Kapitel 40: Menschlich

„Buck, ich mein es ernst. Lass dich behandeln. Wir kümmern uns solange um Rebecca."

Widerwillig wanderte sein Blick zwischen Steve und den Anderen hin und her, nachdem sie die vorgelagerte Landeplattform des Avengers Towers hinter sich gelassen hatten und im Gebäudeinneren von der Brünetten namens Maria Hill empfangen worden waren. Allein der Gedanke erneut von Rebecca getrennt zu werden, jetzt da er sie endlich wiedergefunden hatte, ließ ihn den regungslosen Körper der Frau mit neuer Vehemenz an sich pressen.

Kurz vor ihrer Landung hatten sie bereits eine ähnliche Diskussion geführt. Genau genommen war es Steve gewesen, der einmal mehr das Reden übernommen hatte. Bucky selbst war viel zu aufgewühlt gewesen, um sich an einer derartigen Unterhaltung zu beteiligen. Schweigend hatte er den Rückflug nach New York hinter sich gebracht, hatte sich damit begnügt, Rebecca endlich in Sicherheit zu wissen. Steves Worte waren an ihm abgeprallt. Womit sich die übrigen Avengers in der Zwischenzeit beschäftigt hatten, war für Bucky ebenso bedeutungslos gewesen. Er hatte nur neben der bewusstlosen Becca gesessen, hatte ihre kalte Hand fest mit seiner eigenen umschlossen gehalten. Es waren wieder nur sie beide gewesen, der Rest war ihm in diesem Augenblick gleichgültig. Doch nun regte sich plötzlicher Widerstand in ihm, Trotz und Unwille gegen die anhaltende Bevormundung des Mannes, der vielleicht früher einmal sein bester Freund gewesen war.

Glaubte Steve wirklich er würde Rebecca jetzt allein lassen?

Er war verletzt, damit hatte Steve leider recht. Vor allem die verdammte Messerwunde am Übergang zu seiner Armprothese brannte höllisch. Bei jedem noch so bedächtigen Atemzug zuckte sein Brustkorb schmerzhaft zusammen. Steves Sorge war nicht unbegründet, immerhin hatte er viel Blut verloren. Aber Wilson hatte ihn bereits notdürftig verarztet und in ihm schlummerten zudem widernatürliche Selbstheilungskräfte, die ihn selbst nach wie vor in Erstaunen versetzten. Es bedurfte somit weitaus mehr, damit er Becca an diesem fremden Ort allein lassen würde. Nicht nach allem, was passiert war, nach allem, was sie in den vergangenen Tagen durchgemacht haben musste. Es grenzte an ein Wunder, dass sie Becca überhaupt in dieser Hydra-Basis gefunden hatten, dass sie es tatsächlich geschafft hatten, sie mit diesem aberwitzigen Himmelfahrtskommando zu befreien. Und nun war Bucky nicht gewillt, sie so schnell wieder aufzugeben. Er würde an ihrer Seite bleiben, bis man sich um ihre Verletzung gekümmert hatte, bis er absolut sicher sein konnte, dass sie gut aufgehoben war. Seine eigenen Wunden konnten so lange warten.

„Ich bleibe bei ihr", knurrte Bucky gerade noch so laut, dass der Blonde ihn verstehen konnte.

Mit einem tiefen Seufzer gab sich Steve offensichtlich fürs Erste geschlagen und ging neben Hill in Richtung der Aufzüge voran. Während sie den weitläufigen Raum durchquerten, der sich an die Plattform anschloss und auf mehreren Ebenen eine lange Theke und eine Vielzahl von Sitzgelegenheiten beherbergte, tauschte Steve sich leise mit der Frau an seiner Seite aus. Ihre Unterredung schien nicht für seine Ohren bestimmt zu sein und die Gesprächsinhalte konnten Bucky in diesem Augenblick nicht weniger interessieren. Er hing seinen eigenen Gedanken nach, starrte dabei zum wiederholten Mal mit einer Mischung aus Erleichterung und Sorge in das unnatürlich bleiche Gesicht der Frau, die in seinen Armen lag. Eigentlich gab es gar kein treffendes Wort, um all die seltsamen Gefühle greifbar zu machen, die seit ihrem Wiedersehen sein Innerstes in Aufruhr versetzten. Bucky fühlte sich erlöst von der schrecklichen Ungewissheit und den nagenden Schuldgefühlen, die ihn seit Rebeccas Verschwinden beherrscht hatten. Und dennoch war da noch ein anderes Gefühl. Nach und nach hatte es sich in ihm breit gemacht. Er hatte diese neue Empfindung zunächst weder begreifen noch benennen können. Als sie nach ihrer Flucht aus der Hydra-Basis vor dem Quinjet angekommen und er schließlich mit Becca auf den Boden gesunken war, da hatte Bucky es zum ersten Mal bewusst wahrgenommen. Doch erst hier im Avengers Tower konnte er dieser seltsamen Emotion auch einen Namen geben.

Er war glücklich.

Und erneut zuckten seine Mundwinkel in diesem Moment ohne sein bewusstes Zutun nach oben. Der Anflug eines Lächelns stahl sich in sein Gesicht, als er ein letztes Mal auf Rebecca hinabblickte, bevor er ebenfalls mit ihr in den Aufzug einstieg. Wahrscheinlich war dies der letzte Beweis dafür, dass er nicht ganz richtig in seinem Kopf war. Immerhin hatte er abartige Schmerzen, blutete wohl gerade Wilsons Verbände voll und Becca war ebenfalls verletzt. Alles kein Anlass für dieses seltsame warme Kribbeln, dass sich schon auf dem Flug in seiner Magengegend eingenistet hatte.

Aber sie waren am Leben, flüsterte eine Stimme tief in seinem Innersten. Sie waren zusammen und er war nicht nur erleichtert, nein, er war verflucht nochmal so glücklich wie schon lange nicht mehr.

Also genoss Bucky jede Sekunde, jeden Atemzug in Beccas Nähe, prägte sich ihre feinen Gesichtszüge wieder und wieder intensiv ein. Selbst im Schlaf war ihr die Erschöpfung anzusehen. Ihre Haut war nicht nur bleich, sie erschien fahl, als hätte sämtliches Blut ihren Körper verlassen. Als Romanoff auf sie geschossen hatte, war Bucky sich im ersten Moment sicher gewesen, dass Rebecca tot sein musste. Die blonde Frau regungslos in einer Blutlache am Boden liegen zusehen, hatte ihn an den Rande des Wahnsinns gebracht. Über sein Innerstes hatte sich ein Schatten gelegt. Bucky wagte nicht einmal daran zu denken, welcher Dämon es gewesen war, der ihn beinahe auf ein Neues heimgesucht hatte. Ohne Steve an seiner Seite wäre es wohl auf einen Kampf mit der Rothaarigen und dem Bogenschützen hinausgelaufen. Wahrscheinlich würden sie jetzt alle unter Tonnen von Erdmasse in der gesprengten Bunkeranlage begraben liegen. Allein Captain America war es zu verdanken, dass die Situation nicht eskaliert war. Steve war der Einzige gewesen, der einen kühlen Kopf bewahrt hatte. Und auch wenn er es nicht zeigen, nicht aussprechen konnte, er war ihm dankbar, unendlich dankbar für alles, was er bisher für ihn und Rebecca getan hatte. Bucky konnte nicht erklären, was genau ihn dazu brachte, aber er hatte Steve Rogers dort unten in der Hydra-Basis vertraut, hatte auf seine Worte vertraut, sowie auch Captain America wider alle Vernunft dem ehemaligen Winter Soldier vertraut zu haben schien. Während sie sich Seite an Seite durch die Bunkeranlage gekämpft hatten und einer den Rücken des anderen gedeckt hatte, da war etwas zwischen ihnen passiert.

Etwas hatte sich zwischen ihm und Steve verändert.

Hatte er sich zuvor stets einen Rest Argwohn seinem einstigen Freund gegenüber bewahrt, so hatte die vergangene Mission ihm wohl endgültig die Augen geöffnet. Steve Rogers war tatsächlich sein Freund, auch wenn Bucky sicherlich der letzte Mensch auf diesem Planten war, der eine solch bedingungslose Freundschaft verdiente. Er war trotzdem dankbar für Steves Unterstützung, auch wenn er dessen anhaltende Freundlichkeit wahrscheinlich nie vollständig begreifen würde. Dennoch änderte das Alles nichts an der Tatsache, dass es Bucky ganz und gar nicht gefiel, weiterhin so sehr auf ihn und die übrigen Avengers angewiesen zu sein. Andererseits brauchte Becca jetzt Hilfe. Hilfe, die er ihr nicht geben konnte, so sehr er es sich auch wünschte. Er war ein Niemand, hatte noch nicht einmal die Mittel, um ihre Schussverletzung anständig zu versorgen. Ohne Steve und die Anderen hätte er die Telepathin zudem niemals erreichen, geschweige denn befreien können.

Und da war noch ein ganz anderer Gedanke, der ihm mehr und mehr zusetzte.

In den vergangenen Stunden war so viel passiert, dass Bucky auch jetzt noch der Kopf schwirrte. Die Erlebnisse in der Hydra-Basis rasten wieder und wieder wie ein viel zu schneller Film an ihm vorüber. Er war betäubt gewesen. Gleich einer todbringenden Maschine hatte er vorprogrammierte Verhaltensmuster befolgt. Er hatte gekämpft, getötet und geblutet. Zusammen mit Steve hatte er eine Schneise der Verwüstung durch die Reihen der Hydra-Agenten gezogen, die sich ihnen in den nicht enden wollenden weitverzweigten Gängen der Bunkeranlage in den Weg gestellt hatten. Aber als er dann Rebecca gesehen hatte, wie dieser Hydra-Kerl sie wegschleppte, da waren alle Beherrschung und Präzession vergessen.

Er war keine gut austarierte Maschine mehr gewesen, sondern ein Mensch, ein Mann, James Buchanan Barnes.

Und er hatte Beccas Entführer tot sehen wollen, hatten ihm mit seiner kybernetischen Faust den Schädel zertrümmern wollen. Er hätte seinen Gegner umgebracht, dessen war er sich sicher, wenn Rebecca nicht gewesen wäre. Bucky konnte es nicht einmal ansatzweise verstehen, aber je häufiger er die Szene gedanklich durchspielte, umso klarer wurde ihm, dass die Telepathin Steve und ihn bewusst angegriffen haben musste. Zwar trug er immer noch einen kleinen Funken Hoffnung in sich, dass Becca nur verwirrt und verängstigt gewesen war und wahllos ihre Kräfte gegen sie eingesetzt hatte, doch je länger er diese Möglichkeit abwog, desto naiver kam ihm der Gedanke vor.

Er hatte Steve trotzdem versichert, dass es nicht Becca gewesen war, die sie im Bunker angegriffen hatte. Und es war die Wahrheit, musste die Wahrheit sein. Die Rebecca, die er kennengelernt hatte, würde niemals ihre Kräfte gegenüber ihren Mitmenschen in einem solchen Maß missbrauchen.

Er hatte selbst miterlebt, wie sie mehrere Hydra-Agenten dazu gebracht hatte, sich selbst in den Kopf zu schießen. Und er war Zeuge ihres anschließenden Zusammenbruchs geworden. Rebecca besaß eine mächtige Gabe, aber sie schien diese Kräfte stets nur in ausweglosen Situationen zu nutzen, schien selbst eher damit überfordert zu sein. Natürlich hatte sie auch schon zuvor bei ihm den einen oder anderen eher harmlosen Psychotrick angewandt. Die rücksichtslose Brutalität, mit der sie ihn und Steve angegriffen hatte, widerstrebte jedoch allem, was Rebecca Goldstein in seinen Augen ausmachte. Er hatte sie in seinem Kopf spüren können, hatte diese Macht gefühlt, die seinen Körper erstarren ließ und aus ihm eine willenlose Hülle gemacht hatte. Sie hatte ihm Schmerzen zugefügt, hatte ihn und Steve tot sehen wollen. Nein, diese Frau war nicht die Rebecca gewesen, die er kannte. Und er fragte sich, ob Becca tatsächlich erneut versuchen würde sie anzugreifen, sobald sie aus ihrem Betäubungsschlaf erwachte.

Es war ein verstörender Gedanke.

Was war nur mit ihr geschehen, was hatte Hydra ihr angetan, dass sie sich wie ein wildgewordenes Tier auf jene Menschen gestürzt hatte, die sie doch eigentlich retten wollten? Was war nur mit ihr passiert, dass sie Steve und ihn ohne zu zögern attackiert hatte, dass sie diesen Hydra-Kerl offensichtlich sogar verteidigt hatte? Becca war mehrere Tage in der Gewalt dieser Monster gewesen und wenn er sich all die Schrecken, die sie in dieser Zeit durchlebt haben musste, weiter ausmalte, kam das zuvor noch angenehme Kribbeln in seinem Bauch schlagartig zum Erliegen. Ekel und Abscheu waren alles, was Bucky erfüllte, wenn er an Rebeccas Gefangenschaft dachte. Als der Lift sich in Bewegung setzte, rang er um Fassung. Er musste sich beruhigen. Hier war Becca sicher, hier konnte ihr geholfen werden, zumindest hatte Steve ihm das wieder und wieder versichert. Und sie brauchte Hilfe. Rebecca musste vor sich selbst geschützt werden. Sie mussten sie davor abhalten, sich selbst und anderen Menschen Schaden zu zufügen und zwar solange, bis sie herausgefunden hatten, was mit ihr passiert war. Er wusste, dass die Telepathin es sich niemals verzeihen würde, wenn ihretwegen andere Menschen verletzt werden würden.

Die Fahrt mit dem Aufzug dauerte verdächtig lange. Endlich kamen sie zu einem Halt und Hill verließ als erste den beengten Raum. Bucky trat ebenso mit Becca in den Armen in einen hell ausgeleuchteten Gang. Er folgte seinen Begleitern, die hinter Steve und der dunkelhaarigen Frau den Flur durchschritten, dessen gräuliche Wände in regelmäßigen Abständen von geschlossenen Türen unterbrochen wurden.

„Wir sind da", verkündete die Brünette schließlich und nacheinander betraten sie einen großen Raum, der bis auf einen seltsamen großen Glaskasten, in dem sich ein Bett befand, mehr oder weniger leer war.

Dort erwarteten sie bereits ein Mann mit dunklen Haaren und einem akkurat getrimmten Bart sowie eine Frau mittleren Alters, deren schmale Augen und zarte Züge auf eine asiatische Herkunft hindeuteten. Es war der unbekannte Mann, der zuerst das Wort ergriff, wobei er zu keiner Zeit Bucky und die Frau in seinen Armen aus den Augen zu lassen schien, auch wenn er seine offensichtliche Neugierde hinter einem lässigen Auftreten zu verbergen suchte.

„Schön, dass ihr es auch einrichten konntet, Cap!"

Als der Dunkelhaarige in einer etwas überschwänglichen Geste seine zunächst vor der Brust verschränkten Arme ausbreitete, wusste Bucky, dass es sich um Tony Stark handeln musste. Unter seinem schwarzen Sweatshirt leuchtete in der Mitte seiner Brust ein seltsamer handgroßer Kreis, von dem er dank Steves ausführlichen Informationen wusste, dass es sich dabei um einen sogenannten Arc-Reaktor handelte, der auch die von Stark entwickelten Iron Man-Rüstungen mit Energie versorgte. Noch bevor Steve auf den freundschaftlichen Spott seines Gegenübers eingehen konnte, umrundete Stark den breitschultrigen Mann und kam mit einem süffisanten Grinsen vor Bucky zum Stehen.

„Und das sind also dein alter Kumpel und die Telepathin von anno dazumal? Das Durchschnittsalter in diesem Raum ist ja echt rapide angestiegen."

„Tony!", ertönte Steves mahnende Stimme und glich dabei der einer genervten Mutter, die einem vorlauten Kind den Mund verbieten wollte.

Bucky verstand jedoch binnen eines Herzschlages, dass hinter den laxen Bemerkungen und dem frechen Grinsen ein wacher Geist lauerte, dem nicht viel verborgen blieb und der es gewohnt war für jede Eventualität gerüstet zu sein. Steve hatte ihm nie gesagt, was Tony Stark eigentlich vom Aufenthalt eines ehemaligen Hydra-Killers im Avengers Tower hielt. Der Blick, mit dem der Multimilliardär ihn aber nun bedachte, teilte ihm unmissverständlich mit, dass der Mann wenig begeistert über Buckys und Rebeccas Auftauchen war.

„Rebecca und Bucky sind verletzt", wandte sich Steve erneut an Stark, der immer noch vor Bucky stand und nun wieder die Arme vor der Brust verschränkte.

„Deshalb ist ja auch die liebe Dr. Ito hier", entgegnete der Angesprochene mit einer lässigen Kopfbewegung in Richtung der wartenden Frau, die in einen weißen Kittel gekleidet war.

Sie bedeutete mit einem zurückhaltenden Lächeln, dass Bucky näher kommen sollte und mit einem letzten Blick auf Tony Stark, ging er schließlich auf die wartende Ärztin zu.

„Legen Sie sie dahin."

Ito wies auf das Bett, welches sich in dem seltsamen Glasding befand. Zögerlich folgte Bucky der Frau durch eine Tür, die sich wie von Geisterhand auf einmal in einer der durchsichtigen Wände auftat. Vorsichtig legte er Becca auf der Matratze ab, folgte mit Argusaugen jeder Bewegung der Ärztin, als sie den Druckverband von Rebeccas Arm entfernte und dann allerlei Verbandsmaterial sowie Nadel und Faden aus einem großen Koffer zu Tage förderte, um sich an die fachmännische Versorgung der Schusswunde zu machen. Endlich fiel etwas von der Anspannung von Bucky ab, die ihn nun schon seit Stunden in einer permanenten Alarmbereitschaft gefangen hielt.

„Buck?"

Steves Stimme ließ ihn widerwillig den Blick von Rebecca und der Ärztin abwenden. Er verließ den Glaskasten, steuerte auf die wartenden Avengers zu. Man konnte Steve und seinen Teamkollegen die Anstrengungen der letzten Stunden deutlich ansehen, denn neben Stark und Hill wirkten sie in ihren nassen, dreckigen Kampfausrüstungen im wahrsten Sinne des Wortes abgekämpft. Er selbst gab sicherlich ein noch fürchterlicheres Bild ab.

„Clint wird dich zur Krankenstation begleiten", hob Steve nach einem kurzen Moment des Schweigens an.

„Rebecca braucht Ruhe und ist hier in den besten Händen", ergänzte der Blonde, als sich bereits erste Widerworte auf Buckys Zunge bildeten. „Und wir sollten uns danach zu einer Lagebesprechung treffen."

Das Pochen in der verdammten Messerwunde gepaart mit dem schmerzhaften Stechen in seiner Rippengegend waren es schließlich, die Bucky einlenken ließen. Er blickte sich ein letztes Mal zu Becca um und folgte dann dem Bogenschützen aus dem Raum.

Es fühlte sich falsch an, so falsch. Bucky kam sich wie ein Verräter vor. Er ließ sie im Stich, schon wieder. Aber sobald die Verletzungen versorgt waren, würden ihn kein Steve Rogers und keine Macht der Welt mehr von ihrer Seite fernhalten können. Neben ihm räusperte sich jemand. Bucky war so tief in seinen inneren Monolog versunken, dass er die Anwesenheit einer weiteren Person beinahe vergessen hatte. Clint Barton warf ihm im Gehen einen dieser skeptischen Blicke zu, an die er sich mittlerweile schon gewöhnt hatte.

„Zur Krankenstation geht's hier lang", verkündete er beiläufig und stieg vor Bucky in den Aufzug ein.

Es dauerte einige Zeit, bis sie dort ankamen. Der Lift brachte sie auf die Etage, die das eigentliche Hauptquartier der Avengers bildete und wo sich neben Besprechungsräumen offenbar auch ein Bereich zur medizinischen Versorgung befand. Während Bucky auf einer Untersuchungsliege Platz nahm und ein jüngerer Mann mit pechschwarzem Haar und einer großen Hornbrille sich daran machte, seine notdürftig versorgten Verletzungen zu untersuchen, blieb Barton bei ihm. Mit verschränkten Armen beobachtete der Bogenschütze wie der Mann, der sich ihm als Dr. Hernandez vorstellte, zuerst die tiefe Messerwunde reinigte und anschließend zu nähen begann. Auf die Nachfrage, ob er eine lokale Betäubung wünschte, reagierte Bucky mit Schweigen. Stattdessen trafen seine Augen auf die seines ebenfalls eher wortkargen Begleiters.

„Natasha hat das Richtige getan und das weißt du, Barnes", erklang auf einmal unvermittelt die Stimme des Avengers, als der Arzt sich gerade daran machte, seine frisch genähte Wunde zu verbinden.

„Ich brauch keine Moralpredigt", murmelte Bucky nach einer Weile.

Er blickte an seinem nackten Oberkörper hinab, während Hernandez fortfuhr seine übrigen Wunden zu versorgen. Mit einem Zischen zog er kurz darauf die Luft ein, als der Mediziner seinen Brustkorb abtastete.

„Gebrochen. Mindestens zwei Rippen", stellte der Arzt fest und warf ihm einen entschuldigenden Blick über den Rand seiner Brille zu. „Sie werden sich einige Zeit schonen müssen. Am besten wir röntgen das, um eine Serienfraktur auszuschließen."

Bucky erhob sich ohne Ankündigung. Sichtlich überrumpelt wich der Arzt vor ihm zurück und tauschte einen besorgten Blick mit dem Bogenschützen aus, den jener allerdings nur mit einem amüsierten Halbgrinsen beantwortete.

„Und ich brauch niemanden, der mir das Händchen hält!", knurrte Bucky, was Hernandez einen weiteren Schritt nach hinten machen ließ.

Nun entfuhr dem Bogenschützen ein leises Lachen, worauf Bucky mit einem gereizten Schnauben reagierte.

„Ein echter Dickschädel, was? Du erinnerst mich manchmal echt an Natasha."

Die Überraschung stand ihm wohl ins Gesicht geschrieben, denn mit einem nunmehr wissenden Grinsen ließ sich Barton auf einem Hocker neben ihm nieder.

„Der Hydra-Typ hat dir ja ordentlich zugesetzt. Mit gebrochenen Rippen kenn ich mich aus. Ganz schön schmerzhaft, vor allem wenn's nicht richtig behandelt wird."

Buckys Schweigen hinderte den Mann nicht daran seinem plötzlichen Redebedürfnis weiter nachzugehen, nachdem der Arzt sich um Buckys andere Wunden gekümmert und sich anschließend kurz in einen Nebenraum begeben hatte.

„Tja, Wilson und ich waren ja dagegen, dass du mitkommst, aber Natasha und Steve haben sich mal wieder durchgesetzt. Die beiden waren der Meinung, dass du bei dieser Mission dabei sein solltest. Im Nachhinein wohl die richtige Entscheidung."

Auf einen Schlag war das spitzbübische Lächeln aus Bartons Gesicht verschwunden. Nicht zum ersten Mal versetzte dieser schlagartige Stimmungswechsel Bucky in Erstaunen, denn der Mann fixierte ihn plötzlich mit einem todernsten Blick und als er weitersprach, hatte seine Stimme auch gänzlich ihren zuvor fast schon freundschaftlichen Plauderton eingebüßt.

„Um eine Sache klarzustellen, Barnes, ich hab nichts gegen dich, aber wenn du nochmal auf Natasha losgehst, nachdem sie Rogers und dir den Hintern gerettet hat, dann verpass ich dir einen Pfeil zwischen die Augen."

Die Drohung ließ Bucky kalt. Er verkniff sich eine passende Antwort. Romanoff schien dem Mann viel zu bedeuten, wenn er das überhaupt einschätzen konnte. Auch wenn die Rothaarige alles andere als einen schutzbedürftigen Eindruck erweckte, respektierte er Bartons Verhalten. Bucky konnte den Impuls, jene zu beschützen, die einem am Herzen lagen, nur zu gut nachvollziehen. Schweigend verbrachten sie die nachfolgenden Minuten auf der Krankenstation. Schließlich hatte sich Bucky sogar von dem Arzt widerstandlos in einen Röntgenraum bringen lassen. Das Ergebnis war keine Überraschung. Drei gebrochene untere Rippen würden Bucky in den kommenden Wochen zu schaffen machen und er hoffte innerlich, dass seine Selbstheilungskräfte auch bei verletzten Knochen halfen. Mit einiger Mühe und unter starken Schmerzen zog er sich schließlich sein immer noch nasses Oberteil über und gemeinsam mit Barton schritt er gerade durch einen der unzähligen Gänge, als der Bogenschütze erneut das Wort ergriff.

„Ihr seid euch schon mal begegnet, Natasha und du."

Bucky legte bei dieser Neuigkeit die Stirn in Falten, aber Barton sprach unbeirrt weiter.

„Sie redet nicht gerne über frühere Aufträge, vor allem dann nicht, wenn dabei etwas schief gegangen ist."

Kurzzeitig stahl sich ein freches Grinsen in Bartons Gesicht, als sie vor einem Aufzug stoppten und der Bogenschütze die Ruf-Taste betätigte. Sie stiegen ein und nach einem Räuspern fuhr Barton schließlich fort.

„Von dieser einen Sache hat sie mir allerdings einmal erzählt. Ich finde, du solltest es wissen, auch wenn du dich höchstwahrscheinlich nicht daran erinnern kannst und Romanoff mir wahrscheinlich den Hals umdreht, wenn sie mitbekommt, dass du es von mir weißt."

Gegen seinen Willen war nun tatsächlich Buckys Interesse geweckt. Aufmerksam lauschte er Clint Bartons Worten, als dieser von Neuem ansetzte.

„2009 hat Natasha einen Atomingenieur aus dem Iran geschleust. Bei Odessa wurde ihr Wagen von der Straße abgedrängt. Im letzten Moment konnte Natasha sich und den Mann noch aus dem Auto ziehen, bevor es von einer Klippe stürzte. Der Winter Soldier wartete schon auf sie."

Buckys Augen zuckten in Clints Gesicht, doch dessen Miene verriet keine seiner Gefühlsregungen, während er neben dem einstigen Hydra-Killer durch den Avengers Tower schritt.

„Natasha hat sich vor den Ingenieur gestellt, aber der Soldier hat ihn durch ihren Bauch hindurch erschossen."

Der Bogenschütze vermied es offensichtlich seinen Namen in dieser unrühmlichen Geschichte zu verwenden. Ob dies aus Rücksichtnahme oder nur Deeskalationsgründen geschah, konnte Bucky nicht beurteilen. Er war Romanoff schon einmal begegnet, schlimmer noch, er hatte sie angeschossen. Seine eigenen Gedanken überschlugen sich und es kostete ihn einige Mühe der Erzählung weiter zu folgen.

„Der Soldier hat ihr seine Barrett an den Kopf gehalten und eine Weile ist gar nichts passiert. Sie sahen einander einfach nur in die Augen. Und auf einmal veränderte sich etwas in seinem Blick. Er sagte etwas auf Englisch zu ihr. Dann hat er sie ausgeknockt."

Bucky erinnerte sich nicht daran, weder an den Atomingenieur noch an Natasha Romanoff. Barton schien seine Verwirrung zu bemerken, denn er hielt inne und legte ihm sachte eine Hand auf die Schulter. Diese ungewohnt vertraute Geste eines Mannes, der ihm eigentlich fremd war, ließ Bucky einen Schritt nach hinten machen.

„Mehr hat sie mir nicht verraten. Natasha ist eine Frau mit vielen Geheimnissen und ich habe nie weiter gefragt. Ich weiß nur, dass der Soldier die Chance hatte sie zu töten. Und er hat es nicht getan. Er hat sie verschont. Du hast sie verschont, Barnes. Romanoff schuldet dir ihr Leben. Wahrscheinlich hat sie auch deshalb - "

„Mr. Barton, Mr. Barnes", J.A.R.V.I.S. Stimme schnitt dem Bogenschützen das Wort ab. „Sie sollten schnellstens in den Sicherheitsbereich auf Ebene 1 kommen. Rebecca Goldstein ist aufgewacht."

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