Kapitel 26: Mrs. Benfield

„Mrs. Benfield ist jetzt wach und hat nach Ihnen gefragt."

Die Stimme der Krankenschwester katapultierte Steve binnen eines Herzschlages aus seinem Halbschlaf und auf seine Beine. Von Sam kam nur ein undefiniertes Murren als Antwort.

Sie hatten tatsächlich die ganze Nacht und auf den ungepolsterten Sitzbänken im Flur eines englischen Krankenhauses verbracht. Steve erinnerte sich daran, dass er zwar im Krieg viele weitaus unbequemere Nächte erlebt hatte, aber dennoch war der etwas zugige Gang vor Angela Benfields Zimmer alles andere als ein angenehmer Ort, um mit dem Jetlag und den Ereignissen der vergangenen Tage fertig zu werden, geschweige denn eine gute Dosis Erholungsschlaf zu bekommen, die vor allem Sam dringend nötig hatte. Ein Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass es bereits Nachmittag war. Er war tatsächlich eingedöst. Steve verkniff sich den entsprechenden Kraftausdruck, der ihm beinahe über die Lippen kam. Sie warteten nun schon mehrere Stunden darauf, endlich zu Mrs. Benfield vorgelassen zu werden, aber wieder und wieder hatten die Ärzte sie vertröstet. Die ältere Frau war immer noch nicht ansprechbar. Es war zum Verzweifeln! Die einzige Person, die ihnen Antworten auf ihre dringlichsten Fragen geben konnte, wollte einfach nicht aus ihrem komatösen Schlaf aufwachen.

Gefühlte eine Millionen Mal war Steve in den letzten Stunden im Flur auf und ab geschritten, während Sam unterdessen aus ihrer Not eine Tugend gemacht und in die gesamte Zeit mehr oder weniger schlafend zugebracht hatte. Offensichtlich setzte die Zeitverschiebung seinem Freund mehr zu als ihm selbst, schließlich war Wilson kein Super-Soldaten-Serum injiziert worden und er hatte ihn zuerst von Washington nach New York und danach einmal quer über den Atlantik geschleift.

„Richten Sie den Nachtschwestern bitte meine uneingeschränkte Anerkennung aus, Ma'am", murmelte Sam und rieb sich etwas zu theatralisch seinen unteren Rücken, während er sich ächzend von der Sitzfläche schälte. „Ich glaube, der Patient in Zimmer 135 hat diese Nacht geschätzte 20 Mal die Klingel betätigt, weil er auf Toilette musste."

Zumindest sein Humor war Sam auf ihrer Toure de Force nicht abhanden gekommen. Die Krankenschwester warf Steves Freund jedenfalls ein schüchternes Lächeln zu.

„Ich war kurz davor mich selbst der Sache anzunehmen", ergänzte Wilson noch mit einem schelmischen Grinsen.

Nun konnte die junge Frau, deren dunkle Mandelaugen ihrem Gesicht eine exotische Note verliehen, ein Kichern nicht länger unterdrücken.

„Gehen Sie zu der Dame. Ich organisiere Ihnen in der Zwischenzeit einen Kaffee."

Kaffee klang wie Musik in Steves Ohren und er war einmal mehr dankbar, dass Sam, der alte Charmeur, so ein gutes Händchen für Frauen hatte. Das Koffein würde sicherlich auch dabei helfen, die wirren Gedanken in seinem Kopf einigermaßen in den Griff zu bekommen.

Die Geschehnisse, nachdem der Krankenwagen vor Mrs. Benfields abgelegenem Haus vorgefahren war, zogen noch einmal wie ein viel zu schneller Film vor Steves innerem Auge vorbei. Der Notarzt hatte glücklicherweise keine lebensbedrohliche Verletzung feststellen können, doch die ältere Frau war so geschwächt, dass ihre Ohnmacht sie während der gesamten Fahrt in die nächstgelegene Klinik bewusstlos und nicht ansprechbar auf die Liege gefesselt hatte. Steve und Sam waren im Krankenwagen mitgefahren. Natürlich war auch die örtliche Polizei verständig worden und er ahnte schon zu diesem Zeitpunkt, dass sie wohl in den kommenden Stunden einige unangenehme Fragen der Behörden beantworten mussten. Als Mrs. Benfield dann von den Ärzten versorgt wurde, stellte man ihn und Sam wie zwei störende Kinder im Krankenhausgang ab. Steve hatte es noch geschafft Natasha anzurufen. Beziehungsweise hatte er es versucht. Denn leider erreichte er nur Romanoffs Mailbox, auf welcher er einen ziemlich kruden Informationsmix hinterließ, dessen Quintessenz war, dass sie Verstärkung gut gebrauchen konnten.

Sachte klopfte Steve an die weiße Tür, bevor er und Sam das Zimmer von Mrs. Benfield betraten. Die ältere Dame saß in ihrem Bett. Ein großes Kissen diente ihr als Stütze. Steve überkam eine Welle von Mitgefühl, als er das zerschundene Gesicht mit der aufgeplatzten Unterlippe sowie die zahllosen Verbände an den offengelegten Armen und Beinen sah. Neben dem Bett stand ein Metallhalter, an dem ein durchsichtiger Infusionsbeutel befestigt war, von dem aus ein Schläuchen zur Kanüle an der Hand der älteren Dame führte.

„Da muss ich fast umgebracht werden und im Krankenhaus aufwachen, damit zwei so adrette junge Herren mir einen Besuch machen", begrüßte Mrs. Benfields sie mit dem für die Engländer so typischen schwarzen Humor, doch ihrer Stimme war anzuhören, dass sie jedes Wort viel Kraft kostete.

Steve bewunderte die ältere Dame, als sie ein tapferes Lächeln zustande brachte, das ihr offensichtlich Schmerzen bereitete.

„Wobei ich gelesen habe, dass Sie ja eher in meiner Altersklasse spielen, nicht wahr Mr. Rogers?"

Nun staunte auch Sam neben ihm Bauklötze, denn Angela Benfield war scheinbar gut informiert für jemanden, der eigentlich historische Liebesromane schrieb. Noch dazu war sie ziemlich gefasst für eine Frau, die gerade in einem Krankenbett aufgewacht war, weil sie am Tag zuvor ein Hydra-Agent überfallen hatte. Eben jener Gedanke erinnerte Steve an die Ernsthaftigkeit ihrer Lage und auch über Mrs. Benfields Gesicht lege sich ein Schatten, der verriet, dass der Frau wohl gerade etwas Ähnliches in den Sinn kam.

Wilson und er zogen sich gerade zwei Stühle an das Bett, als die Krankenschwester mit zwei Tassen durch die Tür trat und ihnen mit einem Augenzwickern den versprochenen Kaffee reichte.

„Uns bleibt wohl nicht viel Zeit, bis hier die Polizei aufkreuzen und allerlei unangenehme Fragen stellen wird", begann die ältere Dame, als sie wieder alleine waren.

„Zeit ist ohnehin etwas, das uns fehlt", antwortete Steve und Mrs. Benfield nickte ihm knapp zu.

„Woher kennt Captain America meine Rebecca?"

„Das tut er nicht", kam ihm Wilson dieses Mal zuvor.

„Aber wir haben anscheinend einen gemeinsamen Freund", ergänzte Steve.

„Einen Freund?"

Mrs. Benfield sah sie überrascht an.

„Rebecca hat keine Freunde, zumindest keine menschlichen."

Mit einem Seufzer ließ sie sich etwas tiefer in das voluminöse Kissen sinken.

„Ich wusste, dass der Tag kommen wird, an dem Hydra vor meiner Tür steht. Gott allein weiß, wie sie auf meine Spur gekommen sind."

Ihr Gesicht nahm plötzlich einen verzweifelten Ausdruck an.

„Ich wollte es ihm nicht sagen. Ich wollte mein kleines Mädchen nicht an ihre Feinde verraten."
Steve ergriff ihre Hand und sah der älteren Frau fest in die Augen.

„Angela, bitte erzählen Sie uns alles der Reihe nach. Alles, was Sie wissen."

„Ich habe sie gerettet. Damals vor fast vier Jahren. Wie ein angefahrenes Tier lag sie an dieser Landstraße mitten im bewaldeten Nirgendwo von Virginia. Ich war gerade auf dem Weg in mein Ferienhaus. Schon seit vielen Jahren verbringe ich den Frühling und den Sommer im Shenandoah Nationalpark. Zuerst dachte ich, die junge Frau sei aus einer Anstalt geflohen. Sie war bewusstlos, in einem erbärmlichen Zustand. In ihren kurzen wachen Momenten redete sie Deutsch. Ich bin sehr an Fremdsprachen interessiert und so verstand ich ein paar Brocken, von dem was sie sagte. Irgendetwas in mir überzeugte mich, dass ich diesem armen Geschöpf helfen musste. Also nahm ich sie mit in meine Lodge, päppelte sie auf."

Sie ließ ihren Blick zwischen Steve und Sam hin und her schweifen. Das war also des Rätsels Lösung. Rebecca war von Mrs. Benfield aufgesammelt und damit vor Hydra gerettet worden. Niemals hätte Steve sich träumen lassen, dass eine einzige ältere englische Lady einer globalen Terrororganisation wie Hydra unbewusst Paroli bieten konnte. Auf den ersten Blick erschien Mrs. Benfields Einsatz vielleicht als beinahe selbstverständlicher Akt der Nächstenliebe, doch Steve hatte gelernt, dass im Leben rein gar nichts selbstverständlich war, vor allem dann nicht, wenn es nicht um das eigene Wohlergehen der Menschen ging.

„Ich weiß alles", fuhr Angela fort. „Dass sie aus dem vergangenen Jahrhundert stammt, dass sie über eine unglaubliche Gabe verfügt, dass Hydra sie zu schrecklichen Dingen gezwungen hat. Irgendwie hatte sie es geschafft sich aus ihrer Gefangenschaft zu befreien. Damals wie heute klingt diese Geschichte verrückt, aber ich bin Schriftstellerin, keine Idee ist für mich so abstrus, als dass ich darin nicht doch Wahrheit finden könnte. Und ich half ihr, so gut ich konnte, sich in unserer modernen Welt zurechtzufinden. Fast ein halbes Jahr lebte sie mit mir in meiner Lodge. Ich gab sie als meine Nichte aus. Rebecca Stone, so nannte sie sich. Ich brachte ihr Englisch bei. Sie war so eine gute Schülerin, so ein liebes, intelligentes Mädchen."

Tränen sammelten sich in ihren alten Augen.

„Ich wollte, dass sie mit mir in meine Heimat kommt, dass sie in Sicherheit ist. Aber sie zog das anonyme Großstadtleben vor. Sie wollte mir nicht weiter zur Last fallen. Fast vier Jahre lebte sie nun schon in Washington. Einmal im Jahr kam sie mich in meinem Ferienhaus besuchen. Irgendetwas muss passiert sein. Irgendwie hat Hydra sie aufgespürt."

„Wer hat Sie überfallen? Wer hat Ihnen das angetan?", versuchte Steve in ruhigem Ton zu fragen, doch das Beben in seiner Stimme bezeugte die immense Wut, die sich in seiner Brust aufgestaut hatte.

„Er hat sich nicht bei mir vorgestellt, als er mich in meinem Garten niedergeschlagen und dann an einen Stuhl gefesselt hat", antwortete die Engländerin mit beißendem Sarkasmus in ihrer Stimme.

Sie räusperte sich und fuhr fort: „Er redete nicht viel. Er wiederholte nur immer ein und dieselbe Frage. Er wollte wissen, wo Rebecca sich versteckte. Ich wusste, dass Hydra ihn schickte. Es schien ihm Spaß zu bereiten mich zu quälen. Ich glaube, er war Russe. Zumindest hatte er einen leichten Akzent. Er war vielleicht Mitte Dreißig, kinnlange dunkle Haare. Wäre ich dem Mann in einer anderen Situation begegnet, dann hätte ich ihn wohl sogar als gutaussehend bezeichnet. Aber aus seinen Augen sprachen Menschenverachtung und ein kranker Geist."

Sie senkte ihren Kopf und mit kaum hörbarer Stimme flüsterte sie: „Und ich habe es ihm gesagt. Ich versuchte ihm mehrere Lügen aufzutischen, aber ich konnte ihn nicht täuschen. Als die Schmerzen unerträglich wurden, habe ich ihm die Adresse meines Ferienhauses in den USA genannt. Die Benfield Lodge war für Rebecca immer ein sicherer Zufluchtsort, aber jetzt bete ich dafür, dass sie sich nicht dort versteckt."

„Aber wenn sie doch dort sind, dann weiß Hydra jetzt ihren Aufenthaltsort", sprach Sam das aus, was allen Anwesenden in diesem Moment klar wurde.

„Wir müssen zurück!"

Steve schnellte nach oben. Beinahe schüttete er sich dabei den Kaffee über sein helles Shirt.

„Wie lautet die genaue Adresse, Angela?"

„Benfield Lodge in der Nähe von Oakville im Shenandoah Nationalpark im Bundesstaat Virginia", antwortet Mrs. Benfield tonlos.

„Steve."

Sam hatte sich ebenfalls erhoben. Die Hand seines Freundes berührte seine Schulter und seine braunen Augen blickten ungewohnt ernst in Steves Gesicht.

„Jetzt komm mal wieder runter. Kopfloser Aktionismus hilft niemandem weiter. Ich weiß, du denkst, dass Bucky und Rebecca dort sind, aber uns trennen im Moment mehrere tausend Meilen von diesem Ort."

„Umso wichtiger, dass wir unsere Hintern in Bewegung setzen und uns auf dem schnellsten Weg zum Flughafen aufmachen."

Wie konnte Sam in dieser Situation so cool bleiben? Die Vorstellung, dass sich die Schlinge um Buckys Hals mit jeder verlorenen Minute enger und enger zuzog, machte Steve krank vor Sorge. Und auch die Frau schwebte in allergrößter Gefahr.

„Wir könnten Stark informieren oder Hill", schlug Sam vor.

„Tony Stark? Ist das dein Ernst? Am besten noch in seiner Iron Man-Rüstung? Damit er dort in seiner üblichen Krawallmanier aufschlägt und Bucky und Rebecca wieder auf Nimmerwiedersehen verschwinden? Und was soll Maria Hill ausrichten? Bucky kennt beide nicht. Ich weiß ja nicht einmal, ob er sich an mich erinnern kann. Wie wird er wohl reagieren, wenn es dort auf einmal von ehemaligen S.H.I.E.L.D.-Agenten nur so wimmelt?"

„Okay, schlechte Idee", gab Wilson klein bei und ließ seine Arme schlaff neben seinen Körper sinken. „Aber du weißt am besten, dass Bucky kein wehrloser kleiner Junge ist. Sicherlich kann er es mit mehreren Hydra-Agenten aufnehmen. Und auch Rebecca scheint nicht ganz hilflos -"

„Wer ist Bucky?", unterbrach die Stimme der älteren Dame ihr kleines Wortgefecht.

Doch bevor Steve ihr eine Antwort geben konnte, erklangen auf einmal laute Stimmen im Flur vor Mrs. Benfields Zimmer. Aufgelöst betrat die junge Krankenschwester den Raum, dicht gefolgt von mehreren uniformierten Männern. Die Polizei, das hatte ihnen jetzt gerade noch gefehlt.

„Verzeihen Sie, Mrs. Benfield, aber der Inspector -", hob die junge Frau an, doch ein hagerer Mann mit grauen Haaren, der im Gegensatz zu den übrigen Männern keine schwarze Uniform trug, schnitt ihr energisch das Wort ab.

„Ma'am, sie behindern hier eine polizeiliche Ermittlung!"

Grob drängelte er sich an der Angesprochenen vorbei und musterte dann Steve und Sam mit einem abschätzigen Blick.

„Sie haben die Lady also gefunden?"

Steve verschränkte die Arme vor der Brust. Sie hatten keine Zeit für Querelen mit einer örtlichen Polizeidienststelle. Wenn es nach ihm ginge, wären sie mittlerweile auf der Suche nach einem Taxi, das sie zurück zum Flughafen brachte, wo hoffentlich noch Starks Privatjet auf sie wartete.

„Officer, hören Sie, wir haben es eilig."

„Inspector!", korrigierte ihn der Mann pikiert und steckte beide Hände in einer aufgesetzt lässigen Geste in die Taschen seines klischeehaften beigen Trenchcoats. „Und es ist mir herzlich egal, ob Sie es eilig haben. Sie sind Zeugen bei einem schweren Verbrechen und Sie begleiten uns jetzt auf die Wache."

Sam warf ihm einen warnenden Blick zu. Steve sah ein, dass es nicht ratsam war, hier im Krankenhaus eine Schlägerei anzuzetteln, wenn sie innerhalb kürzester Zeit zum Flughafen wollten und dabei nicht von Hundertschaften der britischen Polizei verfolgt werden wollten. Er atmete also einmal tief ein und wieder aus. Ein letztes Mal wandte er sich zu Angela Benfield um, bevor Sam und er den Polizisten aus dem Zimmer folgten.

„Helfen Sie ihr, Rogers", war alles, was die alte Frau noch sagen konnte, bevor sich die Tür hinter Steves Rücken schloss.

+++

Einige Stunden später saßen Steve und Sam immer noch im Büro von Inspector Matthews. Dieser Umstand trieb ihn beinahe in den Wahnsinn, denn er konnte zeitgleich dabei zusehen, wie die Sonne ihren Zenit bereits weit überschritten hatte und das nachlassende Tageslicht zu einem nicht zu leugnenden Indikator wurde, dass ihnen langsam aber sicher die Zeit davonlief. Matthews hatte sie gar nicht erst mit auf die Polizeiwache begleitet, sondern zuerst die bedauernswerte Mrs. Benfield verhört. Scheinbar hatte diese sich jedoch äußerst wortkarg gezeigt und nun stand der Mann schon einige Zeit an seinem Bürofenster und starrte zwischen den Spalten der Jalousie auf den asphaltierten Parkplatz vor dem Polizeigebäude. Am Schreibtisch hämmerte sein Mitarbeiter Sergeant Roberts eifrig mit seinen dürren Fingern in die Tastatur eines Laptops, während sein Chef das vergangene Gespräch zum bereits dritten Mal rekapitulierte.

„Sie behaupten also, dass Sie dieser so genannte Superheld namens Captain America sind und zu einer Gruppierung namens - Roberts, wie war nochmal der Name?"

„Avengers", warf der Sergeant, immer noch tippend, ein und schaute dabei nicht einmal von dem Bildschirm auf.

„Wie auch immer", knurrte der Inspector und musterte erneut Steve und Sam mit zusammengezogenen Augenbrauen. „Und Sie waren am Tatabend rein zufällig in Mrs. Benfields Haus, weil Sie gerade auf eigene Faust in einem Entführungsfall in den Vereinigten Staaten ermitteln, der in Zusammenhang mit Angela Benfields Nichte steht? Was sind Sie, Privatdetektive?"

„Sir, ich weiß, das klingt alles ziemlich verrückt, aber wir müssen unter allen Umständen schnellstmöglich zurück. Menschenleben sind in Gefahr", versuchte Steve erneut den älteren Polizisten zu überzeugen.

„Das klingt ja alles hochdramatisch, Mr. Rogers. Amerikaner haben immer solch einen Hang zu Pathos und Dramatik, nicht wahr, Roberts?"

Der Sergeant stimmte in das aufgesetzte Lachen seines Vorgesetzten nicht mit ein, sondern beäugte Steve und Sam über den Rand seiner heruntergerutschten Lesebrille mit beinahe angsterfüllten Augen.

„Inspector, vielleicht sollten wir doch kurz in London anrufen und die Sache überprü - "

„Papperlapapp", unterbrach der Inspektor seinen Mitarbeiter unwirsch, der sich unter seiner erhobenen Stimme wie ein verschrecktes Tier wegduckte. „Die erklären uns ja für verrückt, wenn wir dort mit so einer hanebüchenen Geschichte ankommen. Wir sind vielleicht nur eine kleine provinzielle Polizeistation, aber mit zwei durchgeknallten Yankees werden wir hier auch noch fertig."

Steve war schon im Begriff alle Beherrschung zu verlieren und dieses Büro und die ganze Polizeiwache zu Kleinholz zu verarbeiten, nur um nicht noch eine weitere kostbare Minute in der Gegenwart dieses arroganten Kleingeistes zu verlieren. Er konnte spüren, wie sich Wilson neben ihm ebenfalls anspannte. Er war es so Leid den braven Soldaten zu spielen und auf dem Weg der Vernunft zu wandeln. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Es ging um Bucky!

Das schrille Klingeln eines Telefons war es schließlich, das Inspector Matthews Büro davor bewahrte zum Schauplatz eines nie dagewesenen Wutausbruches von Captain America zu werden.

„Für Sie, Sir", stammelte der Sergeant, nachdem er mit immer größer werdenden Augen einer scheinbar äußerst wütenden Stimme am anderen Ende der Leitung lauschte und dann den Hörer an seinen Vorgesetzten weiterreichte.

Das ohnehin schon bleiche Gesicht von Roberts war noch ein paar Nuancen heller geworden und die Sommersprossen auf seinen Wangen stachen dadurch so heftig hervor, dass sie beinahe künstlich wirkten. Der Anblick des jungen verängstigten Polizisten ließ Steve seinen Ärger ein weiteres Mal hinterschlucken. Irgendwie erinnerte ihn der etwas unbeholfene und schüchterne junge Mann an den dürren, kränklichen Steve Rogers aus Brooklyn, dessen Lebensziel es gewesen war allen Widrigkeiten zum Trotz, in die Army aufgenommen zu werden, um für sein Heimatland zu kämpfen.

Steves Augen wanderten zum Inspector, der nun seinerseits an der Ohrmuschel des Telefons klebte und dessen Gesichtsfarbe sich ebenfalls schlagartig verändert hatte. Aus dem Hörer drang Gebrüll und je länger das ziemlich einseitige Telefonat andauerte desto mehr zogen sich die Mundwinkel des Mannes nach unten.

„Ja, natürlich", wiederholte der Inspector mehrmals und fuhr sich mit dem Handrücken über seine Stirn, auf der sich Schweißperlen gebildet hatten.

„Selbstverständlich", antwortete er schließlich und legte dann mit einem tiefen Seufzer den Hörer auf.

Gerade wollte Matthews sich an Steve und Sam wenden, als ein ohrenbetäubender Lärm von außerhalb jede Unterhaltung unmöglich machte. Beinahe klang es so, als würde die Royal Airforce gerade neben dem Polizeigebäude ein Manöver abhalten. Steve wechselte einen überraschten Blick mit seinem Sitznachbarn. Scheinbar schien auch Wilson das Geräusch vertraut vorzukommen, denn urplötzlich erhellten sich seine Gesichtszüge. Als der Lärm sich nach und nach legte und er sich offensichtlich etwas gesammelt hatte, räusperte sich der Inspector nach einiger Zeit verlegen.

„Sie scheinen Fürsprecher in allerhöchsten Kreisen zu haben, meine Herren", schlug der Mann auf einmal ganz versöhnliche, beinahe unterwürfige Töne an. „London hat mich gerade darüber informiert, dass sie über politische Immunität verfügen und dass wir Sie in Ihren Ermittlungen nicht länger behindern sollen."

„Mit anderen Worten, der Inspector hat gerade einen Anruf aus dem Vorzimmer der neuen Vorsitzenden des Weltsicherheitsrates Hawley erhalten."

„Romanoff?", stießen Steve und Sam unisono aus.

Lächelnd trat Natasha Romanoff alias Black Widow in das Büro. Sie hatte ihren hautengen schwarzen Kampfanzug gegen Jeans und eine braune Lederjacke getauscht und ihre feuerroten Haare umrahmten in wilden Locken ihr Gesicht mit jenen ausdrucksstarken Augen und dem verführerischen Schmollmund, das nur allzu oft über den Umstand hinwegtäuschte, dass sie eine ehemalige KGB-Killerin und außergewöhnliche Nahkampfexpertin war.

„Die Kavallerie ist da!", verkündete die Meisterspionin nonchalant.

Da Steve und Sam sie immer noch wie vom Donner gerührt anstarrten, ergänzte sie mit etwas mehr Nachdruck und einer hochgezogenen Augenbraue: „Clint wartet schon. Der Quinjet ist bereit für den Abflug."

Mehr brauchte es nicht, um Steve aus seinem Stuhl hochschnellen zu lassen. Und im Anschluss waren es Sam und Natasha, die Probleme hatten mit dem enormen Tempo Schritt zu halten, das Captain America an den Tag legte, als er durch das Gebäude in Richtung Parkplatz stürmte. Dort wartete, wie es Natasha angekündigt hatte, tatsächlich im letzten Licht der Abendsonne der Quinjet der Avengers, um sie in die Staaten zu bringen. Zurück zu Bucky. Hoffentlich noch rechtzeitig!

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