Kapitel 32: Gut und Böse

Sie wollte nur noch, dass es aufhörte. Becca war am Ende ihrer Kräfte. Ihr Zeitgefühl hatte sie schon lange verlassen. Hatte sie Stunden oder bereits Tage in ihrer Zelle zugebracht? Sie konnte es nicht mehr sagen, es war auch nicht mehr von Bedeutung. Alles trat in den Hintergrund, ihre Ängste, ihre Gefühle, ihre Erinnerungen. All ihre Gedanken kreisten nur noch um grundlegende menschliche Bedürfnisse. Die einfachsten Dinge, die jedes Lebewesen brauchte wie die Luft zum Atmen. Dinge, die ihre Peiniger ihr konsequent verweigerten.

Schlaf.

Becca war so entsetzlich müde. Ein ums andere Mal fielen ihr die Augen zu und sie hoffte endlich die erlösende Schwelle zwischen Wachen und Träumen überschreiten zu können. Aber an mehr als kurze Momente, in denen sie vor sich hindämmerte, war nicht zu denken.

In nimmer müder, kreischender Lautstärke wurde sie mit Musik beschallt. Vor dem andauernden Geschrei schriller Gitarren, dem dumpfen Stampfen der Bässe und dem maschinengewehrartigen Hämmern des Schlagzeuges gab es kein Entrinnen. Ihr Kopf dröhnte unaufhörlich. Ihre Ohren pochten, als hätte sich dort sämtliches Blut in ihrem Körper angesammelt und presste sich nun gleich aufgestautem Wasser gegen ihre Schläfen. Selbst wenn die Erschöpfung zu groß wurde und der erlösende Schlaf sie beinahe in seine dunkle Umarmung schloss, machte es ihr die Haltung, in die man ihren Körper gezwungen hatte, unmöglich einzuschlafen. Ihre Hände waren über ihren Kopf an einen Metallring an der Wand gefesselt. An dieser Wand hing Becca mehr, als sie stand, denn ihre Muskulatur war von der Dauerbeanspruchung vollkommen überlastet. Doch jedes Mal, wenn ihre Beine unter ihr wegzubrechen drohten, war der ziehende Schmerz in ihren Handgelenken so groß, dass sie es irgendwie schaffte mehr oder weniger aufrecht stehen zu bleiben.

Hunger.

Wann hatte sie zuletzt etwas gegessen? Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Manchmal schien es ihr, als hätte ihr Magen begonnen sich selbst zu verdauen. Die gähnende Leere vernebelte ihre Sinne, machte sie kraftlos. Sie bildete sich Dinge ein, brachte alte Erinnerungen mit neueren durcheinander. Sie sah ihre Eltern, Sarah und Mrs. Benfield, aber dann waren da auf einmal Zola und dieser hässliche Kerl namens Rumlow. Und dann stand Bucky vor ihr, aber er war gar nicht Bucky sondern ein Anderer. Im Laufe der Zeit verschmolzen diese beiden so ähnlichen Männer zu einer einzigen Person und Becca fragte sich, wen von beiden sie wirklich einmal gekannt hatte. Wer war Freund, wer war Feind? Spielte das überhaupt noch eine Rolle?

Sie wusste, dass dieser Doktor ihr irgendetwas gespritzt hatte, aber dann verschwamm ihre Erinnerung. Ihr gemeinsames Leben mit Mrs. Benfield, die Jahre in ihrem kleinen Apartment in Washington, die Zeit, die sie mit diesem Mann namens Bucky in dem einsamen Haus im Wald verbracht hatte, es mussten Träume gewesen sein. Nichts davon kam ihr real vor. Das einzig Wahrhaftige war der schreckliche Hunger, der ihrem Körper mehr und mehr zusetzte. Nur eines war schlimmer.

Durst.

Das ständige unstillbare Verlangen nach Wasser. Nur ein winziger Schluck, nur ein Glas. Sie würde alles dafür tun. Alles. Soweit war sie schon. Sie wusste nicht, wozu sie bereit wäre, wenn jemand durch diese Tür käme und ihr etwas zu Trinken in Aussicht stellen würde. Menschen waren zu Vielem bereit, wenn die Verzweiflung nur groß genug war. Mittlerweile waren ihre Lippen von dem ständigen Versuch diese zu befeuchten spröde und schmerzhaft ausgetrocknet. Ihre Zunge fühlte sich wie der verwesende Teil einer Leiche an.

Der Gedanke an kaltes Wasser, das ihre Kehle hinab rann, trieb sie in den Wahnsinn, doch sie konnte nicht anders, als immerzu genau an dieses Gefühl zu denken. Wie ein Süchtiger, der auf den nächsten Rausch hin fieberte, kreiste all ihr Sein irgendwann nur noch um diese eine Sache. Becca wusste, dass ein Mensch nur eine begrenzte Zeit ohne Flüssigkeit auskommen konnte. Ihr blieben ein paar Tage, vielleicht eine Woche, dann würde sie verdursten. Sie hatte in ihrem Leben viele Grausamkeiten erduldet, daran konnte sie sich auch in ihrem geschwächten Zustand erinnern, aber nie hatte sie hungern müssen, nie hatte man ihr etwas so Grundlegendes wie Wasser vorenthalten.

Und dann war da noch ihr ständiger, unerbitterlicher Begleiter.

Lärm.

Egal wie sehr sie sich zu konzentrieren versuchte, sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Becca wollte nur noch, dass es aufhörte. Es sollte endlich vorbei sein. Sie konnte einfach nicht mehr. Wieder und wieder versuchte sie sich abzulenken, an die schönen und guten Dinge in ihrem Leben zu denken. Sie wusste, dass sie körperlich ihren Peinigern nicht viel entgegenzusetzen hatte, doch sie war immer mental stark gewesen. Ihr Geist hatte sie stets durch alle Widrigkeiten geleitet und wenn das Leid zu groß wurde, hatte sie sich tief in ihr Innerstes zurückgezogen, einen mächtigen Wall um sich errichtet und sich dahinter verschanzt, um zu warten. Sie war immer gut im Warten gewesen. Zola hatte es nicht geschafft ihren Willen zu brechen, nie vollständig, trotz allem.

Aber dieses Mal war es anders. Niemand schlug sie, niemand fügte ihr körperliche Schmerzen zu. Jedoch war ihre jetzige Folter schlimmer als alles, was sie jemals erlebt hatte. Nicht zum ersten Mal wünschte sie sich, dass jemand, irgendjemand, in ihre Zelle kommen würde, um es zu beenden.

Aber eine Erlösung rückte in unerreichbare Ferne. Und am Ende blieben nur Erschöpfung, Hunger und Durst - diese Drei. Doch die Erschöpfung war die mächtigste unter ihnen.

Becca beschloss, dass sie genug gekämpft hatte. Es ergab gar keinen Sinn sich weiter gegen das Unvermeidliche zu wehren. Für wen quälte sie sich denn überhaupt? Für ihre tote Familie? Für Menschen, die einmal Freunde für sie gewesen waren? Für sich selbst? Rumlow hatte recht. Niemand war gekommen, um sie zu retten. Niemand würde ihr helfen. Warum auch? Sie war eine unbedeutende Frau, die eine Laune des Schicksals in die falsche Zeit geworfen hatte. Sie war ein Niemand. Und so würde sie hier auch sterben, als ein unbedeutendes Nichts. Weggesperrt, um zu verhungern, zu verdursten oder ihren Geist im Wahnsinn zu verlieren.

Am Anfang versuchte Becca sich immer wieder einzureden, dass Bucky ihr helfen würde. Er musste sie einfach retten, so wie er es schon einmal getan hatte. Sie fantasierte zu Beginn geradezu davon, dass seine kräftigen Arme sie umfingen und aus diesem Alptraum befreiten. Manchmal vernahm sie sogar fernes Hundegebell, erinnerte sich an das Gefühl von weichem warmem Fell unter ihren Fingerspitzen. Doch die Zeit verstrich, niemand kam ihr zu Hilfe und die einzige Abwechslung, die sich ihr bot, waren ihre stummen Wächter, wenn sie ihre Zelle betraten und sie kurzzeitig in einen anderen Raum brachten, wo sie auf einer Toilette ihre Notdurft verrichten konnte. Wenigstens diesen Hauch von Menschlichkeit gestand man ihr zu und es war ihr irgendwann sogar gleich, dass die Männer ihr währenddessen widerliche Blicke zuwarfen.

Keiner sprach ein Wort mit ihr.

Die Gedanken der Männer konnte sie ebenfalls nicht lesen, da sie ihr zuvor stets eine dieser verhassten Spritzen in den Oberarm rammten. Sie hatte die Männer angefleht, ihr etwas zu Trinken zu geben. Sie hatte geweint, geflucht, geschrien, wenn sie wieder allein in ihrer Zelle zurückblieb. Doch es war zwecklos. Man behandelte sie hier nicht besser als ein Tier. Zwischenzeitlich war sie so geschwächt, dass jenes Betäubungsmittel, oder was auch immer es war, das sie ihr da injizierten, nicht wirklich notwendig gewesen wäre. Sie war nicht mehr im Stande von ihren telepathischen Kräften Gebrauch zu machen und das schienen ihre Peiniger auch genau zu wissen, denn sie kamen ohne Helme, ohne Waffen in den Raum.
Irgendwann hatte Becca den Punkt erreicht, an dem es ihr gleichgültig war, was noch mit ihr geschehen würde. Es sollte einfach nur noch aufhören. Irgendjemand sollte es endlich zu Ende bringen. Sie hatte immer am Leben gehangen, selbst während ihrer Zeit in Zolas Labor. Sie war doch noch so jung, damals wie heute. Aber das war vorbei. Sie hatte sich aufgegeben. Hydra hatte gewonnen. Selbst diese Feststellung erfüllte sie längst nicht mehr mit Wut oder Trauer. Derlei Gefühlen waren nebensächlich, wenn man wusste, dass man sterben würde.

Wieder öffnete sich die Tür. Becca erwartete bereits die vertrauten Gestalten ihrer stillen Kerkermeister. Doch dieses Mal betrat ein einzelner Mann den Raum. Er trug eine kleine Schüssel bei sich und kam ihr seltsam vertraut vor. Ihre Sicht war von der letzten Spritze immer noch getrübt und es kostete sie unbeschreiblich viel Kraft ihren Kopf anzuheben, als ihr Besucher vor ihr zum Stehen kam. War er real und keine Halluzination? Wie konnte sie sich sicher sein? Schließlich war ihr Körper so geschwächt, dass sie sich nicht zum ersten Mal Dinge einbildete.

Schmale graue Augen musterten ihr Gesicht, so als wolle der Mann sich ihr stilles Einverständnis einholen. Dann machten sich warme Hände an ihren Fesseln zu schaffen und auf einmal glitt sie unterstützt von starken Armen langsam an der Wand herab. Ein Schluchzen bahnte sich einen Weg aus ihrer rauen Kehle. Es war ein unbeschreibliches Gefühl wieder den Boden unter sich zu fühlen. Ihre überanstrengten Muskeln schrien geradezu auf. Die Taubheit in ihren Armen und Händen trieb ihr die Tränen in die Augen.

Gemurmelte Worte drangen an ihr Ohr. Sie verstand nur die Hälfte von dem, was ihr Gegenüber zu ihr sagte. Becca hatte geglaubt, dass sie keine Tränen mehr übrig hatte, doch nun verschwamm ihre Sicht. Jemand strich über ihre Wange. Zumindest fühlte es sich so an, doch die Berührung kam so schnell zum Erliegen, wie sie begonnen hatte. Stattdessen spürte sie etwas Kühles auf ihrem Mund. Mit quälend langsamen Bewegungen fuhren Finger sanft über ihre rissigen Lippen, befeuchteten ihren Mund mit angenehm kühler Flüssigkeit. Von plötzlicher Gier erfasst presste sie ihren Mund diesem Sinneseindruck verzweifelt entgegen. Seufzend schloss Becca ihre Augen und kostete den erlösenden Moment aus.

Erst jetzt bemerkte sie, dass die Musik verstummt war. Der Lärm hatte sich so sehr in ihrem Gehörgang eingenistet, dass sie im ersten Moment nicht sicher war, ob sie sich die plötzliche Stille nicht bloß einbildete. Als eine dunkle Stimme die zerbrechliche Ruhe durchdrang, zuckte Becca wie unter einem Faustschlag zusammen. Wieder konnte sie sanfte Hände auf sich spüren, die dieses Mal sachte ihr Kinn umfassten, sodass sie erneut in Richtung ihres Retters aufschaute. War er denn nicht genau das? Ihr Retter? Eine barmherzige Seele, an einem Ort, der keine Menschlichkeit kannte?

Ihr getrübter Blick übersteigerte seine Gesichtszüge ins Extreme. Nie hatte sie klarere Augen gesehen, ein wärmeres Lächeln, schönere Züge, als in jenem Augenblick, in dem dieser dunkle Engel zu ihr herabschaute. Sein braunes Haar fiel ihm in langen Strähnen in seine Stirn. Darunter schauten Augen in einem kühlen Grau hervor, die sich tief in ihr Innerstes bohrten. Seine Stimme war leise und doch war jedes Wort gleich einem mächtigen Zauber, der sich auf Beccas Herz legte und alles Leid und alle Schmerzen vergessen machte.

„Hab keine Angst. Ich bin da."

Er befreite ihre immer noch zusammengebundenen Hände. Kraftlos sanken ihre Arme an ihre Seiten. Ein brennender Schmerz breitete sich von ihren Schulterblättern bis in ihre Fingerspitzen aus. Becca konnte jedoch nichts anderes tun, als weiter in das ihr zugewandte Gesicht zu starren.

„Trink."

Sie verschluckte sich fast an dem Wasser, aus der niedrigen Schüssel, die auf einmal an ihre Lippen angesetzt wurde. Wie ein Verdurstender, der eine Oase inmitten einer Wüste gefunden hatte, wollte Becca die Flüssigkeit mit nie gekanntem Verlangen in sich aufsaugen.

„Langsam", tadelte die tiefe Stimme, doch sie war durchsetzt von einem unterdrückten Lachen.

Plötzlich entzog er ihr wieder die Schüssel und Becca schlug widerwillig ihre Augen zu ihm auf. Ein Lächeln umspielte seinen Mund.

„Das reicht fürs Erste", verkündete er mit einer Absolutheit, die alle Widerworte auf ihrer Zunge ersterben ließen.

Er stellte die Schüssel beiseite. Dann spürte sie auf einmal seinen warmen Atem ganz nah an ihrem Ohr. Eine Gänsehaut breitete sich von ihrem Nacken über ihren gesamten Rücken aus. Und bevor Becca begriff, was er vorhatte, hob er sie mühelos vom Boden auf und richtete sich langsam auf, während er sie wie eine kostbare Fracht behutsam an seine Brust drückte. Sie vergrub ihr Gesicht in seiner Halsbeuge, presste ihre Augen zusammen und klammerte sich mit ihren Händen so fest an ihn, dass ihre Finger von der ungewohnten Anstrengung pochend zu schmerzen begannen. Becca atmete seinen Geruch tief ein. Er roch nach Etwas, was tief in ihrem Innersten eine seltsame Vertrautheit in ihr hervorrief. Es war der Duft frisch gewaschener Leinentücher, leicht, unaufdringlich, der ihn umgab. Ein Geruch aus ihrer Kindheit. Selbst seine Haare schienen diesen Duft auszuströmen.

In diesem Moment ekelte sie sich vor sich selbst, fühlte sich schmutzig, minderwertig, abstoßend. Ein saurer Geschmack legte sich auf ihre Zunge. Sie kämpfte den aufsteigenden Brechreiz hinunter.

„Hab keine Angst", wiederholte er seine ersten Worte noch einmal, als er sie aus der Zelle trug, von der Becca geglaubt hatte, dass sie der letzte Ort sein würde, den sie in diesem Leben zu Gesicht bekommen würde.

„Du musst hungrig sein und müde", sprach er weiter, als er mit ihr in den Armen voranschritt.

Sie wagte es weder ihren Kopf zu heben noch ihre Augen zu öffnen. Sie fürchtete, dass dieser Traum sonst wie eine Seifenblase zerbersten und sie sich wieder verlassen und hilflos in ihrem Gefängnis wiederfinden würde. Sie hatte nicht mehr die Kraft dorthin zurückzukehren. Also hielt sie sich mit aller Gewalt an dem Mann fest, als würde ihr Überleben einzig und allein auf seinen Schultern liegen, als könnte er sie vor allem Übel in dieser Welt beschützen. Und in diesem Augenblick war sie sich sicher, dass er genau das konnte. Er hatte sie aus ihrem Gefängnis befreit, hatte ihr Freundlichkeit und Güte gezeigt an einem Ort, der zu ihrer persönlichen Hölle geworden war. Niemand anders hatte sich um ihr Schicksal geschert. Niemanden hatte es gekümmert, ob sie zwischen kalten Betonwänden verdurstete oder verhungerte, ob sie dort ihren Verstand verlieren und elend verrecken würde.

Nur er.

Dankbarkeit beschrieb nicht einmal annähernd das Gefühl, welches sie mit solch plötzlicher Heftigkeit erfasste, dass es ihr die Kehle zuschnürte. Eine leise Stimme tief in ihrem Herzen flüsterte ihr zu, dass sie niemandem vertrauen durfte, dass es für sie an diesem Ort keine Freunde gab, dass sie geschwächt war, nicht sie selbst, und sie sich nur an diesen Fremden klammerte, weil er einem einfallenden Lichtstrahl in einem Ort voller Schwärze und Hoffnungslosigkeit glich. Becca brachte ihre innere Stimme zum Schweigen.

Sie wollte leben, überleben. Was war so falsch daran?

Bevor er sie aus diesem Loch befreite, hatte Becca doch bereits ihren sinnlosen Kampf aufgegeben. Ihre Opferbereitschaft und ihre Selbstaufgabe hatten Grenzen. Sie hatte vieles in ihrem Leben ertragen, sie konnte vieles ertragen, aber sie war kein Held, kein Märtyrer, kein Heiliger. Sie war tief in ihrem Herzen immer noch das Mädchen, das aus seiner Zeit gerissen worden war, dass sich nach nichts mehr sehnte als Sicherheit, Geborgenheit und Nähe. All das strahlte der Mann in diesem Moment aus.

Ihr Retter blieb unvermittelt stehen. Becca hob ihren Kopf leicht an, blinzelte zwischen ihren Haaren hervor, als der Mann das Gewicht ihres Körpers in seinen Armen etwas verlagerte und mit seiner nun freien Hand eine Tür öffnete, die zu einem ungewissen Ort führte. Wieder versteckte Becca ihr Gesicht an seiner Brust. Eine weitere Folterkammer würde sie nicht überstehen.

Als sie auf etwas Weichem abgelegt wurde, setzte Beccas Atem aus. Es dauerte eine Weile, bis sie all ihren verbliebenen Mut zusammennehmen konnte und es wagte ihre Augen aufzuschlagen. Sie befand sich in einem schmalen Raum, genauer genommen saß sie auf einem Bett, an der Wand eines schlecht ausgeleuchteten, fensterlosen Raumes. Der Mann hatte ihr den Rücken zugewandt und machte sich an einem kleinen Tisch zu schaffen. Ihre Augen blieben an seiner ganz in Schwarz gekleideten Gestalt haften. Er musste hochgewachsen sein, zumindest kam sie sich in ihrer derzeitigen Position wie ein Zwerg in seiner Anwesenheit vor. Sein T-Shirt offenbarte durchtrainierte Oberarme. Das dunkle Haar war zerzaust und fiel im strähnig fast bis auf die Schultern.

Als er sich zu ihr umdrehte, erfasste sie erneute Panik. Becca drängte sich wie ein in die Enge getriebenes Tier an die kalte Betonwand und starrte den Mann wortlos an. Sie rechnete mit einem Schlagstock oder einem anderen beliebigen Folterwerkzeug, um ihre bisherige Qual auf eine völlig neue Ebene der Grausamkeit zu führen. Er hielt jedoch nur ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit in Händen. Gegen ihren Willen benetzte sie mit ihrer Zunge ihre Lippen, was ihr ein schiefes Lächeln seinerseits einbrachte.
Langsam näherte er sich ihr und streckte schließlich das Glas zu ihr aus. Misstrauisch beäugte sie die Flüssigkeit vor sich. Ihr Verlangen war überwältigend, aber ihr letztes Fünkchen Selbstbeherrschung ließ Becca zögern.

„Es ist nur Wasser", versicherte ihr Retter mit einem immer noch anhaltenden Schmunzeln.

Seine Stimme hatte eine eigenartige Färbung. Die Art, wie er die Wörter betonte, war hart und dennoch schwang eine besondere Melodie dabei mit.

Schließlich triumphierte der Durst über Beccas Misstrauen und sie nahm das Getränk entgegen. Mit zitternden Händen setzte sie das Glas an und konnte ein wohliges Stöhnen nicht unterdrücken, als sich der Geschmack von klarem Wasser in ihrem Mund ausbreitete und die Flüssigkeit in kleinen Schlucken den Weg in ihre Kehle fand. Der Mann beobachtete sie indes ohne weitere Worte.

Sie erinnerte sich an ihn. Er war in der Lodge gewesen. Er hatte sie bei ihrem Fluchtversuch aufgehalten. Er war dabei gewesen, als sie sie in diese Maschine gesetzt hatten. Er gehörte zu ihnen. Natürlich. Und dennoch.

„Wer bist du?"

„Ein Freund und ein Bewunderer."

Becca zog ihre Augenbrauen zusammen und die Mundwinkel des Mannes verzogen sich zeitgleich zu einem nun amüsierten Grinsen.

„Mein Name ist Nicolaj Seizew."

„Warum machst du das?"

„Mache was?", beantwortete er ihre leise Frage mit einer Gegenfrage und legte dabei den Kopf leicht schief.

„Das hier", hauchte Becca.

„Warum nicht?", konterte er mit einem selbstverständlichen Schulterzucken, das sie mehr verwirrte als ihre Frage zu beantworten.

Er schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein, immerhin stand er hier ohne Waffen und ohne Helm vor ihr, dabei musste er doch damit rechnen, dass sie jederzeit in seine Gedanken eindringen konnte, um ihn zu manipulieren und zu kontrollieren.

„Du willst einen kleinen Ausflug in meinen Kopf machen?"

Ein spöttisches Grinsen durchzog mit einem Mal das Gesicht ihres Gegenübers.

„Nur zu, keine falsche Scheu."

Überrascht huschten ihre Augen zu seinen. Er hielt ihrem Blick problemlos stand und Becca zögerte. Ihr fehlte in ihrem momentanen Zustand ohnehin die Kraft in seine Gedanken vorzustoßen. Der Mann ging vor dem Bett in die Hocke, strich sich mehrere verirrte Haarsträhnen aus der Stirn und bedachte sie mit seinen durchdringenden stahlgrauen Augen, die ihr in Erinnerung riefen, wie sich wohl die Menschen fühlen mussten, wenn sie in deren Gedanken eindrang. Er war kein Telepath, ganz sicher nicht. Aber in seinem stechenden Blick lag ein wissender Ausdruck, so als kenne er bereits alle ihre dunkelsten Geheimnisse.

„Ich bin nicht dein Feind, Red Star."

„Mein Name ist Rebecca", brachte sie hervor, doch ihre eigene Stimme war zu einem kaum hörbaren Flüstern geworden.

„Das war dein Name. Rebecca. Das war das kleine verängstigte Mädchen, das Zola für seine Experimente missbraucht hat. Das war die junge Frau, die sich vor der Welt und sich selbst versteckt hat."

Sie verstand nicht, auf was er mit seinen seltsamen Ausführungen hinaus wollte. Die Nachwirkungen der letzten Spritze vernebelten immer noch ihre Sinne. Der Hunger, der anhaltende Flüssigkeitsmangel und vor allem der Schlafentzug hatten ihr so sehr zugesetzt, dass Becca einfach nur noch gegen die Wand sinken wollte, um sich endlich einem tiefen traumlosen Schlaf hinzugeben. Der Mann schien sich an ihrem Schweigen nicht zu stören und fuhr indes fort, ohne seine brennenden Augen von ihr abzuwenden.

„Zola war ein Monster, ein Sadist. Er hat dich nicht verstanden, Red Star. Keiner hat das. Für sie warst du ein Forschungsobjekt, ein Mittel zum Zweck, eine Mutation, mehr Tier als Mensch."

Becca versuchte krampfhaft ihre Augen offen zu halten. Seine Worte drangen dumpf zu ihr durch. Was wollte er bloß von ihr? Sie war längst gebrochen und das wusste er nur zu gut, sonst würde er nicht ohne weitere Sicherheitsvorkehrungen mit ihr allein in einem Zimmer verweilen.

„Ich sehe, was du wirklich bist."

Dieser eine Satz war wie ein Stich in ihre Brust und Becca zuckte unter seinen wachsamen Augen zusammen.

„Du bist die Weiterentwicklung der Menschheit, die nächste Stufe der Evolution. Du bist ein Wunder."

Seine Hand bewegte sich langsam auf sie zu, erfasste auf einmal ihre eigene, die sich schmerzhaft in das Bettlaken verkrampft hatte. Vorsichtig, beinahe zärtlich, öffnete er diesen krallenartigen Griff, nahm ihre Hand in die seine und begann mit seinem Daumen kleine Kreise auf ihrem Handrücken zu zeichnen. Die Geste kam ihr so vertraut vor, aber das damit einhergehende Gefühl war wie ein fernes Echo aus einem anderen Leben.

„Glaubst du, dass die Menschen heute anders sind als damals? Ich kann dir versichern, nichts hat sich in den letzten hundert Jahren geändert. Was denkst du, werden sie mit dir machen, wenn sie begreifen, wozu du wirklich fähig bist, die Avengers, S.H.I.E.L.D. oder wie auch immer sie sich nennen?"

Er musterte sie eindringlich und fuhr nach einer kurzen Pause mit ernster Miene fort.

„Ich werde es dir verraten, Red Star. Sie werden dich einsperren, dich erforschen, dir wehtun. Wieder und wieder. Und sie werden feststellen, dass du eine Bedrohung für ihre Weltordnung bist. Sie werden dich vernichten oder bis zu deinem Tod in ein dunkles Loch stecken, so wie die Menschen es immer tun, wenn sie etwas nicht begreifen und deshalb fürchten. Du kennst die menschliche Seele besser als jeder andere. Du weißt, wozu Menschen fähig sind."

Seine Worte bohrten sich in ihr Innerstes wie giftige Pfeile. Und wie Gift breitete sich ihre Wirkung in Beccas geschundenem Herzen aus. Ja, sie kannte die Menschen. Es waren Menschen gewesen, die ihre Familie umgebracht hatten. Es waren Menschen gewesen, die sie jahrelang gequält und missbraucht hatten. Es waren Menschen gewesen, die ihr alles genommen hatten und Menschen, vor denen sie sich ihr ganzes Leben lang versteckt hatte. Tief in ihrer Seele hatte sie immer geahnt, dass sie sie nicht verstehen würden, dass sie sie für ihre Andersartigkeit hassen oder noch schlimmer fürchten würden. Sie hatte diese Gabe, diese Kraft nie gewollt. Und dennoch war sie ein Teil von ihr und sie hatte sich selbst verleugnet, all die Jahre hatte sie sich selbst verleugnet.

„Du denkst, dass hinter dieser Tür deine Feinde auf dich warten, dass ich dein Feind bin? Du denkst, wir sind die Bösen?"

Er legte seinen Kopf wieder schief und ein Lächeln umspielte erneut seinen Mund, so als wüsste er, dass seine Worte etwas in ihr ausgelöst hatten. Sie konnte sich seiner Logik in diesem Augenblick nicht entziehen.

„In dieser Welt bestimmen nur die Starken den Lauf der Geschichte. Nur die Starken entscheiden darüber, was gut und was böse ist. So war es schon immer und das weißt du, Red Star."

Er warf einen Blick in Richtung der geschlossenen Tür und Beccas Augen folgten automatisch jenen des Mannes.

„Weißt du, was hinter dieser Tür auf dich wartet, Red Star?"

Er wandte ihr wieder das Gesicht zu und sie merkte erst jetzt, dass er ihre Hand auf einmal fester umfasst hatte.

„Dort draußen wartet eine neue Version von dir selbst auf dich, eine bessere Version, eine stärkere Version. Du kannst all die Angst, all den Schmerz hinter dir lassen. Das ist es doch, wonach du dich sehnst, nach Vergebung, nach Zugehörigkeit, nach einer Familie, nicht wahr? Wir sind deine wahre Familie, wir werden immer deine Familie sein. Hier wird dich niemand für das, was du bist einsperren oder verurteilen. Die Hydra vergisst ihre Kinder nicht. Du bist intelligent, Red Star. Wenn du dich erst einmal von dem Hass auf Zola und auf dich selbst befreist, dann wirst du sehen, dass du nur hier dein wahres Ich finden kannst. Lass uns gemeinsam eine Welt erschaffen, in der es keine Furcht mehr gibt, weder für dich noch für alle anderen Menschen. Lass uns dir ein Leben ermöglichen, das deiner würdig ist. Hydra kann dir all das geben. Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe es selbst erlebt. Aber Veränderung kann nur durch Schmerz erfolgen. Alles, was wir von dir verlangen, ist, dass du mit deiner Vergangenheit abschließt, dass du dich uns hingibst, dass du endlich zu dem Wunder wirst, dass wir alle hier in dir sehen. Was bedeuten ein paar schmerzhafte Minuten auf einem Metallstuhl schon, wenn du danach nie wieder vor irgendjemandem Angst haben musst, wenn du danach endlich frei bist?"

Beccas Kopf schwirrte bei seinen Worten. Sie hatte das Gefühl, dass sich unter ihr ein dunkles Portal aufgetan hatte, von dem ein unwiderstehlicher, mächtiger Sog ausging, der sie gleich dem verführerischen Zaubergesang von Sirenen zu sich rief. Woher kannte dieser Mann, dieser Fremde ihre tiefsten Ängste und heimlichsten Sehnsüchte so gut? Sie wusste nicht mehr, was richtig und was falsch war, was sie denken, was sie fühlen sollte. Sie war so unendlich müde und sie war verwirrt, verloren. Für einen kurzen Moment tauchte das Gesicht eines Mannes vor ihrem inneren Auge auf. Dunkle Haare, durchdringende blaue Augen, ein sanftes Lächeln, leise Worte voller Zuneigung. Doch das Antlitz verblasste und ihre innere Stimme, die Stimme der Vernunft, die sie ihr ganzes Leben begleitet hatte, hüllte sich in ein eisiges Schweigen. An ihre Stelle waren die Worte des Mannes, Nicolajs Worte, getreten. Seine Gegenwart, seine Berührung, das war real. Er log sie nicht an, das konnte sie selbst in ihrem angeschlagenen Zustand spüren.

Und sie wollte ihm glauben, sie wollte sich einfach fallen lassen. Sie wollte frei sein. Frei von Angst, Schmerz, Trauer. Sie wollte sich nicht mehr verstecken, nicht mehr davonlaufen. Noch vor wenigen Augenblicken, als sie allein mit Hunger, Durst und Erschöpfung in ihrer Zelle gewesen war, hatte sie sterben wollen. Dort war Etwas in ihr zerbrochen und sie hatte den Tod geradezu herbei gesehnt. Dabei wollte sie doch eigentlich nur das Eine.

Sie wollte nicht sterben, sie wollte leben.

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