Kapitel 20: Filmriss
„Ich mag dich, Barnes.
Ihre Worte hallten noch Stunden in seinem Innersten nach. Stunden, in denen Bucky neben ihr lag, den Duft ihres Haares einatmete, ihren gleichmäßigen Atem neben sich hörte, die Wärme ihres Körpers spürte.
„Ich mag dich, Barnes."
An Schlaf war nicht zu denken. Rebecca hatte sich in ihrem Rausch an seinen Metallarm mit einer Hartnäckigkeit festgekrallt, die in Anbetracht ihrer körperlichen Verfassung bemerkenswert war. Widerwillig hatte Bucky sich geschlagen gegeben. Es war seltsam neben ihr auf dem Bett zu liegen, seltsam einem anderen Menschen so nah zu sein, einer Frau so nah zu sein. Sein Körper war angespannt wie vor einem Kampf, seine Muskeln beinahe schmerzhaft verkrampft. Er wollte nichts als weg. Es fühlte sich nicht richtig an, so bei ihr zu liegen.
Aber dann drehte sich Becca im Halbschlaf zu ihm um. Schwerfällig landete ihr Arm auf seiner Hüfte und schloss ihn in eine unschuldige Umarmung. Ein glückliches Lächeln umspielte ihren Mund. Ihr Gesicht war nur wenige Zentimeter von seinem eigenen entfernt. Und dann hatte sie diese verdammten Worte geflüstert.
„Ich mag dich, Barnes."
Sie war betrunken, redete er sich ein. Sie plapperte nur wirres Zeug. Ihre Worte bedeuteten gar nichts und am kommenden Morgen würde sie sich mit ziemlicher Sicherheit nicht einmal mehr daran erinnern können, wie sie überhaupt in dem großen Bett im oberen Stockwerk gelandet war. Es dauerte nicht lange, bis Beccas Atemzüge tiefer und gleichmäßiger wurden. Ihr Arm ruhte immer noch schwer auf seiner Seite. Sie war eingeschlafen. Zeit sich lautlos aus dem Bett und dem Zimmer zu stehlen. Doch sein Körper verweigerte ihm die Gefolgschaft. Stattdessen bemerkte er, wie sich seine Muskulatur nach und nach entspannte, wie sein eigener Atem immer ruhiger wurde und seine rastlosen Gedanken schließlich zum Erliegen kamen. Ihre Worte hämmerten stakkatoartig in seinem Kopf.
„Ich mag dich, Barnes."
Im kalten Mondlicht studierte er ihre Gesichtszüge. Er hatte sie schon einmal beim Schlafen beobachtet, aber dieses Mal war es anders. Er konnte ihren warmen, alkoholschwangeren Atem auf seinen Lippen fast schon schmecken. Lange schwarze Wimpern lagen wie die Flügel eines dunklen Nachtfalters über ihren Augen. Ihre Augen, diese klaren blauen Kristalle, in denen sich so viele Gefühle spiegeln konnten, sie blieben ihm in diesem Moment verborgen. Ihr Mund jedoch war leicht geöffnet. Wieder traf ihn der Geruch des Whiskys, aber von ihren Lippen verlor er an Schärfe, verströmte einen süßlichen Duft, der ihn an den Geschmack von Vanille erinnerte.
Er war erbärmlich! Hier lag er im Bett mit einer Frau, die sich zum wiederholten Mal besinnungslos getrunken hatte, die ihm ein kindliches Vertrauen entgegenbrachte, das er nicht im Geringsten verdiente. Eine Frau, die sich unbewusst an ihn geklammert hatte, als sei er der letzte Mensch auf diesem Planeten, die ihm gesagt hatte, das sie ihn mochte, obwohl sie doch so gut wie nichts über ihn wusste, nicht ahnen konnte, welche Bestie in Menschengestalt da über ihren Schlaf wachte.
Und was tat er? Er blieb bei ihr, weil er schwach war. Er erlag dem Widerstand seines Körpers, der sich geweigert hatte ihre Seite zu verlassen. Wie lange lag er vollkommen regungslos neben ihr? Wie viel Zeit war vergangen, bevor sie sich erneut in ihrem Schlaf bewegte? Auf einmal schmiegte Becca sich mit einem wohligen Laut an ihn, wie ein Kind, das in einem glücklichen Traum wandelte und sein liebstes Kuscheltier im Schlaf herzte. Sein Atem stockte. Sein gesamter Körper versteifte sich. Und dann entwich die Luft in einem langen Stoß aus seiner Lunge und mit ihr der letzte Anflug von Entschlossenheit sich endlich loszureißen und aus dem verdammten Zimmer zu flüchten. Als hätte sie ein Eigenleben entwickelt, wanderte seine verbliebene menschliche Hand nach einiger Zeit über ihre Haare und er bewunderte deren kühle seidige Textur, während er zögerlich mit seinen Fingern eine Strähne aus ihrer Stirn strich.
Er war so erbärmlich! Er verkehrte ihre unschuldige Umarmung ins Gegenteil, er nutzte ihren derzeitigen Zustand aus. Ihm war bis zu diesem Moment nicht bewusst gewesen, dass er sich so sehr nach einer Berührung sehnte, dass sein Körper so sehr danach gierte, dass er so ausgehungert nach Nähe war, nach Geborgenheit. Bucky genoss jeden Atemzug aus ihrem Mund, jede sanfte Bewegung ihres Brustkorbes gegen den seinen, jedes noch so leise Geräusch, das sie im Schlaf machte. Und er verachtete sich selbst dafür und konnte doch nicht anders, als bei ihr zu bleiben und jede neue Wahrnehmung auszukosten.
Endlich glitt er in einen traumlosen Schlaf hinüber.
+++
Sonnenstrahlen kitzelten in seinem Gesicht. Träge blinzelte Bucky dem neuen Tag entgegen. Er fühlte sich ausgeruht wie schon lange nicht mehr. Ein angenehmer Duft umgab ihn. Es dauerte einen Augenblick, bevor er realisierte, wo er sich befand. Er lag auf dem Rücken. Rebeccas Kopf ruhte auf seiner Brust, dort wo sein Herz auf einmal heftig zu hämmern begann. Ihre Hand war unter sein T-Shirt gewandert, lag wärmend auf seiner Haut. Sein Metallarm hatte ihre Schulter umfangen, hatte sie im Schlaf noch näher an sich gezogen. Und sein gesamtes Blut war in seine Körpermitte geschossen!
Pfeilschnell war er auf seinen Beinen. Beinahe stolperte er über Wallenstein, der sich am Fußende des Bettes ausgestreckt hatte. Hinter sich vernahm er ein leises Grummeln, als er panisch aus dem Zimmer in Richtung Bad stürmte. Die Tür fiel ins Schloss. Er sah sich seinem eigenen Spiegelbild gegenüber, aber er konnte sich unmöglich in die Augen sehen. Nicht in diesem Augenblick, nicht wenn er gerade-
Hektisch zog er sein T-Shirt über den Kopf. Weitere Kleidungsstücke folgten und sein stoßweiser Atem kam erst wieder zur Ruhe, als das kalte Wasser der Dusche über seinen nackten Körper strömte. Dann stiegen die Erinnerungen an die vergangene Nacht wieder in ihm auf und sein Kopf sank mit einem tiefen Seufzer gegen die kühlen Wandfliesen.
Was war nur in ihn gefahren? Welcher Teufel hatte ihn geritten, dass er tatsächlich mit Rebecca in einem Bett geschlafen hatte? Die ganze gottverdammte Nacht! Es grenzte fast schon an ein Wunder, dass sie seine Gegenwart nicht bemerkt hatte. Selbst wenn sie sich vergangene Nacht mit einer beeindruckenden Vehemenz an ihn geklammert und ihn beinahe genötigt hatte bei ihr zu bleiben, war er sich nicht sicher, wie die Frau in nüchternem Zustand reagiert hätte, wenn sie morgens neben ihm in einem Bett erwacht wäre. Bucky blieb nur der fromme Wunsch, dass der Alkohol ihre Sinne derart vernebelt hatte, dass sie sich an keine Einzelheiten mehr erinnern konnte.
Was hatte er sich nur dabei gedacht? Bucky konnte sich nicht einmal hinter der Ausflucht verstecken, dass der Whisky ihn dazu gebracht hatte ihre Nähe zu suchen. Offensichtlich schien Alkohol nicht den üblichen Effekt auf ihn zu haben. Zwar hatte sich beim Trinken eine angenehme Wärme in seinem Körper ausgebreitet, aber im Gegensatz zu Rebecca war er stets Herr seiner Sinne geblieben. Zumindest hatte er das gedacht, bis sie ihn zu sich auf das Bett gezogen hatte. Und er war dort eingeschlafen, ohne sich über die möglichen Konsequenzen Gedanken zu machen. Es war nicht nur eine bizarre Vorstellung, nein, es war gefährlich! Was, wenn er wieder von einem Alptraum heimgesucht worden wäre? Wenn er wieder die Kontrolle verloren hätte?
Er hatte immer Alpträume, jede Nacht, und es war fahrlässig in seinem labilen Zustand die Nähe eines anderen Menschen zu suchen. Es war gerade einmal 24 Stunden her, dass er Becca aus einem seiner wiederkehrenden Alpträume heraus angegriffen hatte. Jede Nacht verfolgten ihn grässliche Traumbilder voller Schmerz und Blut, jede Nacht erwachte tief in seinem Unterbewusstsein der Winter Soldier zu neuem Leben - bis auf die vergangene.
Die Erkenntnis prasselte auf ihn nieder wie das Wasser aus dem Duschkopf. Er hatte nicht vom Winter Soldier geträumt, nicht in dieser Nacht, nicht, als er bei Rebecca gelegen hatte.
Es dauerte einige Zeit, bis er sich wieder bewegen konnte, bis er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Bucky stellte das Wasser ab, schob den Duschvorhang beiseite und nahm ein großes Handtuch von einem Stapel, der auf einem hölzernen Regal neben der Dusche thronte.
Es war kaum eine Sekunde vergangen, nachdem er aus der Duschwanne getreten und sich das Tuch um die Hüften gewickelt hatte, als ohne Vorwarnung die Badezimmertür aufgerissen wurde. Mit geduckter Haltung stürzte die Frau an ihm vorbei, die seine Gedanken seit seinem Erwachen beherrschte. Sie schien seine Gegenwart nicht wirklich zu bemerken und schaffte es gerade noch rechtzeitig zur Toilette, vor der sie mehr oder weniger auf ihren Knien zu Fall kam, um sich dann geräuschvoll in das keramische Rund zu übergeben.
Bucky war völlig überrumpelt. Zum einen hatte er vergessen die Türe abzuschließen, eine Nachlässigkeit die äußerst peinlich hätte enden können. Zum anderen zerstörte das Bild, welches sich ihm gerade darbot, so ziemlich jede männliche Fantasie, die er im Verlauf oder Nachgang dieser Nacht hätte entwickeln können. Wortlos stand er neben der Dusche und beobachtete Rebecca dabei, wie sie eine quälende Ewigkeit über dem Toilettenrand hing und ihren Mageninhalt wieder und wieder unter leidvollen Lauten herauswürgte. Mit einer wachsenden Mischung aus Mitleid und Belustigung verfolgte er das Geschehen.
Nach einiger Zeit betätigte sie die Toilettenspülung. Ächzend drehte sie sich zu ihm um. Dann entglitten ihr die Gesichtszüge. Bucky hatte noch nie gesehen, dass ein Mensch seine Gesichtsfarbe innerhalb kürzester Zeit so schnell wechseln konnte. War Beccas Antlitz noch vor wenigen Augenblicken kreidebleich, so glühten ihre Wangen mit einem Mal wie zwei überreife Tomaten. Ihre Augen wanderten langsam seinen Körper hinab, blieben schließlich an seinem nackten Oberkörper haften und in dem Moment wurde ihm wieder bewusst, dass er mehr oder weniger unbekleidet vor einer Frau stand, die sich gerade vor ihm die Seele aus dem Leib gekotzt hatte.
„Heilige Scheiße!", entfuhr es ihr und Bucky war sich nicht sicher, welcher Umstand genau es war, der sie zum Fluchen auf Deutsch veranlasste.
Hastig war sie auf ihren wackeligen Beinen. So schnell wie sie in das Bad gestützt war, so schnell flüchtete sie auch wieder aus dem Raum. Bucky hörte wie sich ihre hektischen Schritte auf den Holzdielen des Flurs entfernten und schließlich die Treppe hinunterpolterten. Das klackernde Geräusch von Krallen auf Holz verriet ihm, dass der Hund seiner Herrin ins untere Stockwerk folgte. Sein Blick fiel auf sein Ebenbild im leicht beschlagenen Badezimmerspiegel. Der Typ im Spiegel starrte verwirrt zurück, den Mund zu einem schiefen Grinsen verzogen. Und dann passierte es. Ein seltsames Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit, sein Brustkorb zog sich zusammen, er zog die Luft scharf durch seine Nase ein und fing an zu lachen. Der Klang seines eigenen Lachens war so ungewohnt, so neu für ihn, dass er kaum glauben konnte, dass er tatsächlich in der Lage war, diesen Laut selbst zu produzieren. Der Schreck darüber ließ ihn verstummen.
Es dauerte einige Zeit, bis er sich in Bewegung setzte. Auf dem Bett in dem Zimmer mit der blau-weißen Tapete entdeckte er die neue Kleidung, die Rebecca am Tag zuvor für ihn gekauft hatte. Sie hatte seine Größe erstaunlich gut geschätzt. Die dunkle Jeans saß bequem auf seinen Hüften, das schwarze T-Shirt spannte nur ein wenig an seiner Schulter. Der Stoff fühlte sich gut an auf seiner Haut.
Bis er sich überwinden konnte die Treppe hinunterzugehen, verstrich erneut eine gefühlte Ewigkeit. Bucky fand Rebecca auf der Couch. Sie lag auf dem Rücken und schirmte ihre Augen mit ihrem Unterarm ab. Wallenstein hatte seinen Kopf auf dem Sitzpolster abgelegt. Geduldig wartete er darauf, dass die Frau ihm endlich ihre Aufmerksamkeit schenkte. Aber Becca machte keine Anstalten sich zu bewegen. Ein gequältes Stöhnen entfuhr ihr, als sie Buckys Gegenwart bemerkte. Unschlüssig blieb er vor dem Couchtisch stehen.
„Ich will nichts hören", erklang ihre kratzige Stimme, dabei hatte er gar nicht die Absicht etwas zu sagen.
Rebecca murmelte etwas vor sich hin. Er meinte die Worte „peinlich" und „beschissen" herauszuhören, doch schwieg er lieber, während er sich auf dem Sessel gegenüber der Couch niederließ.
„In diesem verfluchten Haus gibt's keine einzige Kopfschmerztablette!", jammerte sie nach einer Weile. „Und mir platzt gleich der Schädel."
Auf einmal sah er sich mit ihrem vorwurfsvollen Blick konfrontiert. Sie hatte ihren Oberkörper halb aufgerichtet. Ihr Gesicht war wieder leichenblass.
„Das war das erste und letzte Mal, dass ich mit dir Whisky trinke, Bucky Barnes!"
Sie ließ sich wieder zurückfallen und massierte seufzend ihre Schläfen.
„Und warum bin ich eigentlich die Einzige, der es heute Morgen beschissen geht?"
Sie hielt in ihrem Tun inne und bedachte ihn mit einem prüfenden Seitenblick.
„Du siehst ja fast schon erholt aus! Hast wohl gut geschlafen, was?"
Ihre gereizten Worte erfüllten ihn mit Unbehagen, da ihn augenblicklich die Bilder und Eindrücke der vergangenen Nacht einholten. Er fühlte sich auf seltsame Weise ertappt von ihr und wich Beccas durchdringendem Blick aus. Im Augenwinkel sah er, wie sie sich langsam erhob. Sie murmelte etwas von Kaffee, um dann in Richtung der Küche zu wanken. Wallenstein warf ihm einen kurzen Blick zu und folgte dann mit wippendem Stummelschwanz der Frau. Selbst aus den Augen des Hundes konnte Bucky heute einen stillen Vorwurf ablesen.
Das Kaffeekochen schien Rebecca beinahe körperliche Schmerzen zu bereiten. Jedenfalls hörte Bucky sie ununterbrochen murren und stöhnen, während sie ungeduldig darauf wartete, dass die schwarze Flüssigkeit durch den Filter in die gläserne Kanne tröpfelte. Als sie zur Couch zurückkehrte, trug sie zwei Tassen bei sich.
„Wer Whisky wie Leitungswasser wegkippt, trinkt sicherlich auch seinen Kaffee schwarz", grummelte sie und reichte ihm eine Tasse mit dem dampfenden Getränk.
Dann ließ sie sich mit einem erschöpften Seufzer wieder auf die Couch fallen. Sie nippte an ihrem Kaffee und musterte ihn dabei über den Tassenrand.
„Ich hab einen kompletten Filmriss!", begann sie nach einer Weile. Sie stellte ihre Tasse auf den Couchtisch.
„Ich weiß noch, dass wir hier im Wohnzimmer gesessen haben, aber danach Fehlanzeige."
Ungewollt stahl sich ein Schmunzeln in Buckys Gesicht. Welche Ironie! Normalerweise war er der Typ mit dem Gedächtnisverlust. Becca schien seinen Gesichtsausdruck falsch zu interpretieren. Jedenfalls vergrub sie plötzlich ihr Gesicht in ihren Händen. Ein tiefes Stöhnen entfuhr ihr.
„Oh Gott! Ich hab mich blamiert, nicht wahr?"
Ihre entsetzten Augen blitzten aus ihren Fingerspalten hervor, während sie immer schneller sprach.
„Was hab ich gemacht? Hab ich gesungen? Hab ich Shakespeare zitiert? Bitte sag mir, dass ich nicht getanzt habe?"
Alle drei Vorstellungen erheiterten ihn insgeheim, aber anstatt näher auf Beccas Befürchtungen einzugehen, schüttelte er nur seinen Kopf.
„Ich hab dich ins Bett gebracht."
„Du hast was?"
„Ich hab dich ins Bett gebracht!"
Sie schluckte. Einmal, zweimal. Auf ihren Wangen zeichnete sich ein sanftes Pink ab.
„Ich-wir-wir haben doch nicht-", stammelte sie und Bucky dämmerte auf einmal, wie sich das in ihren Ohren anhören musste.
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