Kapitel 22: Die englische Tante
„Hydra-Tiefkühlabteilung."
Tony Stark hatte einmal mehr kurz und knapp die Gedanken zum Ausdruck gebracht, die seinen Mitmenschen im gleichen Moment durch den Kopf schossen. Grinsend löste er sich von der Tür und schlenderte in aller Seelenruhe und im Wissen, das alle Augen im Raum auf ihm ruhten, an Hills Seite.
„Mittlerweile verliert man bei diesen ganzen Einfrier-Auftau-Geschichten den Überblick. Ich dachte, du wärst die einzige Tiefkühlware, Captain Iglo."
„Das dachte ich auch", murmelte Steve auf Tonys wie immer eigenwillige Art ihn willkommen zu heißen.
Sein Blick wanderte zurück zur Schwarzweiß-Fotografie des Mädchens. Steve konnte immer noch nicht glauben, dass sie aus der gleichen Zeit wie er selbst und Bucky stammte. Tausend Fragen schwirrten durch seinen Kopf. Wie war sie Hydra entkommen? War sie das überhaupt? Vielleicht war sie ja auch nur ein Lockvogel? Hatte man ihren Verstand genauso manipuliert wie Buckys? Oder war sie auch auf der Flucht und hatte sich in Washington vor Hydra versteckt? Wie hatten sie und Bucky überhaupt zueinander gefunden?
„Eines muss man deinem Killer-Kumpel ja lassen, er hat nicht lange gefackelt und sich eine Frau in seinem Alter angelacht."
Neben Tony rollte Maria Hill offensichtlich genervt mit den Augen. Sam versuchte vergeblich ein Glucksen zu unterdrücken. Wenigstens einer, der mit Starks zweifelhaftem Humor etwas anzufangen wusste. Gerade wollte Steve das Gespräch wieder in sachliche Bahnen lenken, als er auf einmal ein Vibrieren an seinem Bein spürte. Starks Augenbraue schoss nach oben.
„Nicht dein Ernst, Rogers!"
Steve spürte die Röte in sich aufsteigen, während er ungeschickt sein Smartphone aus der Hosentasche fummelte. Eine unbekannte Nummer wurde auf dem Display angezeigt. Mit einem entschuldigenden Schulterzucken nahm Steve das Gespräch an.
„Hallo Cap, hier ist Anna."
Für einen Augenblick wusste er nicht, was er sagen sollte.
„Aus dem Stripclub", fügte die Frauenstimme zögerlich hinzu, nachdem er immer noch keine Worte gefunden hatte.
Im Hintergrund waren laute Musik und vereinzelte Stimmen zu hören. Woher hatte sie seine Nummer? Ein kurzer Seitenblick auf Sam beantwortete ihm in Sekundenschnelle seine Frage und Steve entwich ein Seufzer. Wirkte er denn so sehr nach schüchternem Junggesellen, dass Sam mittlerweile sogar schon seine Handynummer an fremde Frauen verteilte?
„Anna, es tut mir leid, aber es ist gerade ganz schlecht", hob er mit gedämpfter Stimme an, doch Starks hämisches Grinsen verriet ihm, dass dieser schon dabei war sich ein paar flapsige Bemerkungen bezüglich angeblicher Frauengeschichten zurechtzulegen.
„Wow, normalerweise verteile ich ja die Körbe", hörte er Anna lachen.
„Hey Adonis, vielleicht solltest du deinen Groupie später zurückrufen", warf Tony mit einem Augenzwinkern ein, was Steve dazu veranlasste ihn seinerseits mit einem wütenden Blick zu bedenken.
Er wollte gerade Anna höflich aber kurz und schmerzlos auf ein anderes Mal vertrösten, als erneut ihre Stimme ertönte: „Sorry, wenn ich dich störe, aber hier war gestern Abend noch so ein seltsamer Kerl und hat mich über Becca ausgequetscht und mir lässt das einfach keine Ruhe, weil..."
„Welcher seltsame Kerl?", fiel Steve ihr nun ins Wort.
„Keine Ahnung. Er hat mir einen Ausweis unter die Nase gehalten, als er in die Umkleide im Red Passion geplatzt ist. Ich glaub, es war das S.H.I.E.L.D.-Symbol drauf. Vorgestellt hat er sich jedenfalls nicht, falls du das meinst. Wir Mädels sind ganz schön erschrocken. Der Typ war irgendwie unheimlich."
Steve wurde aus Annas bruchstückhaften Schilderungen nicht schlau. Warum sollte ein S.H.I.E.L.D.-Agent Nachforschungen bezüglich Rebecca und Bucky anstellen? Gab es in Washington überhaupt noch aktive S.H.I.E.L.D.-Agenten? Hill konnte ihm diese Frage sicherlich beantworten. Ein mulmiges Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit.
„Was hast du ihm erzählt?"
„Was ich auch den Cops erzählt habe. Aber er wollte noch wissen, ob Becca Familie hat?"
„Familie?", echote Steve und legte die Stirn in Falten.
„Ja, er fragte, ob sie Verwandte oder andere enge Freunde hat, die ihm bei der Suche weiterhelfen könnten. Ich hab mir nichts dabei gedacht und ihm gesagt, dass Becca ab und an eine Angela Benfield erwähnt hat, eine Tante aus England, scheinbar eine Schriftstellerin oder sowas. "
Eine Tante aus England? Steve fragte sich, wie alt diese angebliche Tante wohl sein sollte, jetzt nachdem er erfahren hatte, dass Rebecca ebenfalls aus der gleichen Epoche wie er selbst kam.
„Du hast uns aber nichts von einer Tante gesagt."
„Ich wusste ja nicht, dass das irgendwie wichtig ist. Sie lebt schließlich in England und kommt nur einmal im Jahr in die Staaten zu Besuch", kam Annas etwas schnippige Antwort.
„Sie kommt zu Besuch?", brüllte Steve regelrecht ins Telefon.
Mittlerweile ruhten drei paar durchbohrende Augen im Besprechungszimmer auf ihm.
„Ja, einmal im Jahr geht Becca sie immer für ein paar Wochen besuchen. Keine Ahnung wo, das hat sie nie erwähnt."
Plötzlich nahm Annas Stimme einen besorgten Ton an.
„Steve, ich hab Angst, dass ich irgendwas Falsches gesagt habe. Hier waren in den letzten Tagen ja so einige seltsame Gestalten unterwegs, aber der Typ war mit Abstand am schrägsten. Ich mein, er sah gut aus, aber er war von der Sorte Mann, bei dem die Zimmertemperatur um ein paar Grad fällt, wenn er einen Raum betritt. Ach so, und er hatte einen komischen Akzent, Russisch oder sowas Ähnliches."
Russisch? Automatisch kamen Erinnerungen an die Kiew-Akten in Steve hoch, jene Akten, die allerlei unschöne Aufzeichnungen über das Winter Soldier Programm enthielten und ihm in den vergangenen Wochen einige schlaflose Nächte beschert hatten.
„Sonst noch irgendwelche Überraschungen, von denen ich wissen müsste?"
Anna gab ein Schnauben von sich und er wusste, dass der sarkastische Unterton mehr als unangebracht gewesen war. Woher sollte Anna wissen, welche Informationen wichtig oder unwichtig waren, wem man derlei Hinweise anvertrauen konnte und wem nicht.
„Tut mir leid, Anna. Das sind wirklich wichtige Informationen. Danke, dass du mich angerufen hast."
Scheinbar war die Stripperin nicht sonderlich nachtragend, denn er hörte sie am anderen Ende schon wieder leise lachen und ihre Stimme glich erneut dem Schnurren einer Katze, als sie ihm antwortete.
„Ich bin gerne behilflich, Captain!"
„Danke Anna. Vielleicht treffen wir uns ja mal auf einen Kaffee."
Hatte er das gerade wirklich laut gesagt? Offensichtlich ja, denn Sam grinste auf einmal wie ein Honigkuchenpferd und Tony hatte sein wissendes Playboy-Schmunzeln aufgesetzt. Einzig Hill stand mit neutralem Gesichtsausdruck auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches, wobei ihre verschränkten Arme ein Zeichen dafür waren, dass sie langsam ungeduldig wurde.
„Hat Captain America mich gerade zu einem Date eingeladen?", hörte er Anna fragen und er konnte an ihrer Stimme ablesen, dass wieder eines dieser verführerischen Lächeln ihre roten Lippen umspielte.
„Sieht so aus", murmelte Steve.
Eilig verabschiedete er sich, um dann sein Smartphone vor sich auf den Tisch zu legen. Er wartete bereits auf einen dummen Spruch aus Starks Mund und prompt lieferte der Multimilliardär einen entsprechenden Kommentar.
„Ich bin beeindruckt, Captain! Müssen die Frauen mittlerweile bei dir Nummern ziehen?"
Und mit einem schiefen Grinsen wandte er sich an Sam: „Geht das den ganzen Tag so, Flattermann?"
„Der Name ist Wilson", war das Einzige, was Sam mit einem ebenso dämlichen Gesichtsausdruck erwiderte.
„Soll ich später wiederkommen, wenn ihr mit eurem Männergespräch fertig seid?", mischte sich plötzlich Hill mit beißender Stimme ein.
Steve wäre ihr in diesem Moment gerne um den Hals gefallen. Mit einem Räuspern befreite er sich von seiner Verlegenheit und wandte sich an die ehemalige Agentin.
„Gibt es irgendwelche Informationen zu Verwandten dieser Rebecca?"
„Nicht dass ich wüsste", antwortete Hill, doch man konnte ihr förmlich ansehen, wie die kleinen Rädchen in ihrem Kopf zu rattern begannen.
„Inwiefern soll uns dein plötzliches Interesse an Ahnenforschung weiterhelfen, Rogers? Ich dachte, wir unterhalten uns hier, weil du deinen zerstreuten BFF aufspüren willst."
Steve ignorierte Tony und wandte sich erneut an Maria: „Rebeccas Arbeitskollegin hat von einem seltsamen Typ erzählt, der sie ausgehört hat. Er hat sich wohl als S.H.I.E.L.D.-Agent ausgegeben und nach lebenden Verwandten gefragt."
Als die Sprache auf einen angeblichen S.H.I.E.L.D.-Mitarbeiter kam, zog Hill ihre Augenbrauen zusammen. Es bedurfte keiner weiteren Erklärungen, denn der Ausdruck im Gesicht von Furys ehemaliger rechter Hand ließ keine Zweifel daran, dass der Kerl mit Sicherheit kein S.H.I.E.L.D.-Agent sein konnte.
„Hydra", stießen Steve und Sam gleichzeitig aus.
„Möglich", bestätigte Hill mit einem knappen Nicken.
Stark fuhr sich theatralisch durch die Haare und stützte sich dann mit beiden Händen auf dem Glastisch vor sich ab: „Spielen wir hier Cluedo oder warum muss man dir alles aus der Nase ziehen, Rogers? Jetzt spuk's schon aus! Gibt es Verwandte?"
„Anna hat etwas von einer Tante in England erzählt. Angela Benfield."
Mit einem schallenden Lachen warf Tony seinen Kopf in den Nacken.
„Na wunderbar! Wie viele Angela Benfields gibt es denn in England, J.A.R.V.I.S.?"
„Überprüfung der Telefonbücher ergab 367 Treffer", meldete sich die K.I. innerhalb weniger Sekunden zu Wort.
„Dann mal viel Spaß beim Klinkenputzen, Captain", prustete Stark.
„Sie ist Schriftstellerin", ergänzte Steve mit säuerlichem Gesichtsausdruck.
„Suche ergab einen Treffer", verkündete J.A.R.V.I.S. und Steve war sich nicht sicher, ob er sich den triumphierenden Tonfall der K.I. nur einbildete.
Wie von Geisterhand erschien plötzlich oberhalb des Tisches das Foto einer älteren Dame mit einem freundlichen runden Gesicht und grauen Haaren.
„Angela Eileen Benfield. Geboren am 25. August 1948 in Folkestone, England, Vereinigtes Königreich. Witwe. Keine Kinder. Wohnt in der Molloy Road 157 in Shadoxhurst, England, Vereinigtes Königreich. Berufsschriftstellerin und Bestsellerautorin. Verfasste diverse historische Liebesromane wie unter anderem 'Das Herz des Korsaren', 'Die Geliebte des Kreuzritters', 'Der Kuss des Templers'-"
„Schon gut, J.A.R.V.I.S., so genau will das hier niemand wissen", würgte ein genervter Stark die K.I. ab.
„Diese Tante scheint ja eine kleine Berühmtheit zu sein," schlussfolgerte Sam und tauschte einen besorgten Blick mit Steve aus.
Wahrscheinlich ging Wilson derselbe Gedanke durch den Kopf wie ihm selbst. Wenn die Informationen über diese Angela Benfield so einfach zu bekommen waren, dann würde auch dieser potenzielle Hydra-Typ die Frau innerhalb kürzester Zeit ausfindig machen können.
„Wir müssen nach England!"
Steve war wie von der Tarantel gestochen aufgesprungen und erntete erstaunte Blicke von den Anwesenden im Besprechungsraum. Selbst Sam musterte ihn mit einem wenig überzeugten Gesichtsausdruck.
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5.600 Kilometer und fast sechs Flugstunden später bedachte ihn Wilson immer noch mit einem kritischen Blick. Sein Freund war offenbar der Meinung, dass Steve sich verzweifelt an einen winzigen Strohhalm klammerte. Und vielleicht hatte Sam ja auch recht. Wahrscheinlich war diese Angela Benfield weder verwandt noch anderweitig mit Buckys Fluchtpartnerin bekannt. Sie jagten mit ziemlicher Sicherheit einem Hirngespinst hinterher. Aber wenn es doch den leisesten Hauch einer Chance gab, dass die Engländerin ihnen weiterhelfen konnte, dann nahm Steve diese Reise gerne in Kauf. Auch wenn es bedeutete, dass er wieder einmal in Starks Schuld stand, schließlich saßen sie gerade in einem Privatflugzeug von Stark Industries, das ihnen Tony freundlicherweise samt Pilot zur Verfügung gestellt hatte.
„Steve, jetzt komm mal runter! Du sitzt hier schon seit Stunden wie auf glühenden Kohlen", ermahnte ihn Wilson nicht zum ersten Mal.
Doch Steve konnte sich einfach nicht entspannt zurücklehnen und seinen Blick über die von einer untergehenden Sonne in Gold getauchte Wolkendecke schweifen lassen, so als würden sie in einem Urlaubsflieger sitzen.
„Was, wenn dieser komische Typ vor uns bei der Frau ist? Die ältere Lady schwebt vielleicht in Gefahr und weiß es noch nicht einmal", sprach Steve seine Sorgen endlich laut aus.
„Cap, hat dir eigentlich noch nie jemand gesagt, dass du nicht in jedem wachen Moment sämtliche Übel der Welt alleine bekämpfen musst?"
Er spürte Sams warme braune Augen auf sich und ließ seine Schultern hängen.
„Jetzt mal ehrlich, Steve. Wir sind fluchtartig aus New York aufgebrochen, fliegen gerade in Starks Privatjet in Rekordzeit einmal quer über den Atlantik, um diese Schriftstellerin aufzuspüren. Ich weiß nicht, ob die Dame uns weiterhelfen kann, aber du brauchst dir sicherlich keine Vorwürfe zu machen, dass du nicht alle erdenklichen Hebel in Bewegung setzt, um Barnes zu finden."
Bevor Steve etwas erwidern konnte, ertönte die Stimme des Piloten aus dem Cockpitlautsprecher: „In zwanzig Minuten erreichen wir Gatwick Airport."
Ab diesem Zeitpunkt zog die restliche Reise wie eine unwirkliche Traumsequenz an ihm vorüber. Die Ankunft am Flughafen, die fast zweistündige Taxifahrt durch ein grünes Hügelland mit unzähligen Schafen und entlang von kleinen Dörfern mit beschaulichen alten Ziegelhäusern.
Mittlerweile war es dunkel geworden und die Zeitverschiebung machte sich langsam sogar bei Steve bemerkbar. Der Smalltalk mit ihrem Fahrer war zum Erliegen gekommen. Steve war erleichtert, dass der Mann ihn nicht als Captain America erkannt hatte, sondern sie wohl eher für ein etwas merkwürdiges amerikanisches Touristenduo hielt. Neben ihm war Sam zwischenzeitlich eingenickt und zog mit einem leisen schnorchelnden Geräusch im Schlaf die Luft durch seinen Mund ein.
Ein kurzes Lächeln huschte über Steves Gesicht. Er war dankbar Wilson an seiner Seite zu wissen. Er war ihm in den vergangenen Wochen zu einem wirklich guten Freund geworden und manchmal hatte er das Gefühl, dass er ihn schon viele Jahre kannte. Und das war der Moment, in dem ihn die Schuldgefühle einholten. Wie konnte er hier neue Freundschaften schließen, während Bucky zur gleichen Zeit immer noch von Hydra gejagt und sehr wahrscheinlich noch dazu von grässlichen Erinnerungen an seine Vergangenheit als Winter Soldier verfolgt wurde?
Wieder und wieder drifteten seine Gedanken zu seinem alten Freund ab. Ob es Bucky gut ging? Ob er sich an mehr erinnern konnte? Ob er sich an ihn erinnern konnte? War die Frau mit dem Hund immer noch bei ihm? Ja, das hoffte er innerlich. Er hoffte, dass diese Rebecca bei Bucky war, denn die Vorstellung, dass Bucky allein und verwirrt in einer für ihn sicherlich fremden Welt zurechtkommen musste, brach Steve fast das Herz.
„So, wir sind da. Molloy Road 157, Shadoxhurst."
Die Stimme des Taxifahrers schreckte Wilson aus seinem leichten Schlaf. Etwas verloren blinzelte er Steve entgegen, bevor er sich scheinbar wieder daran erinnern konnte, wo er sich gerade befand. Sam war es auch, der seine Kreditkarte zückte, als der Fahrer sich mit einem breiten Grinsen zum Fahrgastraum umdrehte, während er auf eine astronomische Ziffer auf dem Taxameter deutete. Steve raunte Wilson zu, dass er das Geld bei Gelegenheit zurückbekäme, als sie aus dem Auto ausstiegen. Die Frage des Taxifahrers, ob er auf sie warten sollte, beantwortete er mit einem Kopfschütteln.
Vor ihnen stand ein Haus mit einer steinernen Fassade. Es war von einem gepflegten englischen Rasen umgeben, den unzählige Rosenbüsche säumten. Angela Benfields Haus lag abgeschieden und für Steve, der einen Großteil seines Lebens in Brooklyn verbracht hatte, war die Vorstellung, dass der nächste Nachbar erst einige Kilometer entfernt wohnte, mehr als gewöhnungsbedürftig. Andererseits vermittelte das kleine Häuschen einen gemütlichen Eindruck und als sie auf dem gepflasterten Weg in Richtung Eingangstüre gingen, stellte Steve fest, dass er sich insgeheim vielleicht auch nach solch einem friedlichen Zufluchtsort sehnte, an dem ihn die Sorgen der Welt weniger schnell einholen konnten, an dem er endlich Ruhe finden konnte, an dem er zu sich selbst finden konnte.
Im Inneren des Hauses war das schwache Leuchten eines TV-Gerätes zu sehen. Zumindest deutete der flackernde Lichtwechsel, der durch das Fenster neben der Tür nach außen drang, darauf hin. Doch auch nach mehrmaligem Klingeln öffnete ihnen niemand die Tür. Sam und er wechselten einen beunruhigten Blick, um sich dann wortlos aufzuteilen und das Haus von verschiedenen Seiten zu umrunden. Ein mehr als ungutes Gefühl machte sich in Steve breit, als er auf der Rückseite ankam und feststellte, dass die Tür des angebauten Wintergartens offen stand. Wilson kam neben ihm zum Stehen und gemeinsam betraten sie das Haus durch den Hintereingang.
„Mrs. Benfield, sind Sie zuhause?", rief Sam vom Wintergarten aus in den dunklen Wohnraum.
In dem Augenblick erleuchtete das Licht des Fernsehgerätes eine seltsame Form in der Mitte des Raumes und Steve stürzte mit übermenschlicher Schnelligkeit in das Wohnzimmer.
„Mein Gott!", hörte er seinen Freund hinter sich fluchen, doch Steve hatte nur noch Augen für das Bild, das sich ihm bot.
Vor ihnen war der leblose Körper einer älteren Frau an einen Stuhl gefesselt. Sie war geknebelt und ihr Kopf war auf ihre Brust gesunken. Seine erste Reaktion war neben dem Stuhl auf die Knie zu gehen und mit seiner Hand an ihren Hals zu fahren, um nach ihrem Puls zu tasten. Unterdessen schaltete Sam geistesgegenwärtig das Licht an.
Steve stockte der Atem. Welches kranke Schwein war zu so etwas fähig? Die Arme und Beine der Frau waren mit unzähligen Schnittwunden übersät, wobei ihr Peiniger offensichtlich darauf bedacht gewesen war, ihr keine unmittelbar tödlichen Wunden beizubringen.
„Folter?", erklang Sams tonlose Frage.
„Ja, aber sie lebt!", verkündete Steve, als er voller Erleichterung endlich einen schwachen Puls spüren konnte.
„Ruf einen Krankenwagen, Sam!"
Während Wilson hastig sein Handy zückte, hob Steve vorsichtig den Kopf der Frau an. Ohne Zweifel, es handelte sich um Angela Benfield. Vorsichtig entfernte er den Stofffetzen, mit dem man die Frau geknebelt hatte. Ihre geschlossenen Augenlieder zuckten auf einmal und ein zartes Wimmern bahnte sich aus ihrer Kehle seinen Weg. Innerhalb kürzester Zeit schoss Steve auf seine Beine, sprintete durch das Wohnzimmer, fand die Küche und kehrte mit einem Messer an ihre Seite zurück. Sam teilte gerade am Telefon die Adresse von Mrs. Benfields Wohnhaus mit, als Steve die bewusstlose ältere Dame von ihren Fesseln befreite. Der Kabelbinder hatte tief in ihre Haut eingeschnitten. Sie musste sich verzweifelt gewehrt haben, denn ihre Handgelenke waren blutverschmiert. Und blutverschmiert war auch ihre ehemals helle Bluse.
„Angela, hören Sie mich?", sprach Steve sie mit sanfter Stimme an.
Ihre Augenlieder hoben sich für den Bruchteil einer Sekunde. Ein einziges Wort kam über ihre Lippen, bevor die Ohnmacht sie wieder erfasste. Ein einziges Wort, ein Name - Rebecca.
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