Kapitel 45: Erinnerungen

Das schwarze Tor.

Wie ein Monument aus einer längst vergangenen Zivilisation ragte es zwischen Baumstümpfen in den grauen Himmel empor. Zwei mächtige Säulen trugen einen Rahmen, in den zwei riesige verschlossene Türflügel eingefasst waren. Ihr Verstand flüsterte ihr zu, dass es mehr als befremdlich war, inmitten dieser Einöde ein solches Bauwerk anzutreffen, noch dazu vollkommen losgelöst von einer Mauer oder einem anderen vergleichbaren Schutzwall. Stattdessen stand das schwarze Tor gleich einem stummen, einsamen Wächter am Horizont, als wäre es das Einzige, das dieser leeren Welt überhaupt einen Sinn verlieh.

Vom Sturm gepeitschte Wolkenfetzen zogen über ihren Kopf hinweg und die Luft wirbelte ihr immer wieder Haarsträhnen ins Gesicht. Langsam ließ sie ihren Blick über die Ebene gleiten, die sich wie die Oberfläche eines stillen Sees zu Füßen des Portals in alle vier Himmelsrichtungen ausdehnte.

Sie konnte sich nicht daran erinnern, wie sie hierhergekommen war. Dieser Ort war eigenartig. Irgendetwas stimmte damit nicht und je länger sie drüber nachdachte, desto mehr verfestigte sich ein ungutes Gefühl in ihrer Magengegend. Es gab nur eine logische Erklärung. Sie musste träumen. Allerdings hatte sie noch nie davon gehört, dass man sich innerhalb eines Traumes darüber im Klaren sein konnte, dass man in Wirklichkeit nur schlief und das eigene Unterbewusstsein derweil bizarre Anderswelten erschuf.
Sie verdrängte den Gedanken und besah sich ihre Umgebung genauer.

Wo sie auch ihren Blick hinwandte, alles Leben um sie herum war erloschen. Die Bäume waren abgestorben. Ihre unzähligen verkümmerten Stümpfe stellten die letzten Überreste eines einstigen Waldes dar. Unweigerlich stieg das Bild eines Friedhofes in ihrem Innersten auf. Hier hatte sich einmal der Quell einer unvorstellbaren Vielfalt befunden, ein wahres Füllhorn der Natur mit Millionen verschiedener Klänge, Farben und Gerüche. Die Heimat abertausender Lebewesen, die ein fortwährender Kreislauf miteinander verbunden hatte. Nun waren sie allesamt vernichtet. Die Melodie der Natur war verstummt. Keine fröhlich pfeifenden Vogelstimmen drangen an ihr Ohr, kein emsiges Summen geflügelter Insekten, kein sanftes Blätterrascheln in den Baumkronen. Nur der eisige Hauch des Windes erfüllte diese Welt ohne Hoffnung, ohne Leben. Dunkle Erde bedeckte die Ebene soweit das Auge reichte, als hätte ein schreckliches Feuer alles Lebendige verschlungen und nichts als Asche ausgespien. Unter ihren nackten Füßen zerfielen die letzten längst verdorrten Grashalme zu Staub.

Ein Grab. Diese Welt glich einem Grab.

Sie wollte nur noch aufwachen, diesem trostlosen Ort entfliehen. Ihre Zähne klapperten so heftig, dass die Kiefer bereits zu schmerzen begannen. Sie fror bitterlich, boten ihre Stoffhose und das Trägertop doch kaum Schutz gegen die wütenden Elemente, die das tote Ödland beherrschten. Ihren Blick richtete sie starr geradeaus. In einiger Entfernung schraubte sich das schwarze Tor in die Höhe. Mit einem Mal war sie sicher, exakt dieses Portal schon einmal gesehen zu haben und es übte einen geradezu magischen Sog auf sie aus.

Plötzlich konnte sie es hören.

Mit dem Wind wurde der Klang einer Stimme zu ihr getragen. Jemand rief nach ihr, hinter dem schwarzen Tor rief jemand nach ihr. Eigentlich war es schlichtweg unmöglich aus dieser Entfernung ein solches Geräusch überhaupt wahrzunehmen, zumal das Zischen der Luft alles war, was an ihre Ohren zu dringen vermochte. Und dennoch konnte sie den Widerhall einer Stimme tief in ihrem Herzen spüren.

Jemand rief nach ihr.

Sie beschloss herauszufinden, was sich hinter den geschlossenen Torflügeln verbarg. Also beschleunigte sie ihre Schritte, eilte durch diese sterbende Welt, die ihr mit jedem Atemzug bedrohlicher erschien. Je näher sie ihrem Ziel kam, desto stärker frischte der Wind auf. Im Gehen rieb sie über ihre bloßen Arme, versuchte so ein Wenig der Kälte entgegenzuwirken, die ihre eisigen Finger nach ihr ausstreckte und langsam aber sicher unter ihre Haut bis in ihre Knochen kroch. Spitze Steine bohrten sich in ihre schutzlosen Fußsohlen und sie presste die Lippen aufeinander, um den Schmerz nicht heraus zu schreien.

Wie viel Zeit verging, bis sie ihren Bestimmungsort erreichte, war nur schwerlich zu sagen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie endlich vor dem schwarzen Tor zum Stehen kam. Ihren Kopf musste sie in den Nacken legen, um den oberen Teil des Bauwerkes überhaupt sehen zu können. Zögerlich hob sie ihre Hand, berührte nur mit den Fingerkuppen die raue Oberfläche eines der Türflügel. Als hätte sie damit einen verdeckten Mechanismus in Gang gesetzt, flaute im selben Augenblick der Wind ab. Eine unnatürliche Stille beherrschte die Traumwelt. Die Stimme, die zuvor mehr einem fernen Echo geglichen hatte, konnte sie nun deutlich hören. Es war die Stimme einer Frau. Es war ihre eigene Stimme.

"Erinnere dich!"

Ein Beben ging durch den Untergrund. Mit Mühe und Not schaffte sie es sich auf den Beinen zu halten. Zu ihren Füßen tanzten große und kleine Steine auf und ab, während der Boden unter einem ohrenbetäubenden Grollen erzitterte. Dann tat sich mit einem Ächzen, das durch Mark und Bein ging, die Erde auf. Sie schrie so laut, dass sie das Gefühl hatte ihre Lunge würde dabei zerbersten. Vielleicht befand sie sich in einer Traumwelt, doch die Todesangst, die sich in diesem Moment in ihr ausbreitete, war nur allzu real. Sie wollte nur noch aus diesem Alptraum aufwachen, aber es war längst zu spät. Ein gähnender Schlund verschlang sie, riss sie mit sich in die Tiefe. Und sie fiel, fiel durch Raum und Zeit, durch Schwärze und Licht. Sie taumelte solange durch ein nicht enden wollendes Chaos aus Hell und Dunkel, dass sie irgendwann ihren eigenen Körper nicht mehr spürte, dass sie vergaß, dass sie immer noch in einem Traum wandelte.

"Erinnere dich!"

Wie in einem Zug, der durch einen Tunnel raste, zogen Streiflichter an ihr vorüber, blitzten Bilder im einen Moment vor ihr auf, um dann genauso schnell wieder zu verblassen.

Ein hellblaues Holzhaus zwischen Bäumen. Ein schlafender Hund. Betrunkene Männer in einem Park. Eine Bar mit schummerigem Licht. Ravioli in einem Teller. Ein Mann mit kinnlangen dunklen Haaren. Whiskygläser auf einem Couchtisch. Eine ältere Frau. Bücher in einem Regal. Ein Arm aus Metall. Hirsche auf einer Waldlichtung. Augen wie Eis.

"Erinnere dich!"

Plötzlich war sie in ein gleisendes Licht gehüllt. Schwerelos war die beste Umschreibung, die ihr in den Sinn kam, denn es fühlte sich an, als wäre ihr Geist nun tatsächlich aus ihrem Körper geschleudert worden. Sie befand sich in einem Raum, fast machte es den Eindruck, sie würde unterhalb der Zimmerdecke schweben.

Und sie war nicht allein.

An eine Art Stuhl aus Metall war eine Frau mit hellem Haar gefesselt. Um sie herum standen mehrere Gestalten. Sie konnte ihre Gesichter nicht erkennen, so als wären sie bloße Schatten, keine Menschen aus Fleisch und Blut. Die Schattenwesen umkreisten die Gefesselte. Alle trugen sie Helme aus einem glänzenden Material. Eines der Wesen beugte sich über die Frau und befestigte etwas um ihren Kopf. Die Frau, sie schien viel eher ein Mädchen zu sein, ließ vollkommen apathisch alles mit sich geschehen. Sie war nicht nur von diesen unheimlichen Geschöpfen umzingelt, sondern eine ganze Armada an technischen Gerätschaften und Monitoren bildete einen zusätzlichen Halbkreis um ihren erzwungenen Sitzplatz. Ein Wirrwarr aus Kabeln und Schläuchen verband sie mit Messinstrumenten und Computern, vor denen weitere Gesichtslose kauerten. Auch das Antlitz des Mädchens lag im Schatten. Sie war eine Namenlose und dennoch rief das Bild, welches sich ihr in diesem Augenblick bot, ein dumpfes Echo in ihr wach.

„Gehirnströme stabil. Aufzeichnung läuft. Chimäre-Test kann initiiert werden", ertönte eine Stimme.

„Versuchsobjekt 19 bereit", meldete eine andere Stimme und eine Tür öffnete sich.

Zwei Bewaffnete, die ebenfalls Helme trugen, flankierten einen Mann, den sie jeweils um mehr als einen Kopf überragten. Er schien wie das Mädchen auch ein Gefangener dieser Wesen zu sein und seine zerschlissene Kleidung gepaart mit seiner abgemagerten Gestalt legte die Vermutung nahe, dass man ihn nicht sonderlich gut behandelte.

Von plötzlichem Mitleid erfasst, jedoch ohne eine Möglichkeit einzugreifen, verfolgte sie das Geschehen mit wachsendem Unbehagen.

Die Bewaffneten stießen den Mann vor den wartenden Helmträgern zu Boden. Wieder erklang eine Stimme, doch diese kam ihr seltsam vertraut vor. Sie zeichnete sich durch eine unangenehm hohe Tonlage aus und gehörte gleichwohl eindeutig zu einem Mann. Ein merkwürdiger Akzent schwang in seinen Worten mit.

„Du weißt, was du zu tun hast, Labormaus!"

Beim Klang dieser Stimme, dieses einen Wortes, erfasste sie eine plötzliche Panik. Ihr wurde erst in diesem Augenblick bewusst, dass der Mann Deutsch sprach. Und sie verstand jedes einzelne Wort. Über das Mädchen schienen ähnliche Emotionen hereinzubrechen, denn sie begann energisch ihren Kopf hin und her zu werfen, so als wolle sie sich mit aller Kraft befreien.

„Sei eine brave kleine Labormaus und mach das, was wir besprochen haben. Genau wie beim letzten Test", forderte die Stimme und dieses Mal war die Ungeduld deutlich herauszuhören.

„Nein!"

Das Mädchen schrie so laut, dass die Schattenwesen kurzzeitig ein paar Schritte zurückwichen. Sie schrie wieder und wieder und dieses „Nein" war so herzzerreißend, so verzweifelt, dass nur niederträchtige, menschenverachtende Kreaturen ein Mitgeschöpf derart quälen konnten.

„Schrei so viel du willst, Labormaus. Es wird dir nichts nützen. So zögerst du das Unvermeidliche nur hinaus, denn du wirst schließlich wieder kooperieren, nicht wahr?"

Gott, wie sie diese Stimme, diesen Mann verabscheute. Sie hasste ihn mit solcher Inbrunst, als wäre es sie selbst und nicht das gefesselte Mädchen, das gerade von ihren Peinigern drangsaliert wurde.

„Du wirst kooperieren. Das tust du doch immer und du weißt ganz genau, warum!"

Die Angesprochene stellte mit einem Mal ihre Gegenwehr ein. Als hätte der Mann sie durch das Gesagte ihres letzten Fünkchens Kampfgeist beraubt, als wäre es eine Zauberformel, um sie gefügig zu machen, kehrte sie in ihre apathische Haltung zurück. In der Zwischenzeit reichte man dem männlichen Gefangenen ein Messer. Verängstigt hielt er die Waffe mit zitternden Händen vor sich.

„Und jetzt tu es, Labormaus!", befahl die Männerstimme in abgeklärtem Ton.

Nach einer grässlich langen Pause begannen diverse Geräte zu piepsen und in die Helmträger kam Leben. Eilig positionierten sie sich vor den freien Bildschirmen und Apparaten, während ein beinahe ohrenbetäubendes Konzert der Technik in dem Raum anschwoll.

Und dann holte der Mann mit dem Messer aus und rammte es sich mit einem Schrei in den Bauch. Wieder und wieder stach er zu. Die dunkle Flüssigkeit spritzte in regelrechten Fontänen auf den Boden, begleitet von dem schmatzenden Geräusch, wenn sich der scharfe Stahl erneut in den Unterleib des Mannes bohrte. Er schrie wie am Spieß, wie ein Schwein, das vom Schlachter abgestochen wurde. Und dennoch hieb er sich immer wieder mit der Waffe in den eigenen Leib, selbst als er zusammenbrach.

Irgendwann lag er leblos am Boden. Das Piepsen und Klackern der Geräte verstummte. Einzig das Schluchzen des Mädchens war zu vernehmen.

„Gut gemacht, Labormaus!"

Im selben Moment konnte sie in das ruckartig zum imaginären Himmel gerichtete Gesicht des Mädchens sehen. Und sie erkannte sich selbst. Unter all dem Schmerz, all der Verzweiflung und Wut konnte sie eine jüngere Version von sich selbst entdecken. Sie blickte in blutunterlaufene Augen, ein leichenblasses Antlitz voller Abscheu, voller Hass auf sich selbst und ihre Kerkermeister.

Die Lippen des Mädchens bewegten sich. Niemand im Raum konnte die unausgesprochenen Worte hören, die ihr Mund ein ums andere Mal formte, so als müsse sie sich selbst etwas in Erinnerung rufen. Niemand konnte diesen einen Satz hören, den sie wie ein Gebet wieder und wieder aufsagte. Niemand außer dem Mädchen und ihr.

„Mein Name ist Rebecca Goldstein."

Und dann war es, als würde ihr Innerstes in unzählige Teile zerspringen, als würde man Strom durch ihren Körper leiten. Eine unerträgliche Hitze breitete sich in ihr aus, machte es unmöglich auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Der Raum verblasste und mit ihm das Mädchen namens Rebecca, der blutüberströmte Tote am Boden und die scheußlichen Gestalten mit den Helmen.

Erneut rief eine Stimme nach ihr, doch dieses Mal war es die Stimme eines Mannes. Wie eine sanfte Windbrise waren seine Worte, legten sich auf ihr Herz wie ein warmer Mantel.

"Ich bin bei dir, Becca."

Sie fand sich auf dem Waldboden wieder. Bei ihren plötzlichen Bewegungen raschelte das Laub, das einen bunten Teppich unter ihr bildete. Die Kronen mächtiger Eichen wuchsen über ihrem Kopf zu einem grünen Baldachin zusammen und die Luft war erfüllt vom Jubilieren der Vögel, dem Hämmern der Spechte, dem sanften Knarren der Baumriesen.

Und sie war nicht allein.

Ein großer Hund hatte seinen Kopf in ihren Schoß gelegt, schielte mit honigfarbenen Augen zu ihr nach oben, so als wolle er sich vergewissern, ob es ihr gut gehe. Sie strich über sein glänzendes kurzes Fell, das von einfallenden Sonnenstrahlen gewärmt wurde und sich wie eine lebendige Decke aus Seide unter ihren Fingerspitzen anhob und absenkte. In seiner Gegenwart fühlte sie sich seltsam behütet.

Wallenstein.

Der Name kam ihr unvermittelt in den Sinn und sie wusste, dass dieses Tier zu ihr gehörte. Er war ihr Freund und sein Name war Wallenstein.

Hinter sich vernahm sie ein Geräusch. Als sie sich umdrehte, trat ein Mann mit schulterlangen dunklen Haaren zwischen den Bäumen hervor. Und als sie in diese stechenden hellen Augen blickte, überkam sie auf einmal eine erneute Bilderflut.

Der Mann schlafend auf einem Sessel zusammengesunken. Der Mann über eine Bratpfanne gebeugt. Der Mann nur in ein Handtuch gehüllt. Der Mann und ihr Hund auf einer Holzterrasse. Der Mann mit einem Wasserglas vor sich. Der Mann an ihrer Seite, während sie durch den Wald schritten. Der Mann neben ihr sitzend, seine Hand auf ihrer Hand.

Ein weiterer Name formte sich auf ihrer Zunge. Wie hatte sie diesen Namen, diesen Mann vergessen können? Sie nahm all ihren Mut zusammen und rief nach ihm. Er hielt kurz inne. Dann bildete sich ein Lächeln auf seinen Lippen. Und lächelnd eilte er auf sie zu.

Doch bevor er sie erreichen konnte, legte sich undurchdringliche Schwärze über alles.

Als sie ihre Augen aufschlug, dauerte es eine Weile, bis sie verstand, dass sie nicht mehr träumte. Sie hatte entsetzlichen Durst und ihr Magen knurrte kurz darauf so lautstark, dass sie das unerwartete Geräusch ihres eigenen Körpers zusammenfahren ließ. Das war auch der Moment, in dem sie den Arm bemerkte, der über ihre Taille geschwungen war. Hinter sich spürte sie gleichzeitig eine angenehme Wärme, wie sie nur ein anderer menschlicher Körper auszustrahlen vermochte. Tiefe Atemzüge kitzelten in ihrem Nacken, bescherten ihr eine Gänsehaut, die sich bis zu ihren Handgelenken erstreckte. Zaghaft wandte sie ihren Kopf und sah in das Gesicht eines schlafenden Mannes, dem sie nun wieder einen Namen zuordnen konnte.

Bucky. Sein Name war Bucky.

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