Kapitel 30: Wiedersehen
„Wie kannst du dir so sicher sein, dass wir dort deinen Freund Bucky antreffen und nicht den Winter Soldier?"
Natashas grüne Augen musterten Steve eindringlich, so wie sie es immer zu tun pflegte, wenn sie versuchte die wirklichen Absichten ihres Gegenübers zu ergründen, abseits von dem, was offen ausgesprochen wurde.
„Ich bin mir nicht sicher", gab Steve nach einer Pause zu, in der sich ein unangenehmes Schweigen im Cockpit des Quinjets ausgebreitet hatte.
Kopfschüttelnd drehte sich Romanoff wieder in ihrem Sitz um und wechselte einen vielsagenden Blick mit Barton, der neben ihr routiniert den Quinjet steuerte. Manchmal fühlte man sich bei der beinahe geschwisterlichen Vertrautheit der beiden Agenten fast schon fehl am Platz. Zumindest erging es Steve in Momenten wie diesen, in denen sich Natasha und Clint einmal mehr ohne viele Worte verstanden, genauso. Die Zwei umgab diese abgeklärte, ruhige Aura, die offenbar typisch für diesen Schlag von Menschen zu sein schien. Und nicht zum ersten Mal fragte sich Steve, ob da nicht mehr zwischen den Beiden war als eine tiefverwurzelte Freundschaft. Aber wer war er, um zwischenmenschliche Beziehungen zu beurteilen? Immerhin hatte er sein letztes ernstzunehmendes Date um mehr als 70 Jahre verpasst. Die Erinnerung an Peggy Carter und das, was vielleicht hätte sein können, schmerzte ihn nach all der Zeit immer noch und so konzentrierte sich Steve lieber wieder auf das Hier und Jetzt. Damit hatte er ohnehin alle Hände voll zu tun, schließlich waren sie vor geraumer Zeit wieder in den amerikanischen Luftraum eingetreten.
Seither waren ihre bisweilen hitzigen Diskussionen zum Erliegen gekommen. Während des Atlantiküberfluges waren Steve und Sam damit beschäftigt gewesen, die beiden Agenten auf den neuesten Stand bezüglich ihrer Nachforschungen zu bringen. Doch wo Clint nur ab und an mit dem Kopf genickt hatte, war Black Widow im Gegensatz zu dem schweigsamen Bogenschützen eine wirklich versierte Zuhörerin, die das zweifelhafte Talent besaß, äußerst unangenehme Fragen stellen zu können. Kein Wunder, schließlich war sie eine Verhörspezialistin. So war Steve ordentlich ins Schwitzen geraten, als sie ihm vorgeworfen hatte, sie nicht frühzeitig kontaktiert zu haben, nachdem absehbar gewesen war, dass die ganze Angelegenheit haarig wurde. Im Weiteren bemängelte Natasha, dass er und Wilson sich Hals über Kopf mit Starks Privatjet nach Europa aufgemacht hatten, um einen ominösen Hydra-Agenten zu verfolgen. Anschließend wies sie die Beiden noch mit strenger Miene darauf hin, dass sie ihr rasches Eintreffen in England einzig und allein Maria Hill zu verdanken hatten, die Natasha eigenmächtig kontaktiert hatte.
Dass Barton ebenfalls in Europa gewesen war, stellte sich als glücklicher Umstand heraus, wie Romanoff ebenfalls mit hochgezogener Augenbraue verkündet hatte. Hawkeye hatte für Fury eine verdeckte Mission in Osteuropa durchgeführt und sie so auf dem Rückweg in die Staaten mit dem Quinjet einsammeln können. Steves chaotische Nachricht auf Natashas Mailbox war schließlich der entscheidende Hinweis gewesen und nachdem sie im Krankenhaus erfahren hatten, dass ihre Freunde tatsächlich von der Polizei abgeführt worden waren, hatte Romanoff alle Hebel in Bewegung gesetzt, um ihren Teamkollegen und seinen Begleiter schnellstmöglich wieder auf freien Fuß zu bekommen. Dass Natasha dabei sogar bis zu Pamela Hawley vorgedrungen war, der neuen Vorsitzenden des Weltsicherheitsrats, bewies einmal mehr den Einfluss, den die ehemalige S.H.I.E.L.D.-Agentin selbst auf internationalem politischen Parkett zu genießen schien.
Von Natasha hatten sie auch erfahren, dass offiziell nicht mehr nach Bucky und Rebecca gesucht wurde. Die Meldungen an die Presse und das FBI hatten sich als Fehlinformationen einer unbekannten Quelle herausgestellt. Selbst die S.W.A.T.-Division, die das Apartmentgebäude mit Rebeccas Wohnung gestürmt hatte, entpuppte sich im Nachhinein als eine Hydra-Einheit und auch die angeblichen Regierungsbeamten, die man in einer Seitenstraße tot aufgefunden hatte, waren allesamt Hydra-Agenten. Alles sprach somit dafür, dass die Terrororganisation es trotz allem geschafft hatte, ihre Energien an der Ostküste erneut zu bündeln. Um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, informierte Romanoff sie dann auch noch darüber, dass Brock Rumlow am Leben und vor einigen Wochen aus einem Krankenhaus spurlos verschwunden war. Vor allem Sam hatte diese Neuigkeit mit großem Erstaunen vernommen. Immerhin war er selbst nur durch einen beherzten Sprung und dank Furys und Romanoffs Hilfe dem in sich zusammenstürzenden Triskelion entkommen. Es war kaum vorstellbar, dass ein Mensch ein solches Inferno tatsächlich überleben konnte, nur um dann kurz darauf aus seinem Krankenbett zu türmen.
Dennoch überwogen die guten Nachrichten. Bucky war nicht länger ein gesuchter Mann - zumindest, was die öffentlichen Ermittlungsbehörden in den USA anbelangte. Umso mehr klammerte sich Steve nun an die Hoffnung, dass sie nicht zu spät in der Benfield Lodge ankamen. Etwas Gutes hatte die Zeitverschiebung nämlich doch an sich, denn so hatten sie auf ihrem Rückflug von England in die Staaten fast fünf Stunden wiedergutmachen können. Es war dementsprechend gerade einmal Mittagszeit. Im besten Falle waren Bucky und Rebecca somit tatsächlich immer noch wohlbehalten in Mrs. Benfields Ferienhaus, im schlimmsten Fall war Hydra ihnen jedoch zuvorgekommen. Und was das bedeutete, wollte Steve sich nicht einmal im Entferntesten ausmalen.
„Dann hoffen wir mal, dass du mit deiner Einschätzung richtig liegst, Cap", ertönte auf einmal Bartons Stimme und riss Steve aus seinen Gedanken. „Wir erreichen nämlich in wenigen Minuten unsere Zielkoordinaten."
Augenblicklich stellten sich bei Steve Magenschmerzen ein. Auf diesen Moment hatte er so lange gewartet. Nur noch wenige Augenblicke trennten ihn von der Benfield Lodge und Bucky, seinem tot geglaubten Freund, der allerdings auch noch vor wenigen Wochen mehrfach versucht hatte ihn umzubringen. Dennoch hatte er seit der Zerschlagung von Hydra jeden Tag in der Hoffnung verbracht, seinen alten Freund wiederzusehen. Er hatte Bucky schon einmal verloren und dieses Mal war Steve nicht gewillt den Mann, der einmal wie ein Bruder für ihn gewesen war, noch einmal aufzugeben. Doch nun, da ein Aufeinandertreffen unmittelbar bevorstand, machten sich Zweifel und Ungewissheit in seinem Herzen breit. Sie hatten keine Ahnung, was sie dort erwartete.
Steve brachte seine Atmung unter Kontrolle. Er musste alle seine Sinne beisammen haben, wenn er dort rausging.
Bucky hatte sich an ihn erinnert. Er hatte ihn am Potomac vor dem Ertrinken gerettet, anders hätte er den Sturz in den Fluss in seinem Zustand nicht überleben können. Und nun hoffte er, dass sich sein Kindheitsfreund und ehemaliger Kampfgefährte erneut an ihn erinnern konnte, dass er in der Zwischenzeit vielleicht sogar ein Stück mehr zu seinem alten Selbst zurückgefunden hatte. Gott, er wollte einfach wieder in das Gesicht seines alten Freundes sehen können und wissen, dass sich dahinter kein Hydra-Killer verbarg, der im nächsten Atemzug versuchen würde, ihm ein Messer in die Brust zu rammen. Aber vor allen Dingen hoffte Steve, dass sie Bucky überhaupt in der Benfield Lodge vorfinden würden. Und Rebecca.
Langsam erhob er sich aus seinem Sitz im hinteren Teil des Cockpits und überprüfte noch einmal das Headset, das ihn mit dem Quinjet als mobile Kommunikationseinheit verbinden sollte.
„Ich werde allein gehen."
Natasha und Sam widersprachen ihm zeitgleich und mit der gleichen Vehemenz. Steve konnte gut nachvollziehen, warum sie seine plötzliche Eingebung für eine ganz schlechte Idee hielten. Aber er musste das hier allein tun. Er musste zumindest versuchen ein möglichst friedliches Aufeinandertreffen mit Bucky zustande zu bringen und das würde die Gegenwart von drei weiteren, für den einstigen Winter Soldier vollkommen fremden Menschen sicherlich nicht vereinfachen.
„Das ist nicht dein Ernst, Steve", kommentierte Natasha seinen entschlossenen Gesichtsausdruck mit gerunzelter Stirn, nachdem sie sich ebenfalls erhoben hatte. „Wie oft muss er noch versuchen dich umzubringen, damit du verstehst, dass der Mann gefährlich ist."
„Er hat Rebecca auch nicht umgebracht", konterte Steve.
„Das weißt du doch gar nicht!"
„Ich weiß, dass wenn noch ein winziger Teil von Bucky in ihm steckt, er weder mir noch der Frau etwas tun wird", entgegnete er und in seiner Stimme lag so viel Entschlossenheit, dass selbst Romanoff in diesem Augenblick keine passende Antwort in den Sinn kam.
Es war Clint, der Steve unerwarteten Beistand leistete. Der Bogenschütze wandte sich nicht einmal um, als seine ruhige Stimme die beinahe greifbare Anspannung im Cockpit auflöste.
„Lass ihn, Natasha. Er muss das tun. Alleine. Im Notfall können wir sofort eingreifen und darüber hinaus verfügt der Quinjet über genug Feuerkraft, um es mit weitaus mehr Hydra-Killern aufzunehmen."
Durch die Cockpitscheibe waren Baumwipfel zu sehen, die der Quinjet in niedriger Höhe überflog. Eine Straße schlängelte sich durch den Wald und plötzlich öffnete sich unter ihnen das weite Grün und ein Haus kam in Sicht. Die Benfield Lodge. Steves Herzschlag setzte aus.
„Ein Lebewesen im Umfeld des Gebäudes über Infrarot-Ortung erfasst", ließ Clint über seine Schulter verlauten, während er allerlei Knöpfe bediente, um das Flugzeug auf der Freifläche zu landen.
„Zielperson entfernt sich in Richtung Wald", verkündete Barton auf einmal.
Mehr brauchte es nicht, um Leben in Steve zu bringen.
„Öffne die Heckklappe!", kommandierte Steve in das Headset, während er in den hinteren Teil des Quinjets rannte.
„Steve!"
Sams Schrei verblasste hinter ihm, als er vor der Öffnung zum Stehen kam. Das Flugzeug schwebte noch einige Meter über dem Boden, als er bereits zum Sprung ansetzte. Er hatte keine Zeit zu verlieren. Den Aufprall fing er durch ein seitliches Abrollen geschickt ab, dann war Steve auch schon auf seinen Beinen.
„Welche Richtung?", brüllte er im Rennen in sein Headset.
„Im Wald rechts von der Lodge", kam Clints Antwort. „Und die Zielperson ist verdammt schnell."
Bucky.
Entschlossen nahm Steve die Verfolgung auf. Die Schubdüsen des Quinjets jaulten hinter seinem Rücken, während er sich seinen Weg über Wurzeln und umgefallene Bäume bahnte.
„Wir sind direkt über dir", mischte sich plötzlich Natashas Stimme in die Kommunikation ein.
Scheinbar hatten sie sich dazu entschlossen die Luftunterstützung zu übernehmen. Steve sprintete unterdessen weiter zwischen den mächtigen Stämmen jahrhundertealter Bäume hindurch und behielt dabei stets ein waches Auge für seine Umgebung.
„Cap, wenn du dich eher links hältst, kannst du der Zielperson vielleicht den Weg abschneiden", erklang erneut Bartons Stimme.
Also versuchte Steve eher in besagte Richtung zu rennen, wobei es kein leichtes Unterfangen war, sich in dem unwegsamen Gelände zu orientieren, geschweige denn zügig fortzubewegen. Ständig galt es neue Hindernisse zu überwinden oder zu umrunden. Glücklicherweise standen die Bäume relativ weit auseinander und es gab keinen allzu starken Unterwuchs, sodass ihm zumindest dornige Sträucher und dergleichen erspart blieben.
„Zielperson ist in unmittelbarer Nähe", ertönte Clints Stimme in seinem Ohr.
Heftig atmend blieb Steve neben einem knorrigen alten Baum stehen und erfasste mit angestrengt zusammengekniffenen Augen seine Umgebung. Im Augenwinkel meinte er eine Bewegung zu erkennen. Doch bevor er reagieren konnte, wurde er mit seiner Schulter gegen die harte Rinde des Baumes geschleudert, als ein Körper mit der Wucht eines Rammbocks mit seinem eigenen kollidierte. Gerade noch rechtzeitig konnte er seinen Arm hochreißen und das Messer abwehren, das sein Angreifer mit tödlicher Präzession in seinen Hals versenken wollte. Stattdessen bohrte sich schmerzhaft eine Faust in Steves Magengrube und ihm blieb kurzzeitig die Luft weg. Er drängte den Schmerz in den Hintergrund und ging nun seinerseits zum Gegenangriff über. Steve duckte sich unter einer erneuten Messerattacke und schaffte es, mit einem gezielten Tritt gegen den plötzlich nicht mehr geschützten Oberkörper des Mannes, seinen Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er taumelte ein paar Schritte zurück, blieb auf einmal wie angewurzelt stehen, als würde er aus einer Art Trance erwachen, als würde ihm gerade erst bewusst, wen er da angegriffen hatte. Dunkle Haare fielen in die Stirn des Mannes, verdeckten seine Augen. Dann hob er seinen Kopf. Sie standen sich regungslos gegenüber, blickten sich stumm an.
Bucky.
Für einen Wimpernschlag gingen Steve tausend Gedanken durch den Kopf. Er hatte ihn gefunden.
Endlich.
Er sah schrecklich aus, voller Blut, Schweiß und Dreck. Seine Augen waren stark gerötet, sein Gesicht beinahe gespenstisch bleich. Aus seinen hellen Augen sprachen so viel Erschöpfung und Verzweiflung, so viel Trauer und Wut. Es versetzte Steve einen Stich ins Herz seinen ehemals besten Freund so sehen zu müssen. Was war nur geschehen? Wo waren die Frau und ihr Hund? Woher stammte nur all das Blut, das an Buckys Händen klebte?
Sein Gegenüber machte auf einmal einen weiteren Schritt nach hinten. Das Messer entglitt der metallischen Faust seines kybernetischen Arms, den das schwarze T-Shirt nur im Ansatz bedeckte. Blaue Augen fixierten ihn.
„Steve?"
Nur ein Flüstern, kaum hörbar, doch Steves Herzschlag setzte aus.
Es war Bucky, nicht der Winter Soldier. Vor ihm stand James Buchanan Barnes.
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