Kapitel 24: White Death

Bei der Jagd gab es eine Grundtugend. Geduld. Nur der geduldige Jäger war am Ende auch erfolgreich. Und er war geduldig. Das hatte ihn sein Vater schon in jungen Jahren gelehrt.

Er erinnerte sich gut an seine Kindheit und die tagelangen Ansitze bei der Elchjagd in der brutalen Kälte seiner sibirischen Heimat. Manchmal hatten sie sogar Schnee in ihren Mund gestopft, damit ihr sichtbarer Atem sie nicht in der kalten Luft verraten konnte. Sie hatten sich oft tief in den Schnee eingegraben und dort mehrere Stunden auf der Lauer gelegen. Kälte machte ihm nichts aus. Belaya Smert, so hatten ihn seine russischen Kollegen später wegen dieser Taktik getauft, die er bei unzähligen Einsätzen im Guerillakrieg am verschneiten Kaukasus im Zweiten Tschetschenienkrieg perfektioniert hatte. Als White Death hatte er diesen Spitznamen einmal für einen Amerikaner übersetzt und der Name war geblieben, denn er passte ausgezeichnet zu einem der tödlichsten Scharfschützen des russischen Militärs.

Hydra rekrutierte schließlich nur die Besten und er war mehr als bereit gewesen sich der Terrororganisation anzuschließen, schließlich hatten sie ihn mit einem einfach unwiderstehlichen Angebot gelockt. Denn was konnte schon erstrebenswerter sein, als eine bessere Version von sich selbst zu erschaffen? Ein paar schmerzhafte Injektionen und eventuelle Nebenwirkungen hatten ihn jedenfalls nicht abschrecken können.

Dennoch hatte er in all den Jahren, die er in Hydras Diensten verbracht hatte, jene Grundtugend seines Vaters nie vergessen. Geduld.

Geduld bewahrte auch vor unüberlegten Schritten, selbst wenn man sich seiner Sache bereits ziemlich sicher war. Immer bestand die Möglichkeit, dass die Beute die Gefahr doch noch wittern konnte. Und die Zielperson, an deren Fersen er sich in diesem Fall geheftet hatte, war mit keiner vergleichbar, auf die er bisher Jagd gemacht hatte.

Es war nicht sonderlich schwer gewesen aus der Engländerin die richtige Information herauszubekommen. Genau genommen hatte ihn die Folter der alten Schachtel innerhalb kürzester Zeit gelangweilt und nachdem sie ihm den möglichen Aufenthaltsort seiner Zielperson verraten hatte, hatte er sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, ihr anschließend die Kehle durchzuschneiden. Ob sie schließlich an Blutverlust oder Dehydrierung einging, konnte ihm herzlich egal sein, denn es war nicht sein Auftrag, die Alte um die Ecke zu bringen. Nicht, dass er sich für die Drecksarbeit zu schade war, immerhin war er es gewohnt, dass er zumeist Opfer verfolgte, keine Gegner.

Aber genau dieser besondere Umstand machte das Ganze hier noch reizvoller, denn sein nächstes Opfer war vielleicht physisch schwach, aber nichtsdestotrotz ein äußert wehrhafter Gegner.

Man sah es ihr nicht an, der zierlichen Frau mit dem Gesicht eines Engels und den goldblonden Haaren, aber sie hatte mindestens so viele Menschenleben auf dem Gewissen wie er selbst. Er kannte Red Stars Akte, kannte ihre Vergangenheit. Er kannte sie womöglich besser als ihr Begleiter, der in diesem Augenblick zu ihr an die Haustür zurückkehrte, nachdem er kurz zuvor einen lautstarken Streit mit einem männlichen Besucher gehabt hatte, der damit endete, dass er dem Mann eine verpasst hatte.

Barnes.

Der verfickte Winter Soldier höchstpersönlich. Sein ewiger Rivale, selbst wenn dieser nicht einmal von seiner Existenz wusste. Konnte er sich überhaupt an irgendetwas erinnern? Er war so oft in Kryostase versetzt und in diese Maschine gesteckt worden, dass sein Gehirn mittlerweile nur noch Matsch sein musste.

Trotzdem war der Soldier immer Pierce Liebling gewesen. Wie oft hatte dieser beschissene Nostalgiker an seinem liebsten doch immer wartungsintensiveren Spielzeug festgehalten, anstatt auf seine russischen Hydra-Genossen zu hören und endlich das längst in die Jahre gekommene, unzuverlässige Modell gegen die neuere, bessere, effizientere Tötungsmaschine einzutauschen?

Er sollte die Faust Hydras sein! Er sollte Geschichte schreiben, nicht Barnes, dieses demente Relikt der Vergangenheit! Stattdessen spielte er seit rund acht Jahren immer nur die zweite Geige, hatte hinter dem Soldier aufräumen müssen oder noch schlimmer sein Double spielen dürfen. Wie viele seiner erfolgreichen Missionen waren anschließend dem Winter Soldier zugeschrieben worden? Wie viele? Der Tag, als er von Hydras Zusammenbruch in Washington, von Pierce Tod und der Flucht des Soldiers erfahren hatte, war für ihn ein Freudentag gewesen. Wäre es möglich, er würde heute noch auf Pierce Asche tanzen. Der alte Wichser hatte bekommen, was er verdient hatte. Hydra hatte noch andere Männer in ihren Reihen, fähigere Männer. Vielleicht waren sie im Moment in den Staaten geschwächt, aber S.H.I.E.L.D. hatten sie mit sich in den Abgrund gezogen und in Europa erstarkte ihre wunderbare Organisation gerade wieder zu alter Größe.

Als ihn dann ein alter Waffenbruder vor wenigen Tagen in seiner New Yorker Schläferzelle kontaktierte und nach Washington rief, ließ er sich nicht zweimal bitten. Es galt eine verlorene Tochter in Hydras Schoß zurückzubringen. Die Welt sollte sehen, dass Hydra niemals besiegt werden konnte. Sie hatten einen Kopf abgeschlagen, dieser widerliche Gutmensch Captain America, seine rothaarige Spinnenschlampe und ihre lächerlichen Helferlein. Doch im Verborgenen wuchsen bereits neue Köpfe heran. Hydra würde mit neuer Macht wiederauferstehen und die Welt würde brennen.

Er hatte nur eine Bedingung an seine Unterstützung geknüpft, bevor er mit seinen eigenen Nachforschungen begonnen hatte. Er wollte derjenige sein, der Barnes am Ende eine Kugel in den Kopf verpasste. Und so lange übte er sich in Geduld, wie er es schon die vergangenen Jahre getan hatte. Oh, er war gut im Warten, verdammt gut. Und Vorfreude war bekanntlich die schönste Freude.

Knappe zwei Stunden lag er nun schon gut verborgen im angrenzenden Wald vor der Lodge auf der Lauer. Seine dunkle Kleidung fügte sich perfekt in seine Umgebung und man hatte ihn mit einem Helm ausgestattet, der zwar nicht sonderlich angenehm zu tragen war, aber über interessante Fähigkeiten verfügte. Hadeskappe wurde das Ding genannt und er fragte sich langsam, wer sich bei Hydra nur immer diese dämlichen Mythologie verseuchten Namen ausdachte.

Seine stahlgrauen Augen folgten der Telepathin und dem Soldier, als sie schließlich gemeinsam im Haus verschwanden. Zuvor hatten sie Händchen haltend am Eingang gestanden und sich eine gefühlte Ewigkeit angeschmachtet. Das zuckersüße Bild löste bei ihm Brechreiz aus. Der Soldier hatte scheinbar eine Schwäche für die Frau. Sie war hübsch, keine Frage. Er hatte sich dieses Gesicht in den vergangenen 48 Stunden gut eingeprägt. Und Barnes, der seit einigen Jahrzehnten unter Sexentzug litt, hatte sicherlich gewisse Bedürfnisse. Aber wahrscheinlich hatte der Soldier im Laufe der Jahre sogar vergessen, wie man es einer Frau richtig besorgte.

Noch etwas Geduld, ermahnte er sich innerlich. Irgendwann würde sie auch einmal allein zurück bleiben und dann konnte er zuschlagen. Dennoch durfte er sie nicht unterschätzen. Die sieben toten Hydra-Agenten in einer Nebenstraße von Washington waren Beweis genug, dass man sich von Red Stars Äußerem nicht täuschen lassen durfte und mit dem Winter Soldier hatte sie einen formidablen Bodyguard an ihrer Seite. Es wäre dumm und leichtsinnig sich gleichzeitig mit diesen Beiden anzulegen. Er war weder das eine noch das andere. Nein, er musste die Frau allein erwischen. Er musste nur den richtigen Moment abwarten. Geräuschlos zog er sich für diese Nacht zurück.

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