Mittlerweile sah er bis auf ein paar Blessuren sogar wieder wie ein menschliches Wesen aus und er war sich natürlich im Klaren darüber, dass er dies seiner beachtlichen Regenerationsfähigkeit zu verdanken hatte, die eine nette Begleiterscheinung des Hydra-Serums war und jene gewöhnlicher Menschen bei Weitem in den Schatten stellte. Manchmal hatte er sogar den Eindruck, als könne er seine Hautzellen dabei beobachten, wie sie zuvor Zentimeter tiefe Wunden nach und nach innerhalb von ein paar Tagen verschlossen, sodass am Ende nicht einmal eine Narbe zurückblieb.

In weniger als einer Woche würde er wieder ganz der Alte sein, aber dieses Wissen allein genügte ihm nicht, wo ihn doch jeder Stich in seinem Brustkorb, jedes schmerzhafte Ziehen daran erinnerte, dass er versagt hatte, dass er Barnes und das verfluchte Avengerspack nicht hatte aufhalten können.

„Du kennst den Soldier wohl besser als jeder andere von uns", bohrte Rumlow unbeeindruckt nach. „Wie viele Einsätze habt ihr in den vergangenen Jahren zusammen absolviert?"

Sein Gegenüber genoss das kleine Fragespielchen zu sehr, wenn es nach Seizews Geschmack ging. Zumindest deutete das gehässige Lachen, mit dem er sich zu ihm nach vorne beugte darauf hin, dass es Rumlow eindeutig gefiel, auf seiner ganz persönlichen Fehde mit dem Soldier herumzuhacken. Er ignorierte die Provokation, sah stattdessen erneut durch das Fenster auf das weite Grün unter ihnen. Bald schon würden sie zum Landeanflug ansetzen und wenn der Kommandant sich dann erst einmal persönlich vor dem Baron für sein Versagen verantworten durfte, würde ihm sein dämliches Lachen wohl ziemlich schnell vergehen. Seltsamerweise schien Besagter sich seiner Sache mehr als sicher zu sein, ja, Rumlow machte einen fast schon unbekümmerten Eindruck.

Und das wiederum weckte Seizews Misstrauen, denn Brock Rumlow hatte absolut keinen Grund zum Scherzen, immerhin erwartete ihn der gerechte Zorn ihres Anführers, ob des Verlusts der Telepathin und der wiederholten Niederlage gegen die Avengers, die Hydra eine ganze Basis und einige gute Männer gekostet hatte. Die offen zur Schau gestellte Gelassenheit des Mannes sprach jedoch von einer völlig deplatzierten Selbstsicherheit in Anbetracht der Tatsache, dass bei Hydra jeder austauschbar war - angefangen beim einfachen Agenten bis hin zum ranghohen Offizier.

Irgendetwas war da im Busch und Seizew hasste es, wenn er in die Vorgänge, die sich um ihn herum abspielten, keinen tieferen Einblick hatte.

Nichtsdestotrotz war er ein guter Beobachter und so war ihm nicht entgangen, dass Rumlow in den letzten beiden Tagen verdächtig häufig mit Sokovia kommuniziert hatte. Er selbst war bei diesen privaten Unterredungen natürlich nicht zugegen gewesen und konnte deshalb nicht einschätzen, was genau Rumlow im Schilde führte. Seine Instinkte verrieten ihm jedoch, dass hier etwas gewaltig stank und es schmeckte ihm gar nicht, dass der Mistkerl ihn nicht zum ersten Mal bei seinen Planungen außen vor ließ. Das Narbengesicht war clever, das musste man ihm zugestehen, und es zeugte von taktischem Geschick sich nicht von jedermann, ja noch nicht einmal seinem Verbündeten und Kampfgefährten, in die Karten schauen zu lassen.

„Liegt es vielleicht daran, was damals in Sibirien passiert ist? Es gibt da so einige Gerüchte und ich hab mir sagen lassen, dass im Anschluss sogar der Kopf eines ranghohen Hydra-Offiziers gerollt sei."

White Death verzog keine Miene, ließ sich nicht anmerken, dass sein Hydra-Kamerad mit der anhaltenden Stichelei voll ins Schwarze getroffen hatte. Ja, er hasste Barnes, diesen gottverdammten Hurensohn, den Zola und Konsorten zu dieser Kampfmaschine namens Winter Soldier umprogrammiert hatten. Vom ersten Moment an hatte er ihn verabscheut. Und selbstverständlich lag es daran, was vor mittlerweile mehr als neun Jahren in Sibirien passiert war. Dort hatte alles angefangen, dort war er Barnes zum ersten Mal begegnet, dort hatte er gelernt, den Amerikaner zu hassen.

„Er war mir im Weg", versuchte Seizew möglichst lapidar zu klingen. „Der Soldier war mir schon immer im Weg und ich hab was gegen Hindernisse."

Sein Gegenüber begnügte sich offensichtlich mit dieser kryptischen Antwort, denn Seizews düstere Miene machte wohl allzu deutlich, dass dieser dazu nichts weiter sagen würde. So lehnte Rumlow sich mit einem typischen schiefen Grinsen im Sitz zurück und hielt endlich wieder seine hässliche Fresse. Einzig das Dröhnen der Turbinen erfüllte die einsetzende Stille.

Seizews Gedanken aber kehrten in diesem Moment wie so oft zu jenem Tag zurück, an dem der Winter Soldier in sein Leben getreten war. Er hätte es schon damals beenden können, aber er war jung gewesen, jung und überheblich.

+++

„Genosse Seizew, es ist soweit."

Oberst Wolkow stand mit den übertrieben gespreizten Beinen eines einstigen Militärangehörigen vor ihm und ließ seinen stets kritischen Blick über ihn gleiten, wie ein Lehrer, der seinen Schüler ein letztes Mal vor einer bevorstehenden Prüfung begutachtete. Seizew kannte den Ausdruck in den dunklen Augen des älteren Mannes nur zu gut, überhaupt war ihm der Leiter der Hydra-Basis mitten im verschneiten Nirgendwo Sibiriens in den vergangenen Monaten ein allgegenwärtiger, unermüdlicher Mentor geworden und er war einer der wenigen Menschen, für den der junge Mann so etwas wie Respekt empfand. Wolkow war im russischen Militär groß geworden, war über Jahrzehnte hinweg in den Rängen der Sowjetunion aufgestiegen und so war der brilliante Stratege auch schnell in den Fokus von Hydra geraten. Er hatte das zweite Winter-Soldier-Programm federführend vorangetrieben, hatte die besten Wissenschaftler ihrer Organisation um sich geschart, denn er war zwar ein geachtetes Hydra-Mitglied, doch tief in seinem Herzen war er zuallererst immer noch Russe. Und es war ihm laut eigener Aussage schon lange ein Dorn im Auge, dass ausgerechnet ein Amerikaner seit Jahrzehnten an vorderster Front für die Ziele der Hydra kämpfte.

„Machen Sie mir keine Schande, Genosse Seizew, wenn Sie dort hinausgehen", fuhr Wolkow mit unbewegter Miene fort. „Sie wissen, was von Ihnen verlangt wird. Sie wissen, wer Sie dort erwartet. Wir setzen große Hoffnungen in Sie, also enttäuschen Sie uns nicht."

Seizew konnte sich ein arrogantes Grinsen nicht verkneifen, als er an dem Mann vorbeischritt. Bisher war alles zur vollsten Zufriedenheit seiner Vorgesetzten verlaufen. Die gestrige Schießübung hatte er mit Bravour in Rekordzeit gemeistert und nach der stolzen Haltung des Obersts zu urteilen, als dieser ihm die Ergebnisse des Tests mitgeteilt hatte, war es ihm sogar gelungen seinen Kontrahenten in dieser Disziplin auszustechen. Alles andere hätte ihn selbst auch gewundert, immerhin war er seit seiner Jugend ein begnadeter Jäger und die Liebe zu großkalibrigen Waffen hatte er quasi mit der Muttermilch in sich aufgesaugt. Natürlich war er der bessere Scharfschütze, er hatte nie daran gezweifelt, schließlich war er bei den Besten in die Lehre gegangen, hatte sich in unzähligen Einsätze wieder und wieder bewiesen, bevor Hydra ihn für ihre Sache gewinnen konnte. Das Serum hatte seine angeborenen Instinkte und Reflexe zusätzlich verstärkt, seine Augen waren noch schärfer geworden, seine Konzentrationsfähigkeit weit überdurchschnittlich.

„Ich werde Sie nicht enttäuschen, Oberst Wolkow! Lehnen Sie sich einfach zurück und genießen Sie zusammen mit unseren verehrten Gästen die Show."

„Du solltest deinen Gegner nicht unterschätzen, Junge."

Wolkows Hand landete bei diesen mahnenden Worten schwer auf seiner Schulter. Seizews Blick wanderte, etwas überrascht von der Berührung, zwischen der Hand und den Augen seines Gegenübers hin und her und er fragte sich, ob er sich den fast schon besorgten Unterton in der Stimme seines Vorgesetzten nur eingebildet hatte. Alleine die plötzliche Vertrautheit vonseiten seines strengen und zumeist unterkühlten Mentors führte dazu, dass er kurz innehielt. Die Vorstellung, dass seine Mitmenschen sich um sein Wohlergehen kümmerten, war für ihn mehr als befremdlich. Außerdem war es ungewohnt, dass jemand seine Gegenwart überhaupt wertschätzte. Von Kindesbeinen an hatte er eine gänzlich andere Erfahrung machen müssen. Wohl deshalb war ihm Anerkennung nie wichtig gewesen und er hatte stets einen Scheiß darauf gegeben, was andere von ihm dachten. Er war daran gewöhnt, auf sich alleine gestellt zu sein. Aber mit Oberst Wolkow verhielt es sich anders. Irgendwie hatte es der verfluchte Bastard geschafft, dass Seizew fast schon so etwas wie Sympathie für ihn hegte, dass er nicht nur sich selbst etwas beweisen wollte, sondern auch dem alten Haudegen. Und dieser allesbeherrschende Ehrgeiz hatte ihn im vergangenen Jahr zu immer weiteren Höchstleistungen angespornt.

„Ich werde den Soldier nicht unterschätzen, Oberst Wolkow."

Er machte eine bedeutungsvolle Pause, bevor er weitersprach.

„Ich werde Pierce' Marionette in den Boden stampfen, bis nur noch der Metallarm von dem beschissenen Yankee übrig ist."

Ein dünnes Lächeln zeichnete sich in dem faltigen Gesicht von Oberst Wolkow ab. Das Adrenalin pumpte aber zeitgleich so heftig durch Seizews Körper, dass er sich auf kaum etwas Anderes konzentrieren konnte, als die bevorstehende Konfrontation und so nahm er nur beiläufig wahr, wie Wolkow auf seinen Rücken klopfte und ihn dann ohne ein weiteres Wort verließ. Er blieb allein in dem kleinen Vorraum zurück, den nur eine Stahltür von dem dahinterliegenden größeren Trainingsraum abtrennte.

Die Regeln für den heutigen Kampf waren simpel. Keine Waffen, keine Zurückhaltung.

Eigens aus Washington waren die hohen Tiere angereist, um diesem bis dato einmaligen Test in der entlegenen Hydra-Basis beizuwohnen. In dem Aufeinandertreffen ging es um weitaus mehr, als nur den Kampf zwischen zwei Männern, das war allen Beteiligten klar. Es war das entscheidende Kräftemessen zwischen den Ewig-Gestrigen und den Zukunftsorientierten, zwischen dem amerikanischen und dem russischen Hydra-Ableger, zwischen Männern wie dem gerissenen Alexander Pierce und dem pragmatischen Ilja Wolkow.

Für Seizew jedoch ging es dabei aber zuerst einmal um seinen persönlichen Ehrgeiz.

Er hatte als Einziger die Injektion des neuartigen Hydra-Serums vor knapp einem Jahr überlebt. Damals war ihm mitgeteilt worden, dass es sich dabei um eine Weiterentwicklung auf Grundlage des sogenannten Super-Soldaten-Serums handle, das Hydra in den 90er Jahren in ihren Besitz gebracht hatte. Mehr als ein Jahrzehnt an Forschung und zahllosen toten Probanden war danach notwendig gewesen, um eine verbesserte Formel mit geringerer Letalitätsrate zu kreieren. Die anschließenden Versuchsreihen hatte dennoch nur einer der Freiwilligen überstanden. Dutzende Männer waren wie Laborratten qualvoll an den Nebenwirkungen der Substanz eingegangen und auch Seizew hätte das Teufelszeug beinahe umgebracht. Aber wie durch ein Wunder war er nicht draufgegangen. Stattdessen hatte ihn das Serum stark werden lassen, so stark, dass seine bisherigen Trainingspartner keinerlei Herausforderung mehr für ihn darstellten, so stark, dass Oberst Wolkow ihm zutraute endlich diesen amerikanischen Abschaum zu ersetzen, der schon viel zu lange das einstige Symbol ihrer großartigen und stolzen Nation auf seiner metallischen Armprothese getragen hatte.

Es war an der Zeit für einen neuen Winter Soldier, einen, der wusste, wer er war und was er tat, den man nicht vor und nach jedem Einsatz in einem Apparat festschnallen musste, um die kümmerlichen Reste seines einstigen Selbst zu Matsch zu verarbeiten. Seizew würde sich höchstpersönlich darum kümmern, dass nichts mehr von dem Kerl übrig blieb, an dem die Hydra-Wissenschaftler herumexperimentieren konnten, denn wenn seine Gehirnmasse erst einmal auf dem Boden verteilt war, würden selbst Zolas Zöglinge kein weiteres Mal Pierce' Lieblingsspielzeug von den Toten auferstehen lassen können.

Und dann war er endlich dort angelangt, wo er verdammt nochmal hingehörte. Dann war er Hydras unangefochtene Nummer Eins.

Mit einem Knirschen öffnete sich schließlich die Tür. Seizew atmete tief ein und aus, bevor er sich in Bewegung setzte und in den großen quadratischen Raum trat. Der Ort war ihm vertraut. Hohe Betonwände, mehrere Ein- und Ausgänge und an der Stirnseite in rund drei Metern Höhe eine Fensterfront, hinter der sich eine Art Empore verbarg. Dort hatte sich die gesamte Hydra-Führungsetage zusammengefunden, um wie einst die römischen Kaiser in der Arena einem blutigen Gladiatorenkampf beizuwohnen. Oberst Wolkow war unschwer an seiner Uniform zu erkennen. Neben ihm saß ein ungefähr gleichaltriger Typ mit hellgefärbten Haaren in einem dunklen Anzug, der kein anderer als Alexander Pierce war, das amtierende Oberhaupt ihrer Organisation. Die Zuschauer waren jedoch schnell vergessen, als eine weitere Tür aufging und zwei Bewaffnete einen Mann ins Innere eskortierten.

Vor ihm stand der Winter Soldier.

Und Seizew war enttäuscht. Er kannte den Mann, der so etwas wie eine Legende in den Reihen der Hydra-Kämpfer war, zwar von Fotografien und Filmaufnahmen, aber irgendwie hatte er sich von ihrem ersten Zusammentreffen mehr erhofft. Er hatte sich von ihm mehr erhofft.

Stattdessen stand ein durchschnittlich großer, zugegeben athletisch gebauter Mann in schwarzer Kampfmontur mit wirrem kinnlangen Haar vor ihm und starrte ihn aus leblosen Augen an. Das einzig wirklich Auffällige an dem Soldaten war sein linker Metallarm, der von keinerlei Stoff verdeckt war und auf dem nach wie vor der Rote Stern prangte. Es war eine Beleidigung für jeden Russen, dass dieser amerikanische Dreckskerl mit dem Symbol der kommunistischen Weltanschauung herumstolzierte und er fragte sich, wer bei Hydra überhaupt für diesen beschissenen Einfall verantwortlich gewesen war.

Je länger er sein Gegenüber musterte, desto mehr musste Seizew sich aber wohl oder übel eingestehen, dass es tatsächlich eine gewisse äußerliche Ähnlichkeit zwischen ihnen gab. Wolkow hatte ihn bereits auf diesen Umstand hingewiesen und wenn er sein eigenes dunkelbraunes Haar ebenfalls länger tragen würde, statt es in regelmäßigen Abständen auf die gewohnte militärische Kürze zu stutzen, dann hätte man sie womöglich für Brüder halten können. Allein der Gedanke, dass ihn mehr mit diesem amerikanischen Wichser verbinden sollte als Konkurrenz und Feindschaft, war so abwegig und lachhaft, dass Seizew ein verächtliches Schnauben entfuhr, während er in abwartender Haltung sein Gewicht von einem Bein auf das Andere verlagerte.

Ein Knacken wie von einem Funkgerät durchschnitt den stillen Moment und plötzlich war eine Stimme über Lautsprecher in dem Raum zu hören.

„Genosse Seizew, beginnen Sie mit der Demonstration!"

Ein letztes Mal wanderten seine Augen zu Oberst Wolkow, der kerzengerade neben Pierce saß und seinen Blick mit einem knappen Nicken quittierte. Das war alles, worauf er gewartet hatte und keine Sekunde später begann Seizew seinen Gegner vorsichtig zu umkreisen. Der Soldier folgte jeder seiner Bewegungen, ließ ihn keinen Wimpernschlag aus den Augen. Sicherlich hatte man ihn entsprechend programmiert, bevor er sich in diesem Zweikampf mit einem potenziellen Nachfolger messen sollte. Die Arme hingen beinahe leblos an den Seiten des Mannes, nur das durchdringende Blau seiner ausdrucklosen Augen verriet, dass er sich sehr wohl seiner Lage bewusst war.

Für den Bruchteil einer Sekunde konnte Seizew eine Veränderung im Gesicht des Soldaten ausmachen und im selben Moment stürzte dieser sich mit der tödlichen Präzession einer Raubkatze auf ihn. Gerade noch rechtzeitig wich Seizew der Metallfaust aus, die mit unvorstellbarer Wucht auf ihn zuschoss. Er kam auf seinem linken Knie auf, nutzte den Schwung, um seinerseits mit seinem rechten Fuß gegen die Kniescheibe seines Gegners zu treten. Offensichtlich war der Soldier langsamere Kontrahenten gewohnt, denn tatsächlich landete Seizew einen Treffer. Ein unterdrückter Schmerzensschrei entwich dem Soldaten, doch schon im nächsten Moment musste Seizew sich auf die Seite rollen. Er konnte den Luftzug der metallischen Faust spüren, als diese erneut ihr Ziel nur knapp verfehlte.

Um jeden Preis musste er vermeiden, einen Schlag von dieser verdammten Armprothese im Kopfbereich abzubekommen, denn davon würde er sich mit Sicherheit nicht so schnell erholen. Flink wie ein Wiesel war Seizew wieder auf den Beinen, doch dieses Mal kam ihm der Winter Soldier zuvor. Geradeso konnte er mit seinen überkreuzten Unterarmen einen weiteren Schlag abblocken, bemerkte jedoch seinen Fehler, als sich das Knie seines Angreifers schmerzhaft in seine Magengrube bohrte und sämtliche Luft aus seinem Brustkorb presste. Seizew verpasste ihm als Antwort einen Kinnhaken, der sich gewaschen hatte, und die beiden Männer taumelten synchron mehrere Schritte rückwärts.

Nun brannte der Hass auch in den Augen des Winter Soldiers und als gäbe es eine stille Übereinkunft zwischen ihnen, sprangen sie im selben Augenblick auf einander zu. Die nachfolgenden Ereignisse spielten sich in einem derart rasanten Tempo ab, dass ihre Zuschauer wohl kaum den einzelnen Schlagabfolgen und Tritten folgen konnten, mit denen sich Seizew und sein Gegner traktierten. Dabei konzentrierte sich White Death vor allem darauf, sich den verfluchten Metallarm vom Leib zu halten, denn eine einzige Lücke in seiner Deckung würde seinem Angreifer genügen, um einen platzierten Schlag anzubringen, der für ihn fatale Folgen haben könnte. Seine Prothese verschaffte dem Soldier einen Vorteil im Kampf, aber während er sich unter den kraftvollen Schlägen wieder und wieder wegduckte, registrierte Seizew, dass der Metallarm zugleich auch seine Achillessehne war, denn er machte den Soldaten etwas langsamer und behäbiger, vor allem wenn er den Arm nutzte, um einen von Seizew Tritten abzublocken.

Er wollte also versuchen den Kampf in die Länge zu ziehen, um seinen Gegner mürbe zu machen. Müdigkeit führte schließlich zu Unkonzentriertheit und die wiederum war der ideale Nährboden, um Fehlentscheidungen zu treffen und unachtsam zu werden. Dementsprechend beschränkte sich Seizew darauf, den Angriffen des Soldiers auszuweichen und die Schläge und Tritte soweit möglich zu parieren, wobei er seinerseits versuchte sich nicht allzu sehr zu verausgaben und nie die volle Kraft in seine Angriffe zu legen. Er war nun mal keine abgerichtete Bestie wie der Winter Soldier, sondern ein Gegner, der Kämpfe nicht durch bloße Muskelkraft zu seinen Gunsten entschied, sondern über taktisches Geschick und cleveres Agieren.

Und die Zeit arbeitete ganz eindeutig für ihn, wie Seizew nach einer Weile voller Genugtuung feststellte. Die Angriffe des Soldaten hatten an Intensität verloren, und auch wenn er selbst einige schmerzhafte Schläge hatte einstecken müssen, war er sich ziemlich sicher, dass nun seine Stunde geschlagen hatte. Also ging Seizew blitzschnell in die Offensive. Mit einem geschickten Hebelgriff brachte er den Mann schließlich aus der Balance und rang ihn zu Boden. Ein gezielter und harter Schlag gegen die Schläfe seines Opponenten genügte dann, um den berühmten Winter Soldier in die vorübergehende Bewusstlosigkeit zu katapultieren. Mit einem Siegesschrei auf den Lippen sprang Seizew auf die Beine, umkreiste wie ein Wolf im Blutrausch sein Opfer, um wieder und wieder brutal gegen den regungslosen Leib zu treten.

Hinter der Glasscheibe spielten sich regelrechte Tumulte ab und er konnte aus dem Augenwinkel sehen, wie Wolkow ebenfalls aufgesprungen war, um irgendetwas zu brüllen, was in dem abgeriegelten Raum natürlich nicht zu hören war. Seizew wollte seinen Triumph jedoch noch ein Wenig länger auskosten, wollte sichergehen, dass sich der Körper des Soldaten auch dann noch an seine Niederlage erinnerte, wenn sein manipulierter Verstand den Kampf schon längst vergessen hatte. Hätte man ihm ein Messer gegeben, hätte er dieses mit Freude in den immer noch leblosen Kerl gerammt, doch so mussten eben seine schweren Kampfstiefel herhalten, um seine Aggressionen an dem Wehrlosen auszulassen.

Das sollte also der legendäre Winter Soldier sein? Die Faust Hydras, wie Pierce ihn immer so gerne nannte?

Er hatte sich mehr erwartet von Hydras geheimem Attentäter, so viel mehr, und wenn seine Vorgesetzten schlau waren, würden sie den dementen Soldaten nach dieser Misere für immer in seinen Tiefkühlschlaf schicken. Seine Zeit war abgelaufen. Künftig würde Seizew die direkten Befehle der Führungsriege entgegennehmen. Endlich würden sich all die Opfer und Entbehrungen auszahlen, die er auf sich genommen hatte, um an genau den Punkt zu gelangen, an dem er sich jetzt befand.

Zu seinen Füßen lag der verfickte Winter Soldier und genau dorthin gehörte der Bastard.

So sehr war Seizew in seinem eigenen Siegestaumel gefangen, dass er nicht bemerkte, wie die metallischen Finger verräterisch zuckten. Erst als sich urplötzlich eine Hand um seinen Knöchel schloss und ihn mit brutaler Wucht zu Fall brachte, wurde Seizew die Tragweite seiner eigenen Nachlässigkeit bewusst. Aber es war zu spät, um seine Dummheit und Arroganz zu beklagen, zu spät, um seine Arme schützend hochzureißen, denn der verfluchte Soldier hatte ihn am Hals erwischt und presste mit seiner kybernetischen Hand das Leben aus ihm heraus, während seine andere Faust abwechselnd sein Gesicht und seinen Oberkörper bearbeitete.

Einige Tage später erwachte Seizew auf der Krankenstation aus seinem künstlichen Koma. Wie er alsbald erfuhr, hatte man in einer Notoperation sein Leben gerettet, denn eine gebrochene Rippe hatte sich gefährlich einem Lungenflügel genähert und gegen eine punktierte Lunge half nicht einmal das Serum, das in seinen Blutbahnen zirkulierte. In einer weiteren Operation hatte man sein Gesicht wiederhergestellt, denn dieses war ebenfalls schwer in Mitleidenschaft gezogen worden und die Ärzte ließen ihn wissen, dass man die Gelegenheit genutzt hatte, um ein paar kleinere Optimierungen vorzunehmen.

Seizew verstand zunächst nicht, was die Wichser in den weißen Kitteln ihm damit sagen wollten. Er wusste nur, dass er abartige Schmerzen hatte und dass er verloren hatte. Er hatte sich den sicheren Sieg von diesem verdammten Amerikaner aus den Händen reißen lassen, weil ihn seine Arroganz leichtsinnig gemacht hatte. Am Ende war es nicht der Winter Soldier gewesen, der ihn besiegt hatte, sondern seine eigene Überheblichkeit.

Weitere Tage zogen ins Land und als er sich dann das erste Mal im Spiegel gegenüberstand, konnte Seizew nicht glauben, was seine Augen ihm doch eindeutig zeigten. Sein Gesicht hatte sich tatsächlich verändert, die Form seiner Nase, selbst die seines Mundes und seiner Kinnpartie. Er hatte nun keine zufällige Ähnlichkeit mehr mit diesem verfluchten Soldaten, nein, er sah auf einmal aus wie ein beschissenes Abziehbildchen dieses Hurensohns. Sein Wutanfall war so heftig, dass man ihn anschließend für mehrere Stunden an sein Bett fixieren und bewachen musste, denn er schrie immer wieder, dass er jeden Einzelnen der Ärzte erwürgen wollte, dem er seine überarbeitete Visage zu verdanken hatte.

Irgendwann tauchte ein Hydra-Agent auf, der ihn über die neuesten Entwicklungen in Kenntnis setzte. Barnes blieb weiterhin als Winter Soldier aktiv, denn der Test hatte scheinbar bewiesen, dass er nach wie vor die effektivere Variante darstellte. Er selbst sollte fortan als Backup fungieren und den eigentlichen Attentäter bei seinen Einsätzen unterstützen oder ersetzen, falls dieser wieder einmal unpässlich war. Ein weiterer Tobsuchtsanfall mit den wüstesten Flüchen seiner Muttersprache war die Folge und Seizew forderte anschließend, als er wieder halbwegs Herr seiner Sinne war, mit Oberst Wolkow zu sprechen. Seinem wütenden Drängen wich man jedoch immer wieder aus.

Später erfuhr Seizew, dass sein alter Mentor sich noch am Abend seiner Niederlage eine Kugel in den Kopf gejagt hatte.

Offensichtlich war Oberst Wolkow ein noch schlechterer Verlierer als Seizew und der Mann war selbst in seinem Freitod genauso kompromisslos, wie er ihn während ihrer gemeinsamen Zeit kennengelernt hatte. Wahrscheinlich war er durch den Selbstmord aber nur der Liquidierung zuvorgekommen, die Pierce für seinen ärgsten Konkurrenten sicherlich bereits im Stillen angedacht hatte. Neben seiner persönlichen Schmach und Demütigung sollte es vor allem Wolkows Tod sein, der Seizew jene acht lange Jahre verfolgte, die er im Schatten des Winter Soldiers zubringen musste und in denen sein Hass auf James Barnes ins Unermesslich wachsen würde. Er hatte sein Gesicht im doppelten Sinne verloren, war fortan dazu verdammt jeden Tag in das Spiegelbild seines verhassten Konkurrenten zu blicken.

Doch was noch viel schwerer wog, Seizew hatte den einzigen Menschen verloren, der ihm etwas bedeutet hatte, der fast so etwas wie ein väterlicher Freund für ihn geworden war. Und mit seinem Mentor war schließlich auch der letzte Fetzen Menschlichkeit aus Nicolaj Seizews Leben verschwunden.

+++

Die holprige Landung des Jets riss ihn aus seinen Gedanken. Es passierte Seizew in letzter Zeit immer häufiger, dass er in der Vergangenheit wandelte und ihm gefielen diese Tendenzen nicht im Geringsten.

Dabei war es noch gar nicht so lange her, da hätte er fast seine langersehnte Rache bekommen. Und nun da er wieder wusste, wie süß der Sieg über den Soldier schmeckte, würde er nicht ruhen, bis Barnes endlich wieder vor ihm am Boden lag und um sein eigenes Leben und das seines jämmerlichen Freundes winselte. Dieses Mal würde er ihn leiden lassen, dieses Mal würde er sein Herz herausschneiden und es in seiner Faust langsam und genüsslich zerquetschen, um sicher zu gehen, dass der Dreckskerl nie wieder aufstehen würde. Aber zuvor sollte er dabei zusehen, wie er das Leben aus Captain America herauspresste, genauso wie der Soldier es damals mit ihm gemacht hatte. Und sie würden sich die Telepathin zurückholen, er würde sich Red Star zurückholen, das hatte er schon bei seinem Rückzug aus der Bunkeranlage geschworen. Barnes lag offensichtlich viel an der Kleinen und sein Triumph über den Winter Soldier würde umso vollkommener sein, wenn er ihm zuerst die Frau und dann das Leben nehmen würde.

Beschwingt von diesen Fantasien stieg Seizew nach dem Kommandanten aus dem Flieger und zog die klare Luft eines späten Septembernachmittags in Sokovia in seine Lunge.

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