Kapitel 5: Adamsstreet 219
Er atmete schwer, als er sich hinter dem schwarzen Wagen, der den Eingang zu der Seitenstraße blockierte, verschanzte. Hydra! Er hatte es sofort gespürt. Aber warum waren sie nicht hinter ihm her, sondern hinter ihr - Rebecca. Warum verfolgten sie eine harmlose Kellnerin? In seiner rechten Hand hielt er das Messer. Es war keines seiner Kampfmesser, doch in den Händen des Winter Soldiers wurde jeder beliebige Gegenstand zu einer tödlichen Waffe. Seine Muskeln waren angespannt, jede Faser seines Körpers wartet darauf loszuschlagen. Mit wenigen Schritten wäre er bei den Hydra-Agenten. Mit Sicherheit konnte er mehrere Angreifer ausschalten, bevor die übrigen das Feuer auf ihn eröffneten. Vielleicht konnte er sie auch alle beseitigen, das Momentum war auf seiner Seite. Und selbst, wenn er es nicht schaffte, sollten sie ihn doch erschießen! Was hatte er zu verlieren? Aber sie durften ihr nicht weh tun. Woher sein plötzlicher Beschützerinstinkt kam, konnte er sich nicht erklären, es war völlig absurd, doch es war ihm in diesem Augenblick vollkommen gleich, dass er mit einer Einmischung all seine früheren Bemühungen zunichtemachte.
Während Bucky noch auf den passenden Zeitpunkt wartete, ertönte das Kommando „Ziel außer Gefecht setzen". Er schnellte aus seinem Versteck hervor, bereit sein Messer mit tödlicher Präzession in die Kehle eines Angreifers zu versenken. Aber Bucky erstarrte in seiner Bewegung, als plötzlich sieben Schüsse gleichzeitig durch die Straße hallten. Die leblosen Körper der Hydra-Agenten sackten in sich zusammen. Hatten die Männer sich gerade selbst in den Kopf geschossen? Gleichzeitig? Becca war immer noch an die Wand gepresst, die Augen weit aufgerissen. Dann brach sie weinend zusammen. Ein lautes Schluchzen ließ ihren Körper erbeben. Erneut ertönte das Piepsen, das ihm schon zuvor aufgefallen war. Es erinnerte ihn an das Geräusch eines Peilsenders. Die Szene war so unwirklich. Vor Rebecca lagen die Leichen von sieben Hydra-Agenten. Sieben! Sie hatte sieben Angreifer ausgeschaltet, offensichtlich sogar ohne sich dabei zu bewegen. Wie zum Henker hatte sie das gemacht? Sie hob ihren Kopf leicht an, starrte auf die Toten. Bucky machte einen Schritt auf sie zu. Dieser Ort war nicht sicher. Sie war hier nicht sicher. Es konnte jederzeit Verstärkung eintreffen.
„Rebecca!"
Er versuchte seiner Stimme einen ruhigen Ton zu verleihen, aber sie zuckte dennoch zusammen. Ihr Kopf schoss in die Höhe. Ihr wilder Blick fixierte ihn.
„Du?"
Ungläubig formten ihre Lippen die Frage. Dann war sie auf ihren Beinen. Ihre Augen glichen blau glühenden Kohlen. Zu ihren Füßen ertönte wieder das Piepsen des Gerätes, von dem er sich mittlerweile sicher war, dass es der Ortung diente.
„Gehörst du zu denen? Hat Hydra dich geschickt?" Ihre Stimme bebte vor Wut.
„Nein."
Bucky ergriff eine am Boden liegende Pistole, während er sich ihr vorsichtig näherte. Keine gute Idee. Panik zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. Er ließ die Waffe schnell im Gürtel hinter seinem Rücken verschwinden. Langsam drohte er die Geduld zu verlieren.
„Wir haben keine Zeit! Es werden mehr kommen."
Er sprach Deutsch mit ihr. Schon wieder. Er wusste nicht warum. Vielleicht in der Hoffnung, dass der Klang einer vertrauten Sprache ihn weniger furchteinflößend erscheinen ließ. Er war nicht gut in so etwas. Warum hatte er sich nur eingemischt? Er war untergetaucht, ein gesuchter Mann. Das Letzte, was er geplant hatte, war in eine verdeckte Hydra-Aktion verwickelt zu werden. Wieder erklang der Signalton. Rebecca umklammerte zeitgleich ihren Arm. Ein unterdrückter Schrei formte sich auf ihren Lippen. Binnen eines Herzschlages war er bei ihr.
„Was ist das?"
Ihre Stimme überschlug sich beinahe. Sie war dermaßen in ihrer Hysterie gefangen, dass sie sich nicht einmal wehrte, als Bucky ihr den Trenchcoat beinahe vom Leib riss. Eilig schob er den Ärmel ihres Kleides nach oben. Das Symbol, das in Form eines Brandzeichens auf ihrem Arm prangte, kannte er nur zu gut – der rote Stern! Ihre Augen trafen sich. Sie zuckten beide zusammen, als wieder das Piepsen ertönte. Buckys Augen weiteten sich, als er bemerkte, dass wie als Antwort unter ihrer Haut ein rotes Licht aufblinkte.
„Ein Peilsender!"
„Oh Gott...", stöhnte Rebecca und begann hektisch mit ihren Fingern über die Stelle zu kratzen, als könnte sie sich dadurch befreien.
„Mach es weg! Mach es weg!"
Bucky sah von dem Messer in seiner Faust zu ihrem Arm und wieder zurück. Hydra hatte ihr wohl eine Art Sender implantiert. So hatten sie Rebecca gefunden. Welche andere Wahl blieb ihm? Wenn er den Sender nicht entfernte, war es nur eine Frage der Zeit, bis es hier vor Agenten nur so wimmelte. Er musste es jetzt tun. Sofort! Mit seinem Metallarm drückte er die völlig aufgelöste Frau an die Wand.
„Das wird wehtun! Versuch dich ruhig zu halten."
Sie nickte ihm unter Tränen zu. Er ergriff ihren Arm mit seiner kybernetischen Hand und setzte das Messer an der Stelle an, wo unter ihrer Haut immer noch das rote Licht leuchtete. Dann begann er vorsichtig zu schneiden. Sie hielt die Luft an. Er warf ihr einen kurzen Blick zu und sah, dass sie ihre Augen zusammenkniff und ihren Mantel mit ihren zierlichen Händen an ihre Brust presste. Er musste tiefer schneiden, als er vermutet hatte, aber endlich konnte er mit seinen Fingern den blinkenden Sender greifen. Er ließ ihn zu Boden fallen. Es erklang ein metallisches Knacken, als er mit seinem Schuh das Gerät zerquetschte. In dem Moment spürte er wie ihre Beine nachgaben. Bucky zog sie mit seinem Metallarm an sich, ließ sie langsam zu Boden gleiten. Sie blutete stark aus ihrer Wunde. Ihr Gesicht war kreidebleich. Er begann den Mantel mit dem blutigen Messer in längliche Stücke zu zerteilen und wickelte mehrere dann fest um ihren verletzten Arm. Sie war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren.
„Wo wohnst du?"
„Adamsstreet 219", antwortete sie nach einer langen Pause. „In dem roten Hochhaus..."
Dann wurde sie ohnmächtig.
Bucky hob vorsichtig ihren regungslosen Körper auf. Er kannte die Straße. In diesem Viertel war er in den vergangenen Wochen häufig unterwegs gewesen, meistens am späten Abend. Er konnte sich sogar an ein Hochhaus mit roter Fassade erinnern. Er beugte sich herab, um ihre Handtasche vom Boden aufzuheben und setzte sich dann in Bewegung. In seinem Kopf legte er sich die beste Route zurecht, während er mit wachsamen Augen die Straße absuchte. Es war ein glücklicher Umstand, dass zu dieser Zeit kaum noch Nachtschwärmer unterwegs zu sein schienen. Jedenfalls begegneten Bucky nur eine Handvoll Betrunkene, die nach Hause torkelten, oder Obdachlose, die die Mülltonnen nach etwas Brauchbarem durchwühlten. Niemand nahm an einem Mann Anstoß, der eine bewusstlose junge Frau nach Hause trug. Irgendwann fand er sich vor einem großen Apartmentgebäude wieder. 219 stand in großen Zahlen an der Hauswand. Er hatte verschiedene Umwege genommen, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich nicht verfolgt wurden. Immer wieder hatte Rebecca die Augen aufgeschlagen und mit schwacher Stimme unverständliche Wortfetzen auf Deutsch gemurmelt.
„Du bist in Sicherheit", wiederholte er mehrmals.
Sein Druckverband hatte vorerst die Blutung erfolgreich gestoppt. Sobald sie in ihrer Wohnung waren, musste er nach einem Verbandskasten suchen und ihre Wunde richtig versorgen. Der Schnitt war zwar nicht bedrohlich, aber er musste desinfiziert und genäht werden. Er kramte in ihrer Handtasche, bis er den Schlüsselbund fand und nach einigem Ausprobieren die Eingangstür mit dem richtigen Schlüssel öffnen konnte. In diesem Moment kam Rebecca wieder zu sich. Sie wand sich in seinen Armen. Bucky setzte sie vorsichtig ab. Auf wackeligen Beinen stand sie ihm gegenüber und hielt sich mit der Hand ihres unverletzten Armes an seinem Pullover fest.
„Welcher Stock?"
Rebeccas Augen musterten ihn eindringlich. Wahrscheinlich bereute sie es in diesem Moment, ihm vertraut zu haben.
„Du hast gesehen, wozu ich fähig bin?"
Ihre Stimme war leise, aber ihr Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass sie meinte, was sie ihm sagen wollte. Bucky nickte.
„Ich weiß nicht, wer du bist oder was du von mir willst, aber wenn du versuchst mir oder Wallenstein wehzutun, dann schwöre ich dir, dass du endest wie die Typen in der Straße."
Eine offene Drohung war das Letzte, womit er gerechnet hatte, nachdem er ihr zum zweiten Mal an einem Abend geholfen hatte. Und was zum Teufel war ein Wallenstein?
„Welcher Stock?", wiederholte Bucky und er konnte den Ärger in seiner Stimme nicht länger unterdrücken.
„8. Stock. Wir nehmen am besten den Aufzug."
Sie wollte den Gang entlang gehen, der zum Treppenhaus führte. Ihre Schritte waren unsicher. Ohne zu überlegen hielt er Rebecca fest, hob sie kommentarlos wieder in seine Arme, um sie Richtung Aufzug zu tragen.
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