Kapitel 37: Pieta

„Du hast sie erschossen!"

Buckys Schrei ging durch Mark und Bein, übertönte selbst den mittlerweile vertrauten ohrenbetäubenden Lärm der Sirenen und riss Steve aus seiner eigenen Benommenheit.

„Angeschossen", korrigierte Natasha in gewohnt beherrschtem Tonfall, aber ihre unruhig umherwanderten Augen verrieten, dass die ehemalige S.H.I.E.L.D.-Agentin in dieser Situation alles andere als souverän war.

„Sie ist nur bewusstlos. Ein Streifschuss mehr nicht. Ich musste sie ablenken, damit ich nahe genug an sie rankomme, um ihr einen Taser Disk zu verpassen", versuchte die Rothaarige weiter zu erklären, aber als sie den ehemaligen Winter Soldier auf sich zukommen sah, verstummte die sonst so nervenstarke Frau und machte unbewusst einen Schritt nach hinten.

In Buckys hellen Augen spiegelten sich Verzweiflung und blinde Wut, die jeden Augenblick in Raserei umzuschlagen drohten. Steve hatte geglaubt, dass er ihn schon in der schrecklichsten aller denkbaren Gefühlslagen erlebt hatte, aber als er nun in das Gesicht seines einstigen Freundes sah, in dem blankes Entsetzen und aufflammender Zorn um die Vorherrschaft kämpften und noch dazu eine blutende Schnittverletzung klaffte, da wusste er, wie falsch er mit dieser Annahme doch gelegen hatte. Waren Romanoffs Worte überhaupt in seinem derzeitigen Zustand zu ihm durchgedrungen? Es erweckte nicht den Anschein, denn Bucky näherte sich ihr weiter mit unverminderter Mordlust in den Augen. Heftige Atemzüge ließen seine Brust erbeben. Die eisblauen Augen waren zu gefährlichen Schlitzen verengt. Sein Gebaren glich dem eines verwundeten Raubtieres, das zwar verletzt und desorientiert aber dadurch nicht weniger todbringend war. Und Steve wurde schlagartig bewusst, dass die Bestie, in die Hydra seinen Kindheitsfreund verwandelt hatte, immer noch unter der meist so ruhig und beherrscht wirkenden Oberfläche dieses Mannes lauerte, dass der Winter Soldier weiterhin in James Buchanan Barnes existierte, wie ein kaum hörbares doch gefährliches Echo tief in seinem Unterbewusstsein, darauf wartend seine zerstörerische Macht erneut auf seinen Wirtskörper auszuüben.

Neben Natasha angelte Clint blitzschnell einen neuen Pfeil aus seinem Köcher, bereit seine Teamkollegin und Freundin zu verteidigen, wenn es sein musste. Steve warf einen kurzen Blick auf Rebecca, die leblos zu seinen Füßen am Boden lag. Er hatte keine Ahnung, was gerade eben passiert war, aber eines war sicher: Romanoff sagte die Wahrheit. Die Frau war am Leben, es hatte sie nur am Oberarm erwischt, selbst wenn sie aus ihrer Wunde stark blutete. Steve stellte sich Bucky entgegen, packte ihn an seinem Metallarm, um ihm eindringlich in die Augen zu sehen.

„Alles gut Buck. Sie lebt."

Energisch riss sich Bucky los. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte Erleichterung in diesen unruhigen blauen Augen auf, doch dann verdunkelten sie sich erneut, überlagert von Angst, dicht gefolgt von überschäumender Wut. Steve wurde erst jetzt bewusst, wie ausdrucksstark die Augen dieses sonst so kühlen, stillen Mannes sein konnten. Darin war für kurze Zeit sein ganzes Wesen zu sehen, all die Verletzlichkeit, die Trauer und der unterdrückte Zorn, die ihn wohl tagtäglich in jedem wachen Moment verfolgten. Und Steve hätte sich dafür ohrfeigen können, dass er in seinem Freund einmal mehr den Winter Soldier gesehen hatte, wenn es doch allein die schreckliche Angst gewesen war, einen geliebten Menschen zu verlieren, die von Bucky Besitz ergriffen hatte.

„Was zum Henker ist denn bei euch da drin los, Cap?", meldete sich plötzlich ein aufgebrachter Wilson durch die Headsets zu Wort.

Steve dankte Sam innerlich für diese Störung zum genau richtigen Zeitpunkt, bevor die Stimmung endgültig kippte und ein wildgewordener Bucky sich gleichzeitig mit Black Widow und Hawkeye anlegte, während Rebecca verletzt am Boden lag und ihnen außerdem langsam aber sicher die Zeit davon lief. Egal, was es war, es musste warten, bis sie aus dieser Bunkeranlage draußen waren. Und wenn seine Mitstreiter in ihrer derzeitigen Lage nichts Besseres zu tun hatten, als sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen, dann war es wieder einmal an ihm einen kühlen Kopf zu bewahren und sie aus dieser misslichen Lage zu führen.

„Wir haben Rebecca, aber hier geht gleich alles in die Luft. Du musst uns hier rauslotsen, Sam!", antwortete Steve, während er Bucky dabei beobachtete, wie er an Rebeccas Seite stürzte und sie stumm an seine Brust presste.

Ohne ihn und die Anderen nur eines weiteren Blickes zu würdigen, hob Bucky im nächsten Moment die Frau in seine Arme und rannte dann in Richtung des Ausganges. Sie taten es ihm gleich und gemeinsam stürmten sie zwischen den Containern aus der Lagerhalle hinaus. In großen Buchstaben war L 020 auf der Tür vermerkt und Steve gab die Bezeichnung der Halle an Wilson durch, damit dieser sie nach Kräften dabei unterstützen konnte, den schnellsten Weg hinaus zu finden. Derweil konzentrierte sich Steve vor allem darauf, so schnell wie möglich einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sein Kopf schwirrte immer noch und ihm war mittlerweile klar, dass es Rebecca gewesen sein musste, die sie mit ihren telepathischen Kräften angegriffen hatte. Aber warum hatte sie das getan? Es ergab keinen Sinn, es sei denn -

„Noch 10 Minuten bis zur Selbstzerstörung!", verkündete eine erneute Durchsage über das Sirenengeheul hinweg.

Vor ihnen schoss Bucky wie ein schwarzer Pfeil durch die Gänge. Unermüdlich sprintete er in gleichbleibend hohem Tempo zum Kreischen des Alarms vorbei an den Leichen unzähliger Gegner. Dabei war es wirklich erstaunlich, dass Bucky derart schnell vorankam, denn bei dem Kampf mit diesem Hydra-Agenten hatte er einiges einstecken müssen. Steve machte sich große Vorwürfe, dass er seinem Freund nicht beigestanden hatte. Doch es war offensichtlich Buckys Wunsch gewesen, dass er sich um Rebecca kümmerte und deshalb hatte er die Bewusstlose mit seinem Körper und seinem Schild geschützt, als Bucky sich alleine mit dem Kerl angelegt hatte. Wahrscheinlich würden sie nie erfahren, wer der Mann gewesen war, der seinem Freund nicht nur auf erschreckende Weise äußerlich ähnelte, sondern sogar über vergleichbare Körperkraft und Kampfstärke zu verfügen schien. Es war auch nicht mehr von Bedeutung, schließlich hatten sie ihn offensichtlich schwerverletzt zurückgelassen und er konnte es unmöglich in seinem Zustand lebend aus der Bunkeranlage schaffen.

„Noch 5 Minuten bis zur Selbstzerstörung!"

Fast machte es auf Steve den Eindruck, als wolle die künstlich generierte Stimme sich mit der ständigen Mahnung an ihren Todescountdown über sie lustig machen.

„Wie weit noch?", keuchte er in sein Headset.

„Noch zweimal nach links, dann habt ihr's geschafft. Beeilt euch!", antwortete Sams Stimme.

„Glaubst du wir machen hier drin Sightseeing?", brachte Clint zwischen zwei tiefen Atemzügen hervor und Steve fragte sich nicht zum ersten Mal, wie der Bogenschütze es immer wieder anstellte in jeder noch so verzwickten Lage einen flotten Spruch parat zu haben.

Endlich bogen sie auf die Zielgerade ein. Der Anblick der offen stehenden Stahltür beflügelte nicht nur Steves letzte Schritte, denn mit einem Mal schien sich die Laufgeschwindigkeit aller zu vervielfachen und schließlich stürzten sie aus dem Bunker, blieben jedoch nicht stehen, sondern rannten immer weiter in den angrenzenden Wald hinein, um eine möglichst große Distanz zwischen sich und die Hydra-Basis zu bringen. Sam rannte auf einmal ebenfalls neben Steve und wieder vereint schlug sich das Team durch den unwegsamen Wald.

Und dann erzitterte unter ihnen der Waldboden wie bei einem Erdbeben. Ein dunkles Grollen drang durch die Nachtluft, jagte sicherlich nicht nur Steve einen Schauder über den Rücken. Die Bäume um sie herum knarzten verräterisch und er war dankbar, dass es viel zu dunkel war, um die taumelnden Riesen bei ihrem grotesken Reigen zu beobachten. Er wollte gar nicht sehen, wie die Baumkronen sich unter dieser unnatürlichen Erschütterung zu ihnen hinab bogen. Das Letzte, was sie nun gebrauchen konnten, war von einem umfallenden Baum erschlagen zu werden, nachdem sie kurz zuvor nur knapp dem sicheren Tod entkommen waren. Also rannten sie weiter, immer weiter durch die Nacht und den Regen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten sie endlich die kleine Lichtung mit dem Quinjet. Völlig durchnässt, aber lebendig. Steve war schon lange nicht mehr so glücklich den Hightech-Jet der Avengers zu sehen und verlangsamte seine Schritte, als sie sich dem nur schemenhaft zu erahnenden Flugzeug näherten, dessen Unterbodenbeleuchtung die unmittelbare Umgebung in ein beinahe gespenstisches Licht hüllte.

Bucky sank neben ihm zu Boden, Rebecca immer noch an sich gepresst. Sie war nach wie vor ohnmächtig und der Mann wiegte sie unbewusst wie ein schlafendes Kind in seinen Armen. Dieses Bild würde Steve so schnell nicht mehr aus seinem Kopf bekommen. Es erinnerte ihn an eine Statue Michelangelos, die er einmal in einem Bildband über sakrale Kunst gesehen hatte. Und wenngleich der italienische Bildhauer in seiner Pietà die Gottesmutter mit ihrem toten Sohn in Marmor verewigt hatte, so war es eben jenes Werk voller Schmerz und dennoch unsterblicher Zuneigung, woran Steve denken musste, als er Zeuge wurde, wie Bucky die nassen Haare aus der Stirn der Frau strich, wie er sich zu ihr herabbeugte und ihr unverständliche Dinge zu murmelte und dabei halb lächelnd halb weinend in ihr regungsloses Gesicht blickte.

Vielleicht lag es nur am Adrenalin, das sich langsam wieder aus seinen Blutbahnen verflüchtigte oder seine Sinne waren noch anderweitig von der überstandenen Tour de Force vernebelt, aber in diesem Moment war das Bild des am Boden kauernden Mannes, an dessen Metallarm das Blut in zähen Bahnen hinabfloss und der dennoch mit einem fast schon entrückten Lächeln auf die bewusstlose Frau in seinen Armen hinabsah, der schönste und gleichzeitig ehrlichste Liebesbeweis, den Steve Rogers jemals gesehen hatte.
Für eine unbestimmte Zeit sagte niemand etwas. Keiner wagte es diesen Augenblick durch irgendeine unüberlegte Äußerung zu zerstören.

Immer noch rang jeder Einzelne von ihnen um Atem oder versuchte seine wirren Gedanken halbwegs wieder in geregelte Bahnen zu lenken. Steve selbst riss sich schließlich zusammen und konzentrierte sich auf ihre dringlichsten Probleme. Bucky und Rebecca mussten verarztet werden und sie sollten zudem schnellstens diesen Ort verlassen, denn wer konnte schon ahnen, ob nicht weitere Hydra-Einheiten in diesem Moment gegen sie vorrückten, weil sie sie irgendwie aufgespürt hatten und ihnen die Gefangene nicht kampflos überlassen wollten. Er würde jedenfalls keine weiteren Risiken eingehen.

Als hätte er Steves Gedanken erraten, setzte sich Barton in Bewegung, öffnete die Heckklappe des Quinjets und ging, dicht gefolgt von Natasha, an Bord. Gerade als Steve sich an ihn wenden wollte, erhob sich Bucky wortlos und steuerte ebenfalls auf das Hinterteil des Flugzeuges zu. Zurück blieben nur Sam und er selbst.

„Scheiße Mann, was ist da drin passiert?", durchbrach Wilsons Stimme die erneute Stille der Nacht.
Im Gehen legte er seinem Freund die Hand auf die Schulter, einmal mehr froh und dankbar, Sam Wilson an seiner Seite zu wissen.

Ja, was genau war eigentlich passiert?

Sie hatten Rebecca gerettet, hatten eine ganze Hydra-Basis dem Erdboden gleich gemacht, er hatte wieder Seite an Seite mit Bucky gekämpft und dennoch fühlte sich das alles nicht richtig an. Ihrem Sieg haftete ein fader, widerlicher Beigeschmack an. Steve konnte diesen Gedankengang jedoch nicht zu Ende bringen, da ein wütender Schrei aus dem Quinjet bereits das nächste Unheil ankündigte. Also blieb er Sam eine Antwort schuldig und eilte stattdessen mit diesem gemeinsam in das Innere des Flugzeuges. Dort angekommen, war schnell ersichtlich, was vorgefallen war. Natasha stand mit Verbandszeug bewaffnet vor einem an der Wand sitzenden Bucky, der immer noch die bewusstlose Rebecca an sich presste und mit zornigen Augen die rothaarige Frau vor sich anfunkelte.

„Steve, wenn du sie mir nicht vom Leib hältst, kann ich für nichts garantieren", zischte Bucky, ließ sein Gegenüber aber keine Sekunde aus den Augen.

Ein genervtes Seufzen entfuhr Romanoff, als sie sich zu Steve umdrehte und mit den Augen rollte.

„Cap, bring du ihn zur Vernunft. Ich muss Rebeccas Blutung stoppen."

Und wieder an Bucky gewandt fügte sie mit gespitzten Lippen hinzu: „Und du solltest dich auch verarzten lassen, bevor du noch den ganzen Jet vollblutest!"

„Du fasst Rebecca nicht an!", spie Bucky der Frau entgegen, riss sich das Headset vom Kopf und zog dann den leblosen Körper noch fester an sich, so als rechne er damit, dass jederzeit eine weitere Attacke auf ihn und seinen Schützling erfolgen könnte.

Mit einer beschwichtigenden Geste näherte sich Steve ihnen. Dann ging er vor Bucky in die Hocke, versuchte Blickkontakt herzustellen, während sich die Heckklappe des Quinjets langsam schloss und die Schubdüsen aufheulten.

„Hey Buck, niemand wird dir oder Rebecca etwas tun."

Ein feuriger Blick des Dunkelhaarigen sagte ihm, dass er von seinen Worten alles andere als überzeugt war. Selbst in seinen eigenen Ohren klang sein Beruhigungsversuch wie eine hohle Phrase, immerhin hatte Romanoff tatsächlich auf die Blondine geschossen, auch wenn sich keine böse Absicht dahinter verborgen hatte. Genau genommen hatte Natasha aus Notwehr gehandelt und nicht nur seinen eigenen, sondern auch Buckys Hintern gerettet, aber das war sicherlich das Letzte, was sein immer noch aufgebrachtes Gegenüber nun aus seinem Mund hören wollte.

„Komm schon, Buck. Lass sie uns verarzten und lass uns auch einen Blick auf deine Verletzungen werfen. Die Schulterwunde sieht übel aus."

Als Bucky ihn nach einem kurzen Zögern erneut ansah, wusste Steve, dass er gewonnen hatte. Etwas unbeholfen lockerte er seine Arme, mit denen er die Frau in einer fast schon brutalen Umarmung an sich gedrückt hatte.

„Ich dachte, ich habe sie verloren. Ich dachte, Becca ist tot."

Geflüsterte Worte, kaum hörbar, doch Steve verstand jedes einzelne von ihnen. Die plötzliche Leere in den hellen Augen seines Freundes brach ihm das Herz und er spürte, wie sich ein dicker Kloß in seinem eigenen Hals bildete. Es kostete ihn einige Überwindung zu sprechen.

„Aber sie lebt, Buck. Und sie ist jetzt in Sicherheit."

Der Angesprochene schien noch einmal mit sich zu ringen, doch dann nickte er ihm zu. Steve warf einen kurzen Blick zu Wilson, der etwas unschlüssig hinter ihm stand.

„Hilfst du uns, Sam?"

Und damit drückte Natasha Wilson das Verbandsmaterial in die Hände, während Steve aus Buckys Armen die bewusstlose Frau in Empfang nahm. Behutsam setzte er ihren Körper auf einen Polstersitz in der Nähe und sie begannen ihre Wunde zu inspizieren. Rebecca trug nur ein leichtes Tanktop, das mittlerweile klitschnass und blutdurchtränkt an ihrem schmalen Oberkörper klebte. Tatsächlich hatte Romanoffs Schuss nur den Arm gestreift und nachdem sie die Wunde desinfiziert hatten, ließ sich die Blutung mit einem Druckverband problemlos stoppen.

Sams zweiter Patient war wesentlich störrischer und es kostete Steve einige Überredungskunst, bis Bucky sich schließlich von ihnen behandeln ließ. Allein bis er ihn soweit hatte, endlich die schusssichere Weste sowie die darunter liegende Kleidung auszuziehen, verging eine gefühlte Ewigkeit. Er war schlimm zugerichtet. Streifschüsse, dazu eine böse Schnittverletzung auf der Wange und nach Buckys schmerzverzerrtem Gesicht zu urteilen, als er sich vom Boden erhob, um ebenfalls auf einem Sitz neben der Frau Platz zu nehmen, zusätzlich noch Prellungen und wahrscheinlich die eine oder andere gebrochene Rippe. Am schlimmsten sah jedoch die tiefe Messerwunde direkt neben seinem Metallarm aus. Dieser Verletzung widmete sich Sam zuerst. Bucky ließ alles ohne einen einzigen Ton über sich ergehen. Seine Augen waren starr auf Rebecca gerichtet, die wie ein Häufchen Elend auf dem Sitzplatz neben ihm zusammengesunken war.

Natasha stand etwas abseits mit verschränkten Armen und wandte sich mit gedämpfter Stimme an Steve, als er zu ihr trat.

„Ich weiß nicht, wie lange der Taser Disk sie ausknockt. Wir müssen uns was einfallen lassen, bevor sie wieder aufwacht."

Es klang verdammt herzlos, doch Steve wusste, dass Romanoff einmal mehr richtig lag. Er war sich mittlerweile sicher, dass Rebecca nicht nur ihn, sondern auch Bucky mit einer Art Psychoattacke im Bunker angegriffen hatte. Er verstand zwar nicht, was sie dazu gebracht hatte, doch mussten sie sich tatsächlich Gedanken machen, wie sie mit einer unkontrollierbaren Telepathin fertig werden sollten, noch dazu in einem Flugzeug, das gerade wieder Kurs auf New York City nahm.

„Wir haben Beruhigungsmittel an Bord. Ich schlage vor, wir verabreichen ihr direkt eine Ladung und ich nehme Kontakt mit dem Avengers Tower auf. Sicherlich will Stark vorbereitet sein, wenn wir ihm eine tickende Zeitbombe vor seinem Wohnzimmer platzieren."

Die Vorstellung, die ohnehin schon geschwächte Rebecca nun auch noch unter Drogen zu setzen, sagte Steve überhaupt nicht zu, aber er verbiss sich einen Kommentar und bedeutete Natasha mit einem Nicken, dass er keine Einwände hatte. Was blieb ihnen denn anderes übrig? Nicht auszudenken, was passieren würde, sollte es ihr noch einmal gelingen in ihre Gedanken vorzudringen. Langsam ahnte Steve, warum Hydra so versessen darauf gewesen war, die junge Frau in ihre Gewalt zu bekommen und sein Magen krampfte sich schlagartig zusammen, als er im nächsten Moment daran dachte, was man Rebecca in den vergangenen Tagen womöglich angetan hatte.

„Bucky?"

Blaue Augen zuckten in sein Gesicht. Der Mann sah schrecklich aus. Sein Gegenüber spiegelte dieselbe Erschöpfung wider, die er selbst in jedem Muskel, jeder Sehne seines Körpers verspürte, wenngleich Steve wusste, dass die vergangenen Stunden seinem Freund noch viel stärker zugesetzt hatten.

„Buck, wir werden Rebecca jetzt ein Beruhigungsmittel geben. Es wird ihr nicht schaden, keine Sorge."

Steve hatte sich schon auf die heftigsten Proteste eingestellt, doch der einstige Winter Soldier ergriff mit seiner menschlichen Hand nur die leblose Hand der Frau und schien ihn nicht weiter zu beachten. Erst als sich Romanoff mit einem Injet-Pen näherte, verengten sich seine Augen ein weiteres Mal zu gefährlichen Schlitzen und seine gesamte Haltung verkrampfte sich. Und dann passierte etwas, was Steve noch nie zuvor erlebt hatte und so schnell sicherlich auch nicht wieder erleben würde.

Natasha Romanoff, Black Widow, entschuldigte sich.

Die Rothaarige sah Bucky fest in die Augen und für einige Zeit starrten sie einander nur wortlos an, so als würden sie einen stillen unsichtbaren Kampf miteinander ausfechten. Und dann kamen diese ungewohnten Worte über Natashas schöne geschwungene Lippen.

„Es tut mir leid, dass ich auf sie geschossen habe. Ich hätte es nicht getan, wenn uns eine andere Möglichkeit geblieben wäre."

Bucky fixierte sie weiter, doch nach einer Weile wich die Kälte aus seinem Blick und er senkte seinen Kopf, um auf Rebeccas schmale Hand zu sehen, die schlaff in seiner eignen lag. Romanoff verstand diese stille Duldung und näherte sich der Frau, um ihr behutsam das Mittel in den gesunden Arm zu injizieren.

„Das sollte sie für die nächsten Stunden ruhig stellen", ließ Natasha sie wissen und bewegte sich dann in Richtung Cockpit, um wie angekündigt den Avengers Tower anzufunken.

Vielleicht hatten sie ein paar Stunden Zeit gewonnen, aber Steve fragte sich, was sie unternehmen sollten, wenn die Telepathin doch schließlich erwachen und sie wieder angreifen würde.

„Steve?"

Er zuckte zusammen, als Buckys leise Stimme plötzlich die einsetzende Stille durchbrach.

„Das war nicht Rebecca."

Steve runzelte die Stirn, aber hütete sich seinem Freund ins Wort zu fallen.

„Eben im Bunker, das war nicht Rebecca, die uns da angegriffen hat. Sie war in unseren Köpfen, sie wollte uns Schmerzen zufügen, aber sie war nicht sie selbst. Becca würde so etwas niemals tun."

In diesem Moment fragte sich Steve zum ersten Mal, was Bucky überhaupt über die Vergangenheit dieser Frau wusste, die ihm so sehr am Herzen lag, dass er ohne zu zögern sein Leben für sie aufs Spiel setzte. Rebecca hatte ihre Kräfte schon früher missbraucht, auch wenn Zola und diese anderen Widerlinge sie dazu gezwungen hatten. Die Bilder aus der Videoaufzeichnung spielten sich erneut vor Steves innerem Auge ab und ihm kamen plötzlich Zweifel, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, die Telepathin mit an Bord zu nehmen.

Sie alle hatten gesehen, was es bedeutete, wenn man die Seele eines Menschen ins Gegenteil verkehrte, wenn man die Macht besaß in die Gedanken der Menschen einzudringen und sie seinem Willen zu unterwerfen. Bei der Chitauri-Invasion vor zwei Jahren hatte sich Loki aus Asgard mithilfe eines magischen Zepters in Clint Bartons Kopf eingenistet und den Bogenschützen als Handlanger missbraucht. Und nun hatte Steve erstmals am eigenen Leib erfahren, wie es sich anfühlte, wenn man nur noch ein willenloser, hilfloser Haufen Muskelmasse war, der einem anderen Wesen schutzlos ausgeliefert war. Steve hasste sich für diese Gedanken, weil er damit der jungen Frau Unrecht tat, die stets versucht hatte gegen ihre Peiniger anzukämpfen, die viele Jahre zurückgezogen und in ständiger Angst vor Hydra gelebt hatte, nur weil sie ihre Mitmenschen vor sich selbst schützen wollte. Wie konnte er nur so über Rebecca denken, über sie urteilen, wenn er doch selbst alles für seinen einstigen Freund tun würde, in dem Andere nicht mehr sahen als den Winter Soldier, einen eiskalten Mörder und Attentäter?

In diesem Moment setzte Steve alle seine Hoffnungen auf Tony Stark. Das selbst ernannte Genie hatte eine unwahrscheinlich große Klappe, das war kein Geheimnis. Aber wenn es jemanden gab, der eine Idee auf Lager haben könnte, wie man die Kräfte einer Telepathin so einschränken konnte, dass sie weder für Andere noch für sich selbst eine Gefahr darstellte, dann war es definitiv Stark.

Zumindest hoffte er das.

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