Kapitel 15: Ein gemeinsamer Bekannter
Das Rauschen des Windes in den Baumkronen war wie eine allgegenwärtige Hintergrundmusik. Die Blätter der Eichen bewegten sich zu diesem stetigen Rhythmus gleich einem Schwarm bunter Insekten. Der Sommer war vorüber und der Wald hatte bereits sein herbstliches Gewand angelegt. Grün, Gelb und Orange waren die dominierenden Farben in seiner Umgebung.
Auf seltsame Weise fühlte Bucky sich mit diesem Ort verbunden. Er wusste nicht, wie lange er bereits am Fuß des knorrigen Baumes am Ufer eines kleinen Weihers saß. Mit seiner rechten Hand strich er immer wieder über das Moos, das sich unter ihm wie ein weiches Kissen ausbreitete. Die mächtige Eiche erhob sich hinter seinem Rücken wie ein Wesen aus einem anderen Zeitalter, ein stummer Zeitzeuge vergangener Jahrhunderte. In seiner Nase kitzelte der modrige Geruch des Gewässers. Ein paar Wasservögel waren die einzige Bewegung auf der Oberfläche. Das Wasser war trüb. Abgestorbenes Laub hatte sich am Ufer angesammelt. Im Wald hallte das ferne Trommeln eines Spechtes.
Bucky hatte keine Ahnung, wo er war. Es konnte ihn auch nicht weniger kümmern. Die Stille beherrschte diesen Ort. Keine lärmenden Autos, keine Menschenmengen, keine laute Musik - nur das Atmen des Waldes. Hier war sein getriebener Verstand endlich wieder zur Ruhe gekommen. Wie ein angeschossenes Tier war er durch die Dunkelheit des Waldes gehetzt. Er war wieder auf der Flucht gewesen - nicht vor Hydra, nicht vor Steve Rogers und seiner eigenen Vergangenheit, nein, vor einer Frau. Rebecca.
Er sah an seinem rechten Arm herab. Wenn der Hund nicht gewesen wäre, hätte er sie in seinem Wahn erwürgt. Sein Pullover war an seinem Unterarm zerrissen. Dort hatte ihn Wallenstein zu fassen bekommen. In dem Moment, als der Dobermann sich in seinen Arm verbiss, hatte ihn der Schmerz aus seinem tranceartigen Zustand gerissen. Er hatte nicht gegen das wütende Tier angekämpft, auch wenn er dem Hund selbst unbewaffnet mit seinem Metallarm überlegen gewesen wäre. Es klang verrückt, aber er war Wallenstein dankbar. Er hatte ihn davor bewahrt etwas Schreckliches zu tun. Er hatte ihn davor bewahrt erneut zum Mörder zu werden. Die Vorstellung wieder einen wehrlosen Menschen zu verletzten, vielleicht sogar zu töten, war grauenhaft. Instinktiv hatte es ihn an Rebeccas Seite gezogen, um ihr helfen, um sicherzugehen, dass er keinen bleibenden Schaden angerichtet hatte. Aber dann hatte er in ihr Gesicht geblickt und es keine Sekunde länger in ihrer Nähe ausgehalten. Es waren ihre Augen! Immer wieder diese verdammten Augen. Darin hatte er Todesangst gesehen, das blanke Entsetzen und dennoch - dennoch war dort so viel Mitgefühl, dass es ihm die Kehle zugeschnürt hatte. Er war der Winter Soldier, ein gewalttätiges Monster, ein mehrfacher Mörder. Aber Rebeccas Augen hatten ihm etwas anderes gesagt. Er konnte diesen Blick nicht ertragen, konnte ihr Mitleid nicht ertragen. Er hatte es nicht verdient.
Sein Unterarm schmerzte immer noch, doch schon vor einiger Zeit hatte die Wunde aufgehört zu bluten. Es war nicht das erste Mal, dass ihm auffiel, wie schnell sich sein Körper bei einer Verletzung regenerierte. Nach dem Kampf mit Steve Rogers war er auch verletzt gewesen, aber innerhalb von wenigen Tagen hatte er sich erholt - einfach so. Und nun schien eine tiefe Bisswunde von selbst zu verheilen. Muskeln und Nerven wuchsen wie durch ein Wunder wieder zusammen und er konnte seine Hand bereits wieder normal bewegen. Irgendetwas musste Hydra mit ihm gemacht haben, aber er konnte sich nicht erinnern. Wieso konnte er sich bloß nicht erinnern? In seinen Schläfen kündigte sich wieder der vertraute pochende Schmerz an.
Was sollte er jetzt tun? Kopflos und panisch war er aus der Benfield Lodge geflüchtet, dabei war dieses Haus womöglich der sicherste Ort, an dem er seit seiner Flucht vor Hydra gewesen war. Zum ersten Mal seit Wochen hatte er tief und fest geschlafen. So tief, dass er nicht bemerkt hatte, dass Rebecca sich ihm genähert hatte. Was hatte sie getan, um ihn aufzuwecken? Warum hatte er sie angegriffen? Sie war der letzte Mensch, dem er Schaden zufügen wollte. Als sie schlafend auf dem Sofa lag, hatte Bucky genug Zeit gehabt, um sich über einige Dinge klarzuwerden. Er brauchte sie! Auch wenn er es ihr gegenüber ungern zugeben würde, er brauchte Rebeccas Hilfe. Sie verstand diese moderne Welt, die ihn jeden Tag auf ein Neues verwirrte. Sie konnte die Gedanken von Menschen lesen und beeinflussen. Und dann hatte sie ihm noch diese unglaubliche Geschichte erzählt. Sie kam aus der gleichen Zeit wie er selbst. Hydra hatte sie irgendwie über mehrere Jahrzehnte am Leben gehalten, ohne dass sie gealtert war. War es das, was sie auch mit ihm gemacht hatten? Hatten sie ihn auch in so eine Maschine gesteckt? Er konnte sich nur an Kälte erinnern und an Schmerzen. Rebecca war die Antwort auf so viele Fragen, die ihn seit Wochen quälten. Ein glücklicher Zufall hatte sie zusammengeführt. Und er hätte sie fast umgebracht! Bucky fuhr sich durch seine Haare und stieß einen verzweifelten Seufzer aus.
Die Sonne war schon weit über die Baumwipfel gewandert, als ihn ein Geräusch aus seinen Gedanken aufschreckte. Er schnellte auf seine Beine, ein Messer in seiner Metallhand. Als ein schwarz-brauner Hund in einiger Entfernung aus einem Gebüsch sprang, wusste Bucky, dass sie ihn gefunden hatte. Rebecca war also nicht nur stur, sondern auch lebensmüde. Warum sonst hatte sich die Frau auf die Suche nach ihm gemacht? Er spürte ihre brennenden Augen auf sich, als sie ebenfalls in sein Blickfeld trat. Mit energischen Schritten marschierte sie auf ihn zu. Unauffällig ließ er das Messer verschwinden. In ihren Haaren hatten sich kleine Zweige verfangen. Sie strich sich einige Blätter von ihrer Kleidung. Ihre hektische Bewegung sagte ihm, dass sie entweder nervös oder wütend war. Als sie sich wenige Meter vor ihm aufbaute, ihre Arme verschränkte und ihrem knurrenden Hund in Feldherren-Manier befahl sich neben sie zu setzen, wusste er, dass es Letzteres war.
„Du bist ein verdammter Idiot, Bucky Barnes!"
Die Antwort erstarb auf seinen Lippen. Wie ein Fisch, der nach Luft schnappte, stand er vor Rebecca, die ihm ein unterkühltes Lächeln schenkte. Er hatte ihr nie seinen Familiennamen gesagt. Sie konnte es nicht wissen, es sei denn-
„Woher ich deinen Nachnamen kenne?" Sie sprach die Frage, die ihm augenblicklich in den Sinn kam, laut aus und musterte ihn mit ihren durchdringenden Augen. Ihre Stimme war kratzig und das Sprechen schien ihr Schmerzen zu bereiten. „Den hat mir ein gemeinsamer Bekannter verraten."
Seine Verwunderung wurde von plötzlicher Wut verdrängt.
„Du hast mir geschworen aus meinem Kopf draußen zu bleiben", knurrte Bucky.
„Du hattest einen Alptraum", blaffte Rebecca im gleichen Tonfall zurück, wobei ihre Stimme mehr dem Krächzen eines Raben glich. „Und zwar einen der üblen Sorte. Ich wollte dir nur helfen."
„Dank deiner Hilfe hätte ich dich fast umgebracht!"
Er hatte geschrien. Rebecca zuckte zusammen. Mit einem Mal war der Ärger aus ihren Augen verschwunden. Ihre Hand wanderte unbewusst zu ihrem Hals. Dort zeichnete sich in einem wütenden Rot ein Abdruck ab, den seine Hände hinterlassen hatten.
„Es tut mir leid, Bucky."
Sie murmelte die Worte. Ihre Stimme war leise, beinahe kleinlaut. Bucky ballte seine Metallhand zu einer Faust. Sie entschuldigte sich bei ihm? Was zum Teufel stimmte eigentlich nicht mit dieser Frau? Beinahe hatte er sie erwürgt, war danach geflüchtet und sie hatte nichts Besseres zu tun, als ihm hinterherzulaufen und sich dann bei ihm zu entschuldigen? Wie hatte sie ihn überhaupt gefunden? Hatte ihr Hund sie zu ihm geführt oder konnte sie ihn irgendwie selbst aufspüren?
„Das warst nicht du, Bucky!"
Ihre leisen Worte rissen ihn aus seinem inneren Monolog. Seine Atmung beschleunigte sich, als Rebecca langsam auf ihn zu kam. Sie sah ihn wieder mit diesem Blick an. So als wüsste sie von jedem seiner schrecklichen Geheimnisse, als hätte sie tief in sein Innerstes gesehen, als verstünde sie ihn besser als er sich selbst.
„Das warst nicht du", wiederholte sie und berührte zaghaft seinen Metallarm.
Er sah von ihrer Hand in ihr Gesicht. Warum konnte sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Warum wollte sie nicht einsehen, dass er gefährlich war, dass er eine tickende Zeitbombe war? Er wollte ihr nicht noch einmal wehtun. Ruckartig entfernte er sich von ihr und wandte Rebecca den Rücken zu.
„Verschwinde einfach."
So sehr er sich auch bemühte, er konnte den flehenden Ton in seiner Stimme nicht überspielen. Hinter seinem Rücken hörte er Rebecca verächtlich schnaufen. Mit wenigen Schritten hatte sie ihn umkreist und stemmte ihre Hände in die Hüften, als sie zu ihm aufschaute.
„Jetzt hör mir mal genau zu. Du hast zwei Möglichkeiten. Entweder du erzählst mir, was Hydra mit dir gemacht hat und wir finden gemeinsam einen Weg, um dir zu helfen oder du haust jetzt wieder ab und wir tun so, als wären wir uns nie begegnet!" Und bevor Bucky etwas erwidern konnte, fügte sie noch hinzu: „Ach so, und bevor ich's vergesse: ich will mein Geld und den Autoschlüssel zurück!"
Wütend kramte er Beides aus seinen Hosentaschen hervor. In Rebeccas Gesicht zeichnete sich Überraschung ab, als er ihr das Geldbündel und den Schlüssel in die Hände drückte, um dann ohne ein weiteres Wort an ihr vorbei in Richtung Wald zu stürmen.
„Dann hat der Winter Soldier also doch recht. Bucky Barnes ist ein Schwächling, besser gesagt ein Feigling!"
Ihre Worte hatten kaum ihren Mund verlassen, da war er bei ihr und packte sie an ihrer Schulter.
„Was weißt du vom Winter Soldier?"
Seine Finger gruben sich in ihre Arme, aber Rebecca verzog keine Miene, obwohl er ihr sicherlich Schmerzen zufügte. Plötzlich war sie in seinem Kopf. Ihre hellen blauen Augen bohrten sich in sein Innerstes. Seine Hände lösten sich langsam von ihr. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr.
„Ich habe ihn in deinem Traum gesehen."
Abrupt ließ sie wieder von seinem Geist ab. Bucky machte ein paar Schritte nach hinten. Rebecca rieb sich über ihre Oberarme.
„Mein Gott, Barnes, du hast ein echtes Aggressionsproblem."
„Nenn mich nicht so", zischte Bucky.
Aber er war viel wütender auf sich selbst, als auf die Telepathin, die ihn erneut manipuliert hatte. Rebecca hatte sich nur mit den Mitteln verteidigt, die ihr zur Verfügung standen. Sie verdrehte ihre Augen. Wallenstein kam an ihre Seite getrottet und sah fragend in das Gesicht seiner Besitzerin. Rebecca kraulte ihn kurz hinter einem Ohr und wandte sich dann wieder an ihn.
„Dann eben Bucky, wenn dir das lieber ist."
Sie zog eine Verbandsrolle aus der Bauchtasche ihres Kapuzenpullovers.
„Ich dachte, die kannst du gebrauchen."
„Hat sich erledigt", murmelte Bucky vor sich hin.
„Erledigt, eine Bisswunde?"
Scheinbar war Rebecca nicht nur lebensmüde, sondern auch lernresistent. Anders konnte sich Bucky nicht erklären, warum sie schon wieder an ihn herantrat, um seinen Arm zu inspizieren. Er ließ sie gewähren, als sie seinen Ärmel nach oben schob. Ein erstauntes „Oh" ertönte und ihre großen blauen Augen sahen ihn mit einer Mischung aus Entsetzen und Begeisterung an.
„Wie-wie ist das möglich? Das sieht aus, als hättest du einen Sturz mit einem Skateboard hinter dir und keine Beißattacke von einem Dobermann."
Bucky fragte sich, was genau ein Skateboard sein sollte, während Rebecca seinen Arm kopfschüttelnd begutachtete. Ihre Hand wanderte behutsam über seine Verletzung, die mittlerweile mehr einer Schürfwunde denn einer tiefen Fleischwunde glich. Ruckartig zog er den Ärmel nach unten. Er wich ihrem fragenden Blick aus. Irgendwie hatte sie es geschafft. Sein Zorn war erloschen. Stattdessen plagten ihn entsetzliche Schuldgefühle. War sie ihm tatsächlich gefolgt, weil sie sich Sorgen um ihn machte?
„Schon okay, du musst nicht darüber sprechen."
Schweigen. Was sollte er auch sagen? Eine Entschuldigung wäre das Mindeste, aber ihm kamen die Worte einfach nicht über die Lippen. Bucky starrte auf den Boden. Sie hatte sich tatsächlich um ihn gesorgt, trotz allem. Er konnte es nicht verstehen, nicht nachvollziehen. Er hatte es nicht verdient.
„Bist du da festgewachsen?"
Er sah auf. Rebecca verschwand hinter den Bäumen ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Wallenstein trabte gemächlich hinter ihr her.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top