Kapitel 42: Trügerische Sicherheit
Ein Geräusch schreckte sie auf, ließ ihren Kopf ruckartig in die Höhe schießen. Von einer Sekunde auf die andere war der Raum hinter der Glaswand so hell erleuchtet, dass sie kurzzeitig ihre Augen zusammenkneifen musste. Rasch rieb sie sich die letzten, fast schon getrockneten Tränen von ihren Wangen, versuchte fieberhaft ihre Atmung zu kontrollieren, die sich zu überschlagen drohte. Die Panik lähmte auf ein Neues ihre Glieder. Aus jeder Pore ihres Körpers kroch in diesem Moment der Gestank purer Angst. Zuvor hatte sie sich so unendlich erschöpft gefühlt, dass sie nur mit Mühe und Not ihre brennenden Augen hatte offen halten können. Nun rauschte das Adrenalin erneut durch ihren Körper, ließ sie sogar den ziehenden Schmerz in ihrem Oberarm vergessen und den widerlichen metallischen Geruch des Blutes, das noch immer von ihrer Hand auf den Boden tropfte und dessen bloßer Anblick ihren Magen in Aufruhr versetzte.
Sie war nicht mehr alleine.
Ein Mann näherte sich. Schwarze Kleidung. Raumgreifende Schritte, deren dumpfer Widerhall auf dem gefliesten Untergrund ein gespenstisches Geräusch erzeugte, welches das Flattern in ihrer Brust nur noch mehr beflügelte. Dunkle, kinnlange Haare. Weite Schultern. Geschmeidige und kraftvolle Bewegungsabläufe wie bei einem Panther. Ihre Augen weiteten sich.
Er war es! Er war zu ihr zurückgekehrt!
Ihre Beine waren wackelig und die Wunde in ihrem linken Arm brannte schmerzhaft, als sie sich vom Boden hochdrückte. Von plötzlicher Hoffnung beseelt biss sie die Zähne zusammen, bewegte sie sich so schnell es ihr möglich war in Richtung der Scheibe. Er war wieder da. Er würde sie aus ihrem Gefängnis befreien, würde ihr dieses grässliche Halsband abnehmen. Unbeschreibliche Erleichterung durchflutete sie bei dem Gedanken, dass dies Alles gleich ein Ende haben würde, dass sie wieder in Sicherheit sein würde.
Endlich.
Ihr Kopf fühlte sich auf einmal ganz leicht an. In ihren Händen kribbelte es verräterisch. Und auch wenn ihre Knie den Anschein machten, als würden sie jeden Moment unter ihr nachgeben, zuckten ihre Mundwinkel dennoch nach oben.
„Nicolaj!"
Ihre Stimme war kratzig vom Schreien und Weinen, doch er schien sie gehört zu haben, denn er hielt schlagartig inne, blieb wie angewurzelt ein paar Meter vor der gläsernen Scheibe stehen. In seinen hellen Augen zeichnete sich regelrechtes Entsetzen ab. Und zum ersten Mal erkannte sie auch seine Gesichtszüge besser. Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, was die aufkommende Euphorie sie nicht hatte sehen lassen.
Dieser Mann war nicht Nicolaj. Er sah ihm auf den ersten Blick ähnlich, sehr sogar, aber er war nicht Nicolaj Seizew. Er war ein Anderer. Ein Fremder. Er gehört zu denen.
Jetzt erinnerte sie sich wieder. Es hatte einen Kampf gegeben. Wie es dazu gekommen war, konnte sie nicht sagen. Sie wusste nur noch, dass ein großer blonder Kerl sie gepackt hatte und eben jener Mann, der nun vor ihr stand, war in einen Zweikampf mit Nicolaj verwickelt gewesen. Sie hatte Nicolaj helfen wollen, hatte es trotz beinahe übermächtigem Schwindelgefühl geschafft in die Köpfe ihrer Angreifer einzudringen. Aber irgendwie war es diesem Mann vor ihr gelungen, sie für einen kurzen Moment abzulenken. Dann war da ein lauter Knall gewesen. Ein stechender Schmerz hatte ihren Körper durchzuckt und sie hatte das Bewusstsein verloren. Und nun war sie hier, offensichtlich in der Gewalt ihrer Feinde. Vollkommen verunsichert machte sie einen Schritt zurück. Im selben Moment kam der Fremde weiter auf sie zu, bis schließlich nur noch die durchsichtige Zellenwand sie voneinander trennte. Sie war fast schon dankbar, dass man sie eingesperrt hatte. Sie wollte nicht, dass dieser Kerl sich ihr weiter näherte und war froh eine Barriere zwischen sich und ihm zu wissen. Als er seine Handfläche mit einer quälend langsamen Bewegung auf die Scheibe legte, wich sie weiter zurück, behielt ihn jedoch unentwegt im Auge. Ihr Herz schlug ihr bis in den Hals, hämmerte so laut gegen ihren Brustkorb, dass sie sich sicher war, ihr Gegenüber müsste es ebenfalls hören.
Er stand einfach nur da, wortlos, mit Augen, in denen sie zugleich Wut und Schmerz ausmachen konnte. Warum sah er sie so an? Wer war dieser Mann? Sie hatte ihn mit Nicolaj verwechselt, dabei fehlten seinem Gesicht die harten Konturen und seine Züge waren viel ebenmäßiger. Der Anflug eines Bartes umspielte sein Kinn und helle blaue Augen betrachteten sie nicht kühl kalkulierend, sondern voller unausgesprochener Gefühlsregungen. Doch das war alles nur Fassade. Sie durfte sich von Äußerlichkeiten nicht täuschen lassen. Er gehörte zum Feind. Er war der Feind. Und seine bloße Anwesenheit machte ihr Angst.
„Rebecca!"
Seine Stimme war nur ein Flüstern, doch sie dröhnte gleichwohl in ihren Ohren. Ihr wurde heiß und kalt zugleich. Dieser Name. Warum nannte dieser Fremde sie so? Rebecca, das war doch nicht ihr Name, das konnte nicht ihr Name sein. Ihr Name war doch - In diesem Augenblick wurde ihr bewusst, dass sie sich an ihren Namen gar nicht erinnern konnte. Hydra hatte sie nur Red Star genannt. Nicolaj Seizew und Brock Rumlow hatten sie so genannt. Red Star, das musste ihr Name sein, nein, das war ihr Name.
„Rebecca, ich bin's!", versuchte der Mann es erneut, dieses Mal mit mehr Nachdruck und immer noch diesem eigenartigen Glanz in den Augen, den sie nicht zu deuten vermochte. „Ich bin's, Bucky."
Er musterte sie abwartend, so als müsste ihr diese Offenbarung irgendetwas sagen, irgendetwas bedeuten. Sie hielt seinem starren Blick stand, wenngleich sie tief in ihrem Innersten betete, dass er sie endlich in Ruhe lassen würde.
„Becca, alles ist gut. Du bist in Sicherheit", fuhr er nach einer Weile mit überraschend sanfter Stimme fort.
Sicherheit? Aus dem Mund dieses Kerls kam eine Lüge nach der anderen, selbst wenn er sie noch so rührselig vorbrachte. Er sprach sie mit einem falschen Namen an, spielte ihr Vertrautheit vor, dabei hatte man sie höchstwahrscheinlich entführt, hier eingesperrt, hatte ihr dieses abscheuliche Ding um den Hals gelegt. Und was mit Nicolaj passiert war, wollte sie sich nicht einmal ausmalen. Sie wusste ganz genau, warum sie hier war, was sie mit ihr vorhatten. Dieser dreiste Lügner konnte ihr noch so viel Honig um den Mund schmieren, es änderte rein gar nichts.
Plötzlich erregte eine Bewegung hinter dem Kerl ihre Aufmerksamkeit. Da waren noch zwei weitere Männer, die sich ebenfalls ihrem Gefängnis näherten. Hektisch sah sie in das Gesicht jedes Einzelnen, aber als sie den blonden Mann aus ihrer Erinnerung erkannte, wurde ihr bewusst, dass es nun wirklich keine Hoffnung mehr für sie gab. Sie waren ihre Feinde und sie war eingesperrt, war ihnen ausgeliefert und konnte sich nicht einmal wehren, weil dieses scheußliche Halsband es irgendwie schaffte, ihre Kräfte lahmzulegen.
„Ich wusste es", sagte der andere Neuankömmling mit dunklen Haaren und einem ebenso dunklen Bart. „Der AT-HR funktioniert."
Sie verstand binnen eines Herzschlages, dass er damit nur den Metallring um ihren Hals meinen konnte. Der Blonde, der die übrigen Anwesenden um fast einen Kopf überragte, warf dem Redner einen kurzen tadelnden Blick zu und trat dann an die Seite des Mannes hinter der gläsernen Wand.
„Sie hat sich die Nähte aufgerissen."
Der Blonde starrte auf ihren Arm, der nutzlos und schmerzend an ihrer Seite hing. Die hellen Augen des Anderen huschten in ihr Gesicht, bohrten sich in ihre eigenen Augen. Instinktiv wich sie vor diesem durchdringenden Blick weiter zurück, auch wenn sie ganz genau wusste, dass es in dieser Zelle keinen Rückzugsort gab, an dem sie vor diesen unliebsamen Besuchern geschützt war. In der Rückwärtsbewegung stieß sie mit ihren Beinen gegen das Bettgestell, zuckte bei der unerwarteten Berührung gegen ihren Willen zusammen.
„Dr. Ito wird jeden Moment eintreffen", drang auf einmal die fast schon vertraute Stimme dieses J.A.R.V.I.S. durch die plötzlich einsetzende Stille.
Ein Doktor? Der Fremde mit den kinnlangen Haaren schien die Panik zu bemerken, die sich bei der Erwähnung dieses Dr. Itos schlagartig in ihr ausbreitete, denn er tastete mit einem Mal die Glasscheibe ab, so als wolle er schnellstmöglich in ihr Gefängnis gelangen. Nun würden die Experimente folgen und die Schmerzen. Ein Doktor konnte schließlich nichts Anderes bedeuten. Diese Männer waren gekommen, um sie zu holen und in irgendeines dieser grässlichen Labore zu stecken, vor denen man sie gewarnt hatte.
„Wo zum Henker ist hier die verdammte Tür?", schimpfte der Mann, der Nicolaj so ähnlich sah, während er die Wand offensichtlich nach eine Art Schließmechanismus absuchte.
„Beruhig dich, Bucky. Du machst ihr Angst", versuchte der Blonde seinen Kameraden zu beschwichtigen und erntete daraufhin einen wütenden Blick seines aufgebrachten Gegenübers.
Der Angesprochene, dieser Bucky, schien sich jedoch nach ein paar heftigen Atemzügen tatsächlich eines Besseren zu besinnen und stellte seine Suche ein. Gerade als er etwas erwidern wollte, betrat eine asiatisch aussehende Frau in einem weißen Kittel den Raum. Beim Anblick des metallischen Koffers in den Händen der Frau, wurde ihre Kehle schlagartig staubtrocken. Die Frau, bei der es sich wohl um Dr. Ito handeln musste, blieb neben den Männern stehen, schüttelte missmutig den Kopf, während ihre mandelförmigen dunklen Augen sie prüfend betrachteten.
„Wie ist das denn passiert?", fragte sie schließlich und ihr Blick wanderte an ihrem Arm entlang, der in einem mittlerweile blutgetränkten, einstmals weißen Ärmel steckte.
„Keine Ahnung, Doktor", kommentierte der Mann mit dem Bart und verschränkte die Arme vor der Brust. „Da müssen Sie wohl gleich nochmal Hand anlegen."
Es war nur so dahin gesagt, aber bei seinen Worten setzte ihr Herz fast aus. Sie wollten tatsächlich in ihre Zelle kommen? Verzweifelt sah sie sich in dem kleinen Raum nach irgendetwas um, mit dem sie sich gegen ihre Feinde verteidigen konnte, dabei genügte doch ein einziger Blick, um zu wissen, dass sie gegen solche muskelbepackte Angreifer nicht das Geringste ausrichten konnte.
„Eine kurze Lokalanästhesie sollte in diesem Fall ausreichend sein", antwortete die Frau.
„Ich bräuchte allerdings ein paar helfende Hände", fügte sie kurz darauf hinzu, als sie wohl feststellte, dass ihre Gefangene alles andere als einen kooperativen Eindruck machte.
„J.A.R.V.I.S., Durchgang öffnen", kommandierte der Bartträger.
„Ich mach das."
Der Kerl namens Bucky wandte sich zu den Anwesenden. Im gleichen Moment tat sich wie von Geisterhand eine Tür in der Mitte der Scheibe auf. Vorsichtig betrat er ihre Zelle. In einer beschwichtigenden Geste hob er beide Hände an, als er sich langsam näherte. Da bemerkte sie erst, dass seine linke Hand aus Metall zu sein schien, doch die aufsteigende Panik ließ sie diese seltsame Beobachtung in Windeseile verdrängen.
„Bleib wo du bist!"
Sie hatte all ihre verzweifelte Wut in ihre Stimme legen wollen. Ein leises Flehen war alles, was sie zustande brachte.
„Becca, es ist alles gut. Du brauchst keine Angst mehr zu haben."
Er blieb nicht stehen, kam weiter auf sie zu und sie selbst wich mit bebendem Herzen zurück.
„Komm nicht näher!"
Tränen sammelten sich in ihren Augen. Sie würden ihr wieder wehtun. Oh, wenn sie doch nur dieses verdammte Halsband nicht anhätte, wenn sie doch nicht so ein verfluchtes schwaches nutzloses Ding wäre!
„Deine Wunde hat sich wieder geöffnet. Dr. Ito will dir nur helfen. Wir wollen dir helfen."
Sie spürte die kalte Glaswand in ihrem Rücken und wusste, dass es kein Entkommen gab. Mit dem Mut der Verzweiflung schnellte sie nach vorne, wollte sich an dem breitschultrigen Mann vorbeidrängen, aber er bekam sie am Handgelenk ihres verletzten Armes zu fassen. Der Schmerz ließ sie aufschreien, doch ihr Gegner dachte nicht daran, sie entwischen zu lassen und umschloss daraufhin ihren unverletzten Arm mit seiner metallischen Hand. Sie fluchte, trat nach ihm. Aber er wich mit Leichtigkeit jedem ihrer jämmerlichen Angriffe aus und selbst als sie sein Schienbein mit ihrem nackten Fuß traf, tat sie sich nur selbst dabei weh. Erbarmungslos zog er sie mit sich, um sie schließlich auf das Bett hinunter zu pressen.
„Lass mich los, du verdammter Mistkerl!"
Ihr Schrei war tränenerstickt und sie merkte wie die Anstrengungen ihrem geschwächten Körper immer mehr zusetzen. In ihrem verletzten Arm brannte es wie Feuer. Ihre Gegenwehr war hingegen geradezu lachhaft. Mühelos hielt der Mann sie in seiner schraubstockartigen Umklammerung gefangen, drückte sie trotz all ihrer zappeligen Bemühungen in die Matratze unter sich. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie sich die Frau mit einer aufgezogenen Spritze näherte. Sie kratze all ihre verbliebenen Reserven zusammen, versuchte sich mit einem letzten Aufbäumen zu befreien. Gott, wenn sie doch nur ihre Kräfte einsetzen könnte! Dann würde dieser Kerl kein so leichtes Spiel mit ihr haben, dann lägen ihre Gegner längst am Boden und sie hätte die Chance aus ihrem Gefängnis zu entkommen.
„Du tust mir weh", fauchte sie den Mann über sich an, als er gegen ihr Strampeln und Treten ankämpfte und sie mit einem unterdrückten Knurren zu bändigen versuchte.
Seine Augen weiteten sich. Die zuvor noch unnachgiebige Umklammerung lockerte sich schlagartig. Seltsamerweise hatten ihre Worte ihn getroffen, denn er schien für einen Augenblick abgelenkt zu sein. Blitzschnell hatte sie ihre rechte Hand befreit und noch ehe der Kerl reagieren konnte, kollidierte ihre Handfläche so lautstark mit seiner Wange, dass sie selbst darüber erschrak. Sie versuchte sich unter ihm herauszuwinden, aber der Mann hatte seinen Schock wohl schnell verdaut und im nächsten Moment wurde sie noch fester nach unten gedrückt. Eine Schere trennte kurz darauf den Ärmel ihres Pullovers auf. Hilflos musste sie mit ansehen wie Dr. Itos verfluchte Spritze ihren Weg in ihre Muskeln fand. Die Augen des Mannes ruhten auf ihr, während sich die Frau weiter an ihrem Arm zu schaffen machte. Fühlen konnte sie nichts mehr. Ihr gesamter Arm war taub. Die Spritze war demnach wirklich nur eine örtliche Betäubung gewesen.
Sie wusste, wann sie verloren hatte. Was auch immer diese Menschen mit ihr vorhatten, sie konnte nichts dagegen unternehmen. Also senkte sie ihren Blick, stellte ihre Gegenwehr endgültig ein und ließ es einfach geschehen. Als die Frau allerdings mit Nadel und Faden an sie herantrat, verkrampfte sie erneut.
„Ganz ruhig", vernahm sie die dunkle Stimme des Mannes, der sie nach wie vor festhielt, wenngleich sich sein zuvor fast schon brutaler Griff gelockert hatte.
Sein warmer Atem traf auf ihr Gesicht. Seine Kleidung war feucht und ein ganz bestimmter Geruch ging von ihm aus. Diesen Geruch erkannte sie. Es war der Geruch des Waldes, nachdem es geregnet hatte. Ruckartig drehte sie ihren Kopf beiseite, um nicht mehr in diese hellen, mit einem Mal seltsam vertrauten Augen blicken zu müssen. Es war vollkommen unmöglich, aber fast glaubte sie, dass sie ihn kannte, diesen Bucky. Es war mehr als die bloße Ähnlichkeit mit Nicolaj, da war sie sich fast sicher. Doch sie konnte sich an nichts erinnern. Wenn sie genau darüber nachdachte, dann konnte sie sich an gar nichts erinnern.
Außer Hydra.
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