Kapitel 38: Käfig

Grelles Licht blendete sie, als sie langsam ihre Augen aufschlug. Die Helligkeit brannte sich selbst dann noch schmerzhaft in ihre Pupillen, nachdem sie ihre Augenlider so fest sie konnte zusammenpresste. Es verging einige Zeit, bevor sie es wagte erneut ihre empfindlichen Augen zu öffnen. Noch länger dauerte es, bis sie überhaupt irgendetwas um sich herum wahrnehmen konnte, außer dem viel zu hellen, viel zu grellen Licht, das in gnadenloser Intensität auf sie niederregnete.

Ihr war schlecht, so entsetzlich schlecht. In ihrem Magen rumorte es und sie kämpfte einen Anflug von Übelkeit hinunter, der sich als säuerlicher Geschmack auf ihre Zunge legte. Dann merkte sie erst, dass sie eigentlich hungrig war, schrecklich hungrig sogar, aber die bloße Vorstellung etwas Essbares hinunter zu würgen, verursachte wiederum diesen unerträglichen Brechreiz, der sich nur vervielfachte, als sie ihren Blick gen Decke richtete, von wo aus mehrere Strahler ein kaltes, steriles Licht auf sie hinab warfen. Der Drang sich zu übergeben war kaum auszuhalten und von einer plötzlichen Panik erfasst, presste sie sich die Hand vor den Mund. Die schnelle Bewegung jagte einen brennenden Schmerz durch ihren Arm und sie spürte erst jetzt ein dumpfes Pochen, das von ihrer Schulter bis in ihre Fingerspitzen ausstrahlte. Als Nächstes begrüßte sie ein bohrender Kopfschmerz, der sich zwischen ihren Schläfen eingenistet hatte.

In ihren Ohren rauschte es.

Das Geräusch rief eine Erinnerung in ihr wach. Sie hatte sich als Kind einmal eine große Muschel ans Ohr gehalten, weil ihr jemand gesagt hatte, man könne darin das Meer hören. Damals hatte sie nicht verstanden, dass es sich dabei lediglich um einen Schalleffekt handelte, der ihre Umgebungsgeräusche in dem Resonanzkörper an ihrem Ohr nur verstärkt hatte. Sie war der festen Überzeugung gewesen, dass es tatsächlich die Brandung des weit entfernten Ozeans gewesen war, die auf magische Weise ihren Weg in dieses Strandsouvenir gefunden hatte. Das Bild verblasste. War das überhaupt ihre eigene Erinnerung oder nicht vielmehr das unwirkliche Traumbild einer Fremden, das ihr halbwacher Verstand in diesem Moment in ihr heraufbeschworen hatte? Was auch immer es war, es war eine schöne Vorstellung. Weitaus angenehmer als das derzeitige Rauschen in ihren Ohren, das von einem hohen pfeifenden Ton begleitet wurde. Sie versuchte ein leises Stöhnen zu unterdrücken, als sie sich beinahe in Zeitlupe Stück für Stück aufsetzte. Dennoch begann die Welt augenblicklich sich um sie zu drehen und der einsetzende Schwindel ließ sie mit einem gequälten Laut zurück auf die weiche Matratze sinken.

Ein Bett. Sie lag in einem Bett.

Unter ihrem Kopf spürte sie ein großes weiches Kissen. Eine leichte Decke rutschte langsam von ihrem Oberkörper, während sie ein weiteres Mal versuchte sich vorsichtig zu erheben. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, als sie es endlich schaffte sich aufrecht hinzusetzen, ohne dass sie das Gefühl hatte, ihre Umgebung würde wie bei der Fahrt in einem Kinderkarussell um sie rotieren. Sie ließ ihren Blick schweifen. Durchsichtige Wände umgaben sie auf allen vier Seiten. Sie reflektierten das Licht der Deckenstrahler. Das war es also, was sie geblendet hatte.

Wie war sie bloß in diesen seltsamen Raum geraten?

Sie versuchte krampfhaft sich zu erinnern, aber je mehr sie sich anstrengte, desto unerträglicher wurde das Dröhnen hinter ihren Augenhöhlen. Da war ein lauter Knall gewesen und kurz darauf hatte der Schmerz sie wie ein Blitz durchzuckt. Dann war es dunkel um sie herum geworden.

Und nun war sie hier. Allein.

Der Raum glich einem überdimensionierten Aquarium, doch anstelle von Zierfischen und Wasser befanden sich darin nur das Bett, in dem sie gerade lag, und ein kleines Beistelltischchen. Hinter den transparenten Scheiben konnte sie nichts erkennen. Sollte dahinter ein weiterer Raum liegen, so war er verdunkelt. Sie fragte sich, wie es möglich sein konnte, dass es in diesem Glaskasten taghell war und alles außerhalb in eine undurchdringliche Schwärze gehüllt zu sein schien. Nicht zu wissen, was auf der anderen Seite auf sie wartete, machte ihr Angst. Dieser Raum machte ihr Angst. Sie merkte, wie sich ein Druck auf ihren Kehlkopf legte, wie ihr das Atmen immer schwerer fiel.

Sie musste hier raus. Sofort.

Ihre nackten Füße berührten die kalten Fliesen. Auf wackeligen Beinen machte sie erste zaghafte Schritte, steuerte auf eine der durchsichtigen Wände zu. Hier drin war einfach keine Luft. Sie hatte das Gefühl zu ersticken, als würde ein unsichtbares Gewicht auf ihrem Brustkorb lasten. Sie musste ruhig bleiben, ermahnte sie sich ein ums andere Mal. Und sie musste atmen, tief einatmen und ausatmen. Für einen kurzen Moment konzentrierte sie sich nur darauf Luft in ihre Lungenflügel zu ziehen, um diese anschließend mit einem langen Seufzen wieder auszustoßen. Das wiederholte sie solange, bis die erste Welle der Panik abgeebbt war und sie wieder einigermaßen klare Gedanken fassen konnte.

Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen, bis sie vor der Scheibe zum Stehen kam. Das Material war kalt unter ihren Händen. Sie konnte ihre Reflexion auf der leicht spiegelnden Oberfläche erkennen. Sie trug eine hellblaue weite Stoffhose und einen weißen Pullover, dessen Ärmel viel zu lange waren und über ihre Hände reichten. Der Stoff war angenehm weich auf ihrer Haut. Ein gutes Gefühl.

Es war nicht von Dauer.

Sie sah sich ihrem eigenen Gesicht gegenüber. Ausdruckslose blaue Augen starrten ihr entgegen, eingefasst von dunklen Ringen. Sie versuchte durch ihr Spiegelbild hindurch zu sehen, etwas in der Schwärze hinter der Glasscheibe zu erkennen.

„Ist da jemand?"

Sie konnte das Beben in ihrer Stimme nicht unterdrücken.

„Ist da jemand?", rief sie, nun lauter als zuvor.

„Schön, dass sie wach sind, Miss Goldstein."

Mit einem Schrei fuhr sie herum. Ihre Augen suchten fieberhaft nach dem Ursprung der Stimme. Sie wollte nicht zeigen, wie sehr sie sich fürchtete, wie sehr sie der Klang dieser fremden Stimme in Panik versetzte. Aber ein unkontrollierbares Zittern hatte ihren Körper erfasst und sie fühlte sich in diesem Glaskasten so schrecklich verwundbar. Instinktiv wollte sie ihren Geist wandern lassen, wollte in die Seelen aller blicken, die sich in diesem Augenblick in ihrer Nähe aufhielten. Doch so sehr sie sich auch anstrengte, es gelang ihr einfach nicht. Etwas blockierte sie, unterdrückte ihre Kräfte, zwang ihren Geist in ein starres Korsett, das sie nicht abstreifen konnte, egal mit welcher Macht sie auch dagegen ankämpfte. Sie kannte dieses Gefühl. Es erinnerte sie an etwas, an etwas Grässliches. Das Pochen in ihren Schläfen wurde stärker, je länger sie versuchte sich von diesen unsichtbaren Fesseln zu befreien.

„Bitte entschuldigen Sie, wenn ich Sie erschreckt habe, Miss Goldstein."

Wieder diese eigenartige Stimme. Sie drehte sich einmal um sich selbst, aber ganz gleich wie oft sie noch in die vier Ecken des Raumes starrte, es war niemand zu sehen. Sie wusste auch nicht, wer diese Miss Goldstein sein sollte, zu der die Stimme gesprochen hatte. War damit etwa sie gemeint?

„Wer-wer bist du?", brachte sie schließlich hervor.

„Ich bin J.A.R.V.I.S., eine künstliche Intelligenz."

„Ein Roboter?", sprach sie den ersten Gedanken aus, der ihr in den Sinn kam.

„Nein, wenn man es genau nimmt, dann ich bin nur ein eher sehr intelligentes Computerprogramm, zumindest nennt mich Mr. Stark des Öftern so."

„Mr. Stark?", murmelte sie und das Dröhnen in ihrem Kopf wurde durch die ständigen neuen Informationen, mit denen dieser J.A.R.V.I.S. sie fütterte, von Mal zu Mal schlimmer.

„Anthony Edward Stark, der Eigentümer von Stark Industries und Besitzer des Gebäudes, in dem Sie sich gerade befinden, Miss Goldstein."

Er hatte es schon wieder getan. Warum nannte dieser J.A.R.V.I.S. sie immerzu Miss Goldstein? Und wer war Anthony Edward Stark? Ihr war mit einem Mal wieder so furchtbar schlecht und sie schaffte es gerade noch rechtzeitig zurück zu ihrem Bett, auf das sie sich taumelnd fallen ließ. Erst jetzt bemerkte sie etwas Kaltes um ihren Hals. Mit beiden Händen zerrte sie an einer Art metallischem Ring, der wie ein enges Halsband um ihre Kehle angebracht war.

Dieses Ding war es! Dieses Ding hielt ihren Geist gefangen, blockierte ihre Kräfte.

Aber so sehr sie auch mit aller Macht an diesem scheußlichen Ding zog, es nutzte alles nichts. Der Halsreif war stabil und bewegte sich keinen Millimeter. Ihre schlimmste Angst bewahrheitete sich. Sie war eine Gefangene, eine Gefangene dieses J.A.R.V.I.S., dieses Mr. Stark. Dabei hatte man ihr doch gesagt, dass sie sich nie wieder zu fürchten brauchte, dass sie nie wieder allein sein würde, dass sie frei sein würde, wenn sie das machte, was man ihr sagte. Sie hatten es ihr versprochen. Er hatte es ihr versprochen. Aber wo war ihre Familie, wo war der Mann, dessen Schutz sie in diesem Moment mehr denn je brauchte?

Sie erinnerte sich wieder. Sie erinnerte sich wieder an ihn, an ihren Retter, ihren dunklen Engel, der sie aus dem schrecklichsten Elend befreit hatte. Wo war er nur? Wo war Nicolaj?

Die Tränen strömten unkontrolliert über ihre Wangen. Ein fast schon schmerzhaftes Schluchzen ließ ihren gesamten Brustkorb erbeben. Sie kauerte sich auf der Matratze zusammen, die Knie eng an ihre Brust gezogen, ihr Körper von einem heftigen Zittern geschüttelt. Die eigenartige Stimme schwieg und sie war dankbar, dass dieser J.A.R.V.I.S. beschlossen hatte, sie fürs Erste in Ruhe zu lassen. Sie hoffte nichts mehr, als dass die Welt da draußen sie ebenso in Frieden lassen würde, dabei wusste sie tief in ihrem Innersten, dass dies nur ein dummer Wunsch bleiben würde.

Er hatte recht gehabt. Nicolaj Seizew hatte die Wahrheit gesagt.

„Sie werden dich einsperren!", hallte seine Stimme in ihr wider.

„Sie werden dich erforschen!"

„Und sie werden dir wehtun!"

„Wieder und wieder!"

Sie war eine Gefangene, eingesperrt in einen gläsernen Käfig. Sie hatten ihr ein Halsband angelegt, wie man es bei einem wilden Tier tat.

„Ein Mittel zum Zweck, ein Forschungsobjekt, mehr Tier als Mensch!", hörte sie erneut den Widerhall seiner Stimme.

Sie presste sich beide Hände auf die Ohren, um nicht mehr die grässlichen Dinge zu hören, die sich wie ein Echo in ihrem Innersten fortpflanzten. Sie würden kommen. Sie würden ihr wieder wehtun. Und Nicolaj würde nicht da sein, um sie zu retten. Niemand würde sie dieses Mal retten. Sie war allein.

Jemand schrie. Eine Frauenstimme. Ihre eigene Stimme.

Sie wusste nicht, woher sie die Kraft nahm, aber auf einmal war sie wieder auf ihren Beinen, packte das kleine Tischchen und schleuderte es mit aller Macht gegen die gläserne Wand ihres Gefängnisses. Mit einem dumpfen Schlag traf es auf die Oberfläche, doch die Scheibe hielt stand. Nicht einmal ein kleiner Riss war zurückgeblieben.

„Miss Goldstein, hören Sie auf! Sie werden sich nur selbst verletzten", meldete sich die ruhige Stimme von J.A.R.V.I.S. plötzlich wieder zur Wort.

„Dann lasst mich raus hier!", schrie sie und ihre Panik gepaart mit einem plötzlichen Adrenalinrausch verliehen ihr ungeahnte Kräfte, jene Kräfte, die in jeder noch so schwachen Kreatur schlummerten und erst zutage traten, wenn sich Verzweiflung und Todesangst wie ein gähnender Abgrund vor einem Lebewesen auftaten.

Sie ergriff die metallischen Füße ihres Bettes und schaffte es das Gestell gegen eine der Wände zu stoßen. Wieder und wieder stemmte sie sich mit ihrem gesamten Körpergewicht dagegen und das Metall stieß ein ums andere Mal mit einem lauten Knall gegen die Scheibe.

„Miss Goldstein, diese Scheiben sind aus einem neuartigen Material gefertigt, dass etwas viel Stärkerem als Ihnen standhalten kann", informierte sie die Stimme in gewohnt neutralem Tonfall, doch sie wurde von ihrem eigenen, angestrengten Keuchen und dem Aufprall von Metall auf Glas übertönt.

Etwas Warmes lief an ihrem Arm hinab, aber sie ignorierte den Schmerz, der sich auf einmal bis in ihre Hand ausbreitete und setzte stattdessen ihr zunehmend sinnloses Unterfangen fort. Ihr Versuch aus diesem Gefängnis zu entkommen war einfach nur erbärmlich. Sie war zu schwach. Dieser J.A.R.V.I.S. hatte recht. Völlig entkräftet sank sie neben dem Bett zusammen. Ihr Oberarm brannte und als sie an sich herab sah, bemerkte sie, dass der weiße Ärmel ihres Pullovers sich rot verfärbt hatte. Und rote Tropfen sammelten sich auf den hellen Fliesen unter ihr.

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