Kapitel 27: Bis zum Ende
Er war verwirrt. Was hatte er falsch gemacht? Warum war Becca beinahe panisch davon gerannt? Bucky hatte doch nur das wiederholt, was sie ihm vor nicht allzu langer Zeit selbst im alkoholisierten Zustand gestanden hatte.
Und es war die Wahrheit. Er mochte sie. Wie könnte er Rebecca Goldstein nicht mögen?
In ihrer Gegenwart fühlte er zum ersten Mal seit langer Zeit wieder jenen jungen Mann in sich erwachen, der er gewesen sein musste, bevor Hydra ein Monster aus ihm gemacht hatte. Und er wünschte sich nichts mehr, als wieder dieser Mann sein zu können. Er wünschte sich mehr denn je, er könnte sich an mehr erinnern als an jene chaotischen Bruchstücke, die nach und nach verschwommen an der dunklen Oberfläche seines Bewusstseins auftauchten.
Beccas Verhalten war mehr als merkwürdig, aber er konnte sich einfach keinen Reim darauf machen. Es sah ihr gar nicht ähnlich vor einer möglichen unangenehmen Situation zu flüchten. War die Tatsache, dass er sie mochte, denn so unerträglich für Becca? Dieser Gedanke verletzte ihn. Bis vor wenigen Tagen hätte er sich nicht vorstellen können, dass die Abweisung einer Frau in irgendeiner Weise Auswirkungen auf sein seelisches Wohlbefinden haben könnte, doch nun hinterließ ihre unerwartete Flucht eine schmerzende Leere in seinem Innersten.
„Ich kann das nicht, Bucky." Ihre Worte hallten wieder und wieder in ihm nach. Er wurde nicht schlau daraus, egal wie lange er Beccas Satz auch drehen und wenden mochte. Er verstand diese Frau nicht. Hatte sie ihm nicht in den vergangenen Tagen gezeigt, dass ihr etwas an ihm lag? Bucky konnte die Geduld und das Verständnis, die sie immer wieder für ihn aufgebracht hatte zwar nicht einmal ansatzweise nachvollziehen, aber er hatte gedacht, nein, gehofft, dass Rebecca zu einer Vertrauten geworden war. Einer Freundin.
Noch immer saß er auf dem Waldboden. Sein Blick war zur Lichtung zurückgewandert. Als könnte er allein durch die Kraft seiner Gedanken sowohl die Gegenwart von Rebecca als auch jenen einzigartigen Moment erneut zwischen ihnen heraufbeschwören, starrte Bucky unentwegt auf eben jene Stelle, an der die Hirsche seinem Sichtfeld entschwunden waren.
Wie hatte sie das nur angestellt? Wie hatte sie ihn innerhalb so kurzer Zeit zurück ins Leben geholt? Bevor er Becca kennengelernt hatte, war er eine verlorene Seele gewesen, die ziellos in Washington umhergeirrt war. Einzig der Selbsterhaltungstrieb, der wohl in jedem Lebewesen schlummerte, hatte ihn davor bewahrt, nach seiner Flucht vor Hydra seinem jämmerlichen Dasein nicht selbst ein Ende zu setzen. Er war nur ein Körper ohne Seele gewesen, ein leeres Gefäß. Doch dann hatte Becca ihn in diese kleine verschworene Gemeinschaft aufgenommen, die sie zusammen mit ihrem Hund Wallenstein geformt hatte. Sie Drei gaben ein seltsames, ungleiches Gespann ab. Aber es fühlte sich so gut an, dieses Gefühl von Vertrautheit, Zugehörigkeit, Freundschaft. Ja, er mochte Becca. Er mochte sie sehr.
Fernes Hundegebell riss ihn aus seinen Gedanken. War das Wallenstein? Der Hund war für gewöhnlich kein besonders bellfreudiger Vertreter seiner Rasse. Wenn Bucky es genau bedachte, dann hatte er den Dobermann noch nie bellen gehört. Knurren ja, aber bellen?
Irgendetwas stimmte nicht.
Binnen eines Herzschlages war Bucky auf seinen Beinen.
Irgendetwas stimmte überhaupt nicht.
Als wären alle Dämonen der Hölle hinter ihm her, rannte Bucky so schnell ihn seine Füße tragen konnten durch den Wald. Es war schwierig die genaue Position auszumachen, von der das Bellen kam, aber es schien ihm fast so, als würde sich das Geräusch mehr und mehr auf ihn zubewegen. Und plötzlich sah er tatsächlich den großen Hund zwischen den Baumstämmen laufen. Aber Wallensteins sonst so eleganter leichtfüßiger Gang war seltsam abgehackt und schwerfällig und als das Tier ihn endlich stark hechelnd erreichte und nervös bellend umkreiste, wusste Bucky auch warum. Der Hund war verletzt, blutete stark aus zwei Wunden in seiner Flanke. Jemand hatte auf ihn geschossen.
Sein Herzschlag setzte kurzfristig aus, als aus einer furchtbaren Ahnung mit einem Mal grausige Gewissheit wurde.
Der Winter Soldier hatte keine Angst gekannt. Bucky Barnes hatte vergessen, wie es sich anfühlte, wenn die Angst den gesamten Körper lähmte und sich wie ein übermächtiger Schatten auf die Seele eines Menschen legte. In diesem Moment jedoch erfasste ihn die Emotion mit all ihrer schrecklichen Wucht, war wie ein Strick um seinen Hals, der sich bei jeder Bewegung weiterzuzog und das Atmen schließlich unmöglich machte.
Es war das leise Wimmern des Hundes, dass Bucky die Luft hektisch einziehen ließ. Und dann war er auch schon wieder in Bewegung. Und er rannte, als würde es um sein nacktes Überleben gehen. Er rannte zurück zur Lodge, mit Panik im Herzen und entsetzlicher Angst. Angst um Rebecca. Angst, dass er zu spät war.
Am Waldrand angekommen, verlangsamte er seine Schritte. Er entsicherte die Pistole, die er nach wie vor jeden Tag bei sich trug, während er sich langsam von hinten dem Gebäude näherte. Die Terrassentür war nicht verriegelt. Vorsichtig betrat er das Haus. Jederzeit rechnete er damit, dass schwerbewaffnete Hydra-Agenten ihn aus dem Hinterhalt angriffen. Bucky durchkämmte das Wohnzimmer und den Flur.
Nichts.
Kampfspuren waren ebenfalls nicht zu erkennen. Lautlos stieg er die Treppe ins Obergeschoss hinauf, doch auch dort erwartete ihn das gleiche Bild. Keine Angreifer, keine Hydra-Agenten, keine Rebecca.
Da war niemand.
Langsam ließ er die Waffe sinken und begab sich zurück ins Erdgeschoss. Wie hatten sie Rebecca ohne Gegenwehr überwältigen können? Mit ihrer Gabe konnte sie schließlich die Gedanken und Regungen jedes Menschen wahrnehmen, der sich in ihrer Nähe aufhielt und er hatte gesehen, wozu sie fähig war, wenn ihr kein anderer Ausweg blieb. Verzweiflung stieg in ihm auf. Kopflos lief er im Wohnzimmer umher, vergrub seine Hände in seinen Haaren, bis auf einmal sein Blick auf den Couchtisch fiel. Dort lag ein zerknittertes Blatt Papier, das ihm zuvor nicht aufgefallen war.
Zwei Wörter standen dort in krakeliger Schrift. Zwei Wörter, die Bucky jede Vorsicht vergessen und mit einem Wutschrei aus dem Haus stürmen ließen.
Heil Hydra!
Sie hatten Becca. Hydra hatte Becca. Das Wissen brachte ihn beinahe um den Verstand. Und sie hatten sogar noch die Zeit gehabt, ihm eine Nachricht zu hinterlassen, um ihn zu verspotten, denn nichts anderes als Hohn sprach aus dieser kranken Botschaft. Offensichtlich interessierten sie sich nicht für ihn, mehr noch, sie schienen in ihm eine bloße Randerscheinung zu sehen, der man keine weitere Bedeutung beimaß. Sie waren von Anfang an nur hinter ihr her gewesen. Er war es scheinbar noch nicht einmal wert, dass sie ein Todeskommando abstellten, das ihren abtrünnigen Killer endgültig ins Jenseits beförderte.
Wieder setzte er zu einem Sprint an. Rannte die geschotterte Straße hinauf bis zur Landstraße. Nichts. Keine Autos, keine Menschenseele. Bucky suchte den angrenzenden Waldrand ab. Wie ein Wahnsinniger hetzte er durchs Unterholz, dabei wusste er nicht einmal, welche Antworten er dort vorfinden sollte. Sie war weg. Becca war weg. Das Entsetzen wich unbändiger Wut. Wut auf sich selbst. Hydra hatte Becca wieder in ihren Klauen. Und es war seine Schuld! Er hätte sie beschützen sollen, er hätte bei ihr sein sollen.
Sein Blick wanderte zurück zur Lodge. Auf dem Boden lag etwas. Bucky hastete zurück.
Wallenstein!
In seinem Schock hatte er das Tier komplett vergessen. Der große Hund lag auf der Seite. Sein Brustkorb hob sich in kurzen heftigen Stößen.
Bucky hatte schon viele sterben sehen. Es war ein entsetzlicher Anblick, jedes Mal. Der Tod war entsetzlich, der Prozess des Sterbens furchteinflößend. Doch der Winter Soldier hatte nicht gewusst, was Todesangst war. Er hatte kein Mitleid mit seinen Opfern gekannt, keine Schuldgefühle, wenn er ein Leben ausgelöscht hatte. Auf einmal wusste aber Bucky Barnes wieder, was Mitgefühl war und was Todesangst bedeutete, als er neben dem krampfhaft nach Luft japsenden Dobermann kniete, dessen Lunge sich nach und nach mit Blut füllte und der langsam und qualvoll ersticken würde.
Hier lag einer mit dem Herzen eines Helden. Bereit für das, was er liebte zu kämpfen. Bereit für seine Menschenfreundin zu sterben. Es gab keine größere Form der Zuneigung, keinen größere Beweis für die unumstößliche Treue und Liebe, die dieser Hund für Rebecca empfinden musste. Und Bucky bewunderte ihn und schämte sich zugleich, weil er daran denken musste, wie oft er ihn anfangs innerlich dummen Köter geschimpft hatte.
Becca musste Wallenstein zu ihm geschickt haben, denn um nichts in der Welt wäre der Dobermann sonst von ihrer Seite gewichen, wenn die Frau in Gefahr schwebte. Zweimal war auf ihn geschossen worden, zwei Kugeln steckten in seinem Körper, hatten seine inneren Organe verletzt. Und er war trotzdem weitergelaufen, hatte ihn aufgespürt und hierher gebracht. Doch sie waren zu spät. Alles war umsonst. Becca war weg.
Bucky konnte nichts mehr für Wallenstein tun. Die Verletzungen des Tieres waren zu schwer und er verfügte weder über das Wissen noch die medizinischen Möglichkeiten, um ihm zu helfen. Aber er war es Rebecca schuldig bei ihrem geliebten Hund zu bleiben bis zu seinem letzten Atemzug. Zorn und Trauer vermischten sich und erst jetzt verstand Bucky. Auch für ihn war Wallenstein zu einem Freund geworden. Die honigfarbenen Augen des Dobermannes sahen ihn flehend an. Und Bucky zog seine Waffe.
Ihm kamen Steve Rogers Worte wieder in den Sinn, die jener auf dem Helicarrier zu ihm gesagt hatte. Dieser eine Satz, der urplötzlich alles verändert hatte. Dieser eine Satz, der ihn davor abgehalten hatte, erneut etwas Furchtbares zu tun. Dieser eine Satz, der den Winter Soldier aus Jahrzehnten der Konditionierung und Indoktrinierung gerissen hatte. Bucky kraulte den Hund ein letztes Mal hinter seinem Ohr, wie es Becca immer tat, redete mit ruhiger Stimme auf ihn ein.
Er weinte.
Zum ersten Mal seit er wieder eigenständig denken konnte, liefen ihm die Tränen in stillen Bahnen über seine Wangen, während er den Lauf der Pistole an den Schädel des Hundes hielt. Es war, als würde ein Teil von Rebecca mit ihrem geliebten Hund sterben. Noch einmal strich er über das weiche Fell, spürte das warme Blut auf seinen Fingern.
„Ich werde sie finden, das schwöre ich dir", flüsterte Bucky.
Seine Stimme versagte, seine Kehle fühlte sich staubtrocken an. Wallensteins Vorderpfoten zuckten im Todeskampf.
„Schhhhh", murmelte Bucky. „Ich bin bei dir, mein Freund, bis zum Ende. Ich steh das mit dir durch."
Dann drückte er ab und erlöste Wallenstein von seinen Qualen. Becca hätte es so gewollt.
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