Kapitel 34: Angriff

„Besprechungsraum Zwei befindet sich hinter der siebten Tür links", ertönte die Stimme von J.A.R.V.I.S., als der Aufzug auf der mittleren Ebene des Avengers Towers zum Stehen kam.

Die wenigen Sekunden, die der Lift benötigt hatte, um sie nach unten zu befördern, hatten sich für Steve wie eine kleine Ewigkeit hingezogen, die er neben Bucky schweigend und starr geradeaus blickend zugebracht hatte. Der Mann zu seiner Rechten war einmal mehr tief in Gedanken versunken, ganz so wie er ihn in den vergangenen Tagen kennengelernt hatte. An die Stelle des einst fröhlichen, lebenshungrigen jungen Mannes war ein wortkarger Grübler getreten, der in der Zwischenzeit zwar nur wenige Jahre gealtert zu sein schien und doch den Eindruck machte, als würde er die Last von Jahrhunderten auf seinen Schultern tragen. Nicht nur er war für Bucky zu einem Fremden geworden, auch umgekehrt erkannte Steve seinen ehemals besten Freund kaum noch wieder.

Er war ein Anderer, würde nie wieder der Alte sein können, selbst wenn er sich nach und nach an Dinge zu erinnern begann. Der Freund, der vor seinen Augen in einen eisigen Abgrund gestürzt war, würde nie wieder zu ihm zurückkehren. Und diese Erkenntnis hatte Steve noch einmal den lange verdrängten Schmerz von damals erleben lassen. Insgeheim hatte er während seiner Suche mit Wilson immer gehofft, dass ein erneutes Wiedersehen ihm auch den alten Bucky zurückbringen würde, dass er in der Zwischenzeit wieder ein Stückchen mehr zu eben jenem Mann geworden war, den Steve früher wie einen Bruder geliebt hatte. Bisher waren jedoch all seine Hoffnungen enttäuscht worden. Er war nicht mehr der Winter Soldier, so viel stand fest. Allein dieser Umstand vermochte es zumindest ein Gefühl von Erleichterung und vielleicht sogar zaghafter Freude in Steve auszulösen. Aber der Mann an seiner Seite war auch nicht mehr James Buchanan Barnes.

Steve hatte wenig geschlafen in den vergangenen Nächten und so war ihm viel Zeit geblieben, um nachzudenken. Und als die Enttäuschung, die Trauer und die Wut von ihm abgefallen waren, da hatte er verstanden, dass es nicht mehr wichtig war, dass es für ihn nicht mehr von Bedeutung war. Er hatte die Kraft gefunden seinen alten Freund gehen zu lassen. Nach mehr als 70 Jahren hatte Steve endlich den Mut aufgebracht, von Bucky Barnes Abschied zu nehmen. Der alte Bucky war tot, aber dennoch hatte das Schicksal ihm eine zweite Chance gegeben, hatte diesen stillen, verletzlichen Mann wieder in sein Leben treten lassen, der wie er selbst in einer fremden Welt erwacht war, dessen helle Augen von so viel Trauer und Selbsthass beherrscht waren, der seinem Bucky so sehr glich und dennoch ein völlig anderer Mensch war. Und Steve hatte beschlossen, dass er diesen anderen Bucky kennenlernen wollte.

Es würde nie wieder so sein wie früher, aber es würde ihm reichen. Und er würde dem neuen Bucky ein genauso guter Freund werden wie dem Mann, der er einmal gewesen war.

Steve konnte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie schwierig die letzten drei Tage für Bucky gewesen sein mussten. Einmal mehr war er umgeben von Fremden, wurde erneut aus einer Umgebung gerissen, an die er sich wohl gerade erst halbwegs gewöhnt hatte und in eine Welt gestoßen, die er nicht kannte, nicht verstand. Buckys anhaltendes Schweigen verwunderte Steve somit keinesfalls und er verübelte es dem Mann nicht, dass er seine Besuche und einseitigen Gespräche in der Zwischenzeit sicherlich mehr als Leid war, dass er keinen Wert auf seine Gesellschaft legte und sich wohl nichts sehnlicher wünschte, als endlich von diesem aufdringlichen Unbekannten in Ruhe gelassen zu werden. Aber Steve dachte nicht im Traum daran, Bucky seinen düsteren Gedanken und den Geistern seiner Vergangenheit bei Hydra kampflos zu überlassen. Bucky war viel zu lange allein gewesen. Doch da war noch mehr. Er musste nur in das so vertraute Gesicht des Mannes sehen, um zu erkennen, dass da noch etwas Anderes war, was an Bucky nagte, worüber er sich selbst aber nicht bewusst zu sein schien.

Und schließlich war es Steve Rogers wie Schuppen von den Augen gefallen.

Er hatte keine Ahnung, was während ihrer Flucht und der gemeinsamen Zeit zwischen Bucky und Rebecca vorgefallen war. Nicht einmal im Entferntesten konnte er sich ausmalen, wie die Frau mit ihrem unberechenbaren einsilbigen Begleiter zurechtgekommen war. Doch irgendwie musste es ihr gelungen sein, das Schweigen und die Ablehnung zu durchbrechen, die seinen einstigen Freund wie eine unüberwindliche Mauer umgaben. Und damit hatte Rebecca Goldstein etwas vollbracht, was er selbst bisher einfach nicht schaffen konnte. Steve war mittlerweile davon überzeugt, dass Rebecca der einzige Grund war, warum ihr Treffen im Wald nicht weiter eskaliert war, warum Bucky sogar widerstandslos mit ihnen nach New York gekommen war, warum er seither in diesem Apartment ausharrte.

Steve musste blind gewesen sein, denn nur ein Blinder konnte nicht erkennen, was doch so offensichtlich in Buckys Augen zu lesen war. Er liebte diese Frau. Sogar der Hund schien ihm ans Herz gewachsen zu sein, denn der Tod des Tieres hatte ihm wohl genauso stark zugesetzt wie Rebeccas Entführung. Die Vorstellung, dass der einstige Hydra-Killer um einen toten Hund trauerte und sich Hals über Kopf in eine Frau verliebte, klang selbst in Steve Rogers Ohren bestenfalls utopisch. Doch schien genau dieses aller unwahrscheinlichsten Szenarien eingetreten zu sein. Der Mann, der einmal Bucky Barnes gewesen war, der einmal der Winter Soldier gewesen war, hatte sich verliebt.

Steve warf dem Dunkelhaarigen einen prüfenden Seitenblick zu, während er neben ihm durch den geschwungenen Gang in Richtung des Besprechungsraumes marschierte. Das Gesicht des Mannes gab wie immer nichts von dem Tumult an Gefühlen und Erinnerungen preis, von dem Steve mittlerweile wusste, dass er allzeit unter der scheinbar gleichgültigen Fassade wütete. Als sie schließlich vor der richtigen Tür ankamen und nacheinander den Besprechungsraum betraten, hoffte Steve, dass es tatsächlich Neuigkeiten zu Rebecca waren, die Natasha ihnen schnellstmöglich mitteilen wollte.

Tatsächlich wurden sie von Romanoff und den anderen bereits erwartet. Sie saßen und standen um einen runden Glastisch herum und ihre Blicke huschten immer wieder zu dem Mann, der neben Steve durch die Tür getreten war. Die Luft in dem Raum knisterte beinahe vor Anspannung.

„Dann können wir ja jetzt loslegen", verkündete Natasha schließlich mit einem knappen Nicken in ihre Richtung und tippte dann auf verschiedene Tasten, die vor ihr auf der gläsernen Oberfläche bläulich aufleuchteten.

Steve konnte spüren, wie sich Bucky neben ihm versteifte. Sie blieben beide vor der verschlossenen Tür stehen und starrten gebannt auf eine Karte der Vereinigten Staaten, die sich auf einmal über dem Tisch wie von Geisterhand materialisierte und auf der an verschiedenen Stellen rote Punkte aufblinkten. Er musste sich immer wieder von neuem an die technischen Finessen des 21. Jahrhunderts gewöhnen, waren doch seinerzeit Schwarz-Weiß-Filme die Meilensteine der Technik gewesen.

„Fury hat einen weiteren Hydra-Stützpunkt in Osteuropa ausfindig gemacht", begann Natasha. „Die Basis wurde erst kürzlich aufgegeben und offenbar hatte man es so eilig, dass noch nicht einmal die Zeit dafür da war, sensibles Material zu vernichten."

Sie wandte sich zu Clint um, der hinter ihr an der Wand lehnte und den Ausführungen seiner Teamkollegin aufmerksam gelauscht hatte.

„Fury hatte mich zu sich beordert, um einige interessante Artefakte sowie Unmengen an Kartenmaterial hierher zu bringen. Offenbar sind die Informationen derart brisant, dass er einen persönlichen Transport als die sicherste Variante angesehen hat."

Barton warf nun seinerseits der Rothaarigen einen vielsagenden Blick zu und diese fuhr schließlich fort.

„Unter anderem verfügen wir jetzt über eine Karte, in der sämtliche verlassene sowie bis vor kurzem noch aktive Hydra-Stützpunkte in den USA verzeichnet sind. Natürlich war die Datei verschlüsselt und es ist uns erst heute gelungen den Code zu knacken."

Steves Augen wanderten über die Karte. Es war erschreckend zu sehen, wie gut die Terrororganisation all die Jahre unter den sonst so wachsamen Augen von S.H.I.E.L.D. hatte gedeihen können. Wie bei einem Geschwür hatten sich von Washington aus Metastasen entlang der Ostküste in der Nähe jeder größeren Stadt gebildet, um sich anschließend in einem weitverzweigten Netz einmal quer über Nordamerika zu verbreiten.

„Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte man denken, dass wir uns gerade das Filialnetz von Starbucks anschauen", durchbrach plötzlich Wilsons ungläubige Stimme das Schweigen und Natashas Mundwinkel zuckten bei diesem etwas unqualifizierten, aber nicht weniger treffenden Kommentar leicht nach oben.

„So könnte man es auch ausdrücken", fügte Romanoff an und bedachte dann Steve mit einem ihrer eindringlichen Blicke.

Dieser erwartete nun die Offenbarung einer tiefergreifenden Erkenntnis, den ultimativen Anhaltspunkt, irgendetwas in der Art. Stattdessen kehrte erneut Stille in dem Raum ein.

„War das alles?", fragte Steve nach einiger Zeit mit unterdrücktem Ärger in seiner Stimme, nachdem jeder der Anwesenden in einem betretenen Schweigen auf die unzähligen roten Punkte der Karte gestiert hatte.

„Wir hatten gehofft, dass Mr. Barnes uns vielleicht weiterhelfen kann", schaltete sich nun Maria Hill ein, die neben Romanoff am Tisch saß und dabei ihren Blick unruhig zwischen Steve und Bucky hin und her wandern ließ.

Steve musste in diesem Moment wirklich an sich halten. Dabei konnte es sich doch wohl nur um einen schlechten Scherz handeln, und zwar einen von der übelsten Sorte! Hatten Romanoff und Hill sie tatsächlich nur hierher bestellt, damit sie sich gemeinsam eine Karte ansehen konnten, die hunderte von Hydra-Stützpunkten verzeichnet hatte, hunderte von möglichen Orten, an denen Rebecca vielleicht gefangen gehalten wurde? Und nun erwarteten sie sich allen Ernstes eine Antwort von Bucky? Ausgerechnet von Bucky, der sich noch nicht einmal mehr an die Namen seiner Eltern erinnern konnte, an sein Lieblingsessen, seinen ersten Kuss oder sonst irgendetwas, worüber jeder andere Mensch innerhalb weniger Sekunden Auskunft geben konnte. Seine Augen huschten zu seinem einstigen Freund, der mit gerunzelter Stirn angestrengt auf die Karte blickte.

„Bucky, du musst nicht -", hob Steve gerade an, als der Angesprochene plötzlich einen Schritt nach vorne machte, um einen besseren Blick auf die Karte zu bekommen.

Dann streckte er seinen metallischen Arm aus und deutete auf einen roten Punkt unweit von Washington D.C.

„Shenandoah National Park", murmelte er.

Steve blinzelte ihn verwirrt an, sah dann wieder zurück zur Karte, als Romanoff auf den genannten Bereich bei Washington zoomte. Dort leuchteten zwei Punkte auf, wobei einer sich inmitten eines offenbar bewaldeten Areals im erweiterten Umland der Metropole befand.

„Moment mal", mischte sich nun Barton ein. „Ist das nicht ganz in der Nähe dieser Benfield Lodge?"

Der Bogenschütze hatte recht, immerhin hatte er ja auch den Quinjet dorthin navigiert und schien sich die Topografie entsprechend eingeprägt zu haben.

„Von dort ist Rebecca geflohen", ertönte erneut Buckys Stimme und es schien so, als würde er mehr zu sich selbst sprechen.

Nun näherte sich auch Steve dem Tisch und musterte den vergrößerten Kartenausschnitt intensiv. Mrs. Benfield hatte ihnen berichtet, dass sie Rebecca irgendwo an einer Landstraße auf dem Weg in ihr Ferienhaus gefunden hatte. Es war also mit ziemlicher Sicherheit eben jener Hydra-Stützpunkt im bewaldeten Nirgendwo, aus dem Rebecca vor vier Jahren entkommen war.

„Der Stützpunkt stammt scheinbar aus den 80ern, ehemalige Bunkeranlage aus dem Kalten Krieg", informierte Natasha in gewohnt abgeklärtem Tonfall, während plötzlich die Grundrisse besagter Hydra-Basis über dem Tisch erschienen.

Der Stützpunkt war riesig und das war es, was Steves Misstrauen erweckte. Eine ganze Armee könnte dort problemlos untergebracht werden, direkt vor ihrer Nase, unbemerkt, nur wenige Autostunden vom Amtssitz des Präsidenten der Vereinigten Staaten entfernt.

„J.A.R.V.I.S., gibt es von dem Gelände Satellitenbilder?", fragte Hill in die erdrückende Stille, die sich einmal mehr im Besprechungsraum ausbreitete.

Als Antwort wurden Luftbilder geladen, die jedoch nur bewiesen, dass dort eine ganze Menge Bäume dicht beieinander standen und ein großes Waldgebiet bildeten, das einzig von ein paar mehr oder weniger diffus verlaufenden Wegen zerschnitten wurde. Niemand konnte sagen, ob es dort noch irgendwelche Hydra-Aktivitäten gab. Andererseits waren noch vor wenigen Tagen offensichtlich Hydra-Agenten hinter Rebecca und Bucky in Washington her gewesen und diese Basis lag in unmittelbarer Schlagdistanz.

„Wir sollten uns das mal genauer ansehen", sprach Steve seine Bedenken laut aus und die Blicke der Anwesenden verrieten ihm, dass er nicht der Einzige war, dem hier etwas Spanisch vorkam.

In ihrer derzeitigen Lage war Steve ohnehin gewillt sich an jeden erdenklichen Strohhalm zu klammern und die Erlebnisse der vergangenen Tage hatten ihm einmal mehr gezeigt, dass man gut beraten war, sich in Zeiten wie diesen auf seinen Instinkt zu verlassen. Und Steves Bauchgefühl sagte ihm, dass hier etwas mächtig faul war.

„Ganz deiner Meinung, Cap", pflichtete ihm Clint bei und stieß sich von der Wand ab, um in Richtung der Tür zu marschieren. „Ich mach den Quinjet bereit."

Steves Augen fanden Natashas und er wusste, welche unausgesprochene Frage sie ihm in diesem Moment stellte. Aber bevor er dazu kam sich zu äußern, spürte er eine kalte metallische Hand an seinem Oberarm.

„Ich komme mit."

Die stechenden eisblauen Augen ließen keinen Zweifel daran, dass Bucky ein „Nein" als Antwort nicht akzeptieren würde.

+++

Eben dieser stechende Blick verließ in der nachfolgenden Zeit für keinen Atemzug das Gesicht des Dunkelhaarigen. Fast schien es, als wären Buckys Züge eingefroren. Erst als Clints Stimme verkündete, dass sie sich dem Ziel näherten und deshalb mit dem Quinjet in den Tarnmodus wechselten, kam wieder Leben in ihn.

Er saß Steve gegenüber im Inneren des Flugzeuges. Während des gesamten Fluges hielt Bucky die Maschinenpistole auf seinem Schoß in einer brutalen Umklammerung, sodass Steve bereits fürchtete, die Waffe würde noch vor ihrer Ankunft in ihre Einzelteile zerbrechen. Er ertappte sich jedoch ebenfalls dabei, wie er den oberen Rand seines Vibranium-Schilds fest mit seinen behandschuhten Händen umfasste. Dabei wusste Steve nicht einmal, wer von ihnen beiden nervöser war. Immerhin gelang es Bucky wesentlich besser seine Anspannung hinter einer stoischen Miene zu verbergen als ihm selbst.

Dass der einstige Winter Soldier sie begleitete, hatte keine Begeisterungsstürme bei den Anderen nach sich gezogen. Sam hatte ihn in einem kurzen Moment unter vier Augen sogar gefragt, ob er sich des Risikos, Bucky auf solch eine heikle Mission mitzunehmen, überhaupt bewusst sei. Steve konnte Wilson das anhaltende Misstrauen nicht verübeln, schließlich hatte dieser vor nicht allzu langer Zeit am eigenen Leib erfahren, wozu der Winter Soldier fähig war. Dass er mit seinem kybernetischen Arm das Lenkrad aus dem Cockpit von Sams fahrendem Auto gerissen hatte, war nur das harmloseste Erlebnis, das dieser ihm ins Gedächtnis rief, als er Steve zum wiederholten Mal fragte, ob er es für eine gute Idee hielt, einen ehemaligen Hydra-Killer zuerst mit schweren Waffen auszurüsten, sich dann mit diesem in ein Flugzeug zu setzen, um schließlich eine möglicherweise wieder aktive Hydra-Basis auszukundschaften. Selbst der sonst so lässige Barton strahlte Unbehagen aus, als Bucky neben Steve an Bord des Quintjets gekommen war. Vielleicht lagen seine Teamkameraden ja auch richtig und er war zu vertrauensselig, zu blauäugig, was den mentalen Zustand seines einstigen Freundes anbelangte? Fast kamen Steve selbst Zweifel an seiner Entscheidungsfähigkeit. Letztlich war er nämlich bei diesem Unterfangen auch für die Sicherheit seiner anderen Freunde verantwortlich und nur weil er selbst bereit war, ein entsprechendes Restrisiko einzugehen, musste das noch lange nicht für die übrigen Teammitglieder gelten.

Zuspruch erhielt Steve in dieser Situation von ungewohnter Seite. Ausgerechnet Natasha Romanoff war es, die ihm kurz vor dem Abflug sachte ihre Hand auf seine Schulter legte und ins Ohr flüsterte, dass sie seinem Urteil bezüglich Barnes vertraue. Normalerweise hielt sich die Rothaarig gerne aus den Querelen innerhalb des Teams heraus und war zudem niemand, der seine Meinung unbedingt nach außen tragen musste. Und es waren eben jene ehrlichen Worte der ehemaligen S.H.I.E.L.D.-Agentin, deren komplizierte Vergangenheit vor allem von Lügen und Argwohn geprägt war, die Steve das Gefühl gaben, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Es war richtig Bucky auf diese Mission mitzunehmen.

Steve atmete noch einmal tief ein und aus, als Clint den Quinjet in sicherer Entfernung von ihrem eigentlichen Zielort auf einer Waldlichtung landete. Zwar konnte die hochentwickelte Tarntechnologie sie vor jedem feindlichen Radar oder Frühwarnsystem verbergen. Die Schubdüsen des Jets produzierten jedoch genug Lärm, um Tote aus ihren Gräbern aufzuwecken und das Letzte, was sie wollten, war ihr Kommen mit lautem Getöse anzukündigen. Es blieb ihnen somit nichts anderes übrig, als den Rest der Strecke in einsetzender Dunkelheit durch unbekanntes Terrain zu Fuß zurückzulegen. Der anhaltende Regen machte die Sicht nicht wirklich besser und so war es von Vorteil, dass alle mit neuartigen besonders leichten Nachtsichtgeräten ausgerüstet waren, die eine problemlose Orientierung in dem bewaldeten Gebiet ermöglichten.

Natasha und Clint huschten in einiger Entfernung lautlos zwischen den Bäumen vor ihnen umher und sondierten die Lage, um besondere Vorkommnisse rechtzeitig an Steve, Bucky und Sam in der Nachhut mithilfe der mobilen Headsets melden zu können.

„Das hier ist wie damals in Rumänien, oder Clint?", ertönte auf einmal Natashas Stimme und sie klang dabei so unbeschwert, als würden sie gerade eine kleine Nachtwanderung während eines gemeinsamen Campingausflugs unternehmen.

„Irgendwie hab ich das mal wieder ganz anders in Erinnerung als du", entgegnete der Bogenschütze zwischen zwei Atemzügen und seine Stimme hatte einen amüsierten Unterton.

Diese kleinen Sticheleien zogen sich nun schon eine ganze Weile hin. Die ehemaligen Agenten waren die einzigen, die seit ihrer Ankunft vor rund einer Stunde überhaupt miteinander kommunizierten. Von Buckys Seite war ganz sicher nicht mit Gesprächsbeiträgen zu rechnen und selbst Wilson hüllte sich in ein ungewohntes Schweigen, das so gar nicht zu dem sonst so mitteilsamen Mann passen wollte. Steve selbst war ebenfalls zu sehr damit beschäftigt ein wachsames Auge auf seine Umgebung zu haben. Fast schon war er für das lockere Wortgeplänkel zwischen Black Widow und Hawkeye dankbar, war dieses doch die einzige Auflockerung der unangenehmen Stille, die sich einmal mehr über das Team gelegt hatte.

Es war eben jene Stille vor einem Kampf, einer möglichen Konfrontation, die jeder der fünf nur allzu gut kannte. Und jeder hatte seine eigene Strategie mit dem Ungewissen umzugehen.

„Zwei Wachposten auf 12 Uhr!"

Bartons schneidende Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass ab sofort höchste Konzentration gefordert war. Damit beantwortete der Bogenschütze auch die alles entscheidende Frage, ob die Hydra-Basis tatsächlich wieder aktiv war. Langsam näherten sich Steve und die anderen Clints Position, der auf einer leichten Anhöhe im Wald bäuchlings auf dem Boden lag und über einen umgestürzten Baumstamm auf eine vergleichsweise offene Fläche zwischen den Bäumen hinunter spähte. Mit einer Hand bedeutete er ihnen ohne sich umzublicken, dass sie sich ebenfalls ducken sollten.

„Und eine Zwei-Mann-Patrouille auf 3 Uhr", ergänzte Natasha, als sie neben ihrem Teamkollegen zum Liegen kam.

Steves Augen wanderten zuerst zu den beiden schwerbewaffneten Männern, die in eine Unterhaltung vertieft in einiger Entfernung von ihrem Versteck an den Bäumen entlang liefen. Ein kehliges Lachen wurde durch den Regen in ihre Richtung getragen, Beweis dafür, dass niemand etwas von ihrer Anwesenheit zu ahnen schien. Ein geschotterter Waldweg führte zum Bunkereingang aus bereits halb von Efeu und Moos überwuchertem Beton, vor dessen geschlossener überdimensionierter Stahldoppeltür zwei ebenfalls mit Maschinenpistolen bewaffnete Wachen postiert waren.

„Ich kann's immer noch nicht glauben, dass Hydra tatsächlich diese Basis reaktiviert hat", raunte Wilson neben Steve.

„Was aber noch lange nicht bedeutet, dass Rebecca hier wirklich festgehalten wird", gab Natasha zu bedenken.

„Das werden wir aber nur rausfinden, wenn wir da reingehen", stellte Steve mit einem Seitenblick auf Bucky fest, der ebenfalls neben ihm auf dem Boden lag und stumm durch das Nachtsichtgerät auf den rund 50 Meter entfernten Eingang blickte.

„Kannst du die Zwei vor der Tür aus der Entfernung ausschalten, Clint?", flüsterte Steve nach einer Weile.

Barton ließ lautlos den High-Tech-Bogen von seiner Schulter gleiten. Das halbseitige Grinsen des Mannes war für Steve Antwort genug.

„Also, wie lautet der Plan, Cap?", mischte sich nun auch Natasha mit gedämpfter Stimme wieder in das Gespräch ein.

Sie mussten improvisieren. Wenn er es genau bedachte, improvisierten sie eigentlich fast immer. Steve hatte im Krieg gelernt, dass selbst der beste Angriffsplan nicht gegen unerwartete Wendungen gefeit war, also versteifte er sich nur noch ungern auf irgendwelche scheinbar ausgereiften Strategien. Außerdem kannte er mit Iron Man einen Superhelden, der es verstand so gut wie jeden fein säuberlich entwickelten Schlachtplan binnen weniger Sekunden durch sein impulsives Handeln zugrunde zu richten, um schlussendlich dennoch jedes Mal als Sieger aus einer Konfrontation hervorzugehen.

„Clint kümmert sich um die Zwei am Eingang. Natasha, du nimmst dir die Patrouille vor und dann kommt ihr nach. Wilson, dich brauchen wir hier draußen. Du musst uns durch die Bunkeranlage lotsen. Wenn's da drin chaotisch wird, brauchen wir hier jemanden, der den Überblick behält. Die Baupläne sind auf dem Handcomputer abgespeichert, den dir Hill gegeben hat."

„Verdammt, Cap, ich lass dich nicht allein da rein", zischte Sam und musste sich augenscheinlich zusammenreißen, um nicht lauthals seinen Unmut in die einsetzende Nacht hinauszutrompeten.

Steve warf dem dunkelhaarigen Mann mit dem kybernetischen Metallarm neben sich einen letzten Blick zu. Buckys knappes Nicken erwiderte er mit einem flüchtigen Lächeln.

„Ich werde nicht allein sein, Sam."

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