Kapitel 11: Zerbrochene Träume
Manchmal träumte sie von ihnen - ihren Eltern und ihrer kleinen Schwester Sarah. Vor allem von Sarah. Es war der immer gleiche Traum. Sie saß gemeinsam mit ihrer Schwester und ihrer Mutter auf den gepolsterten Samtstühlen des Cuvilliés-Theaters. Umgeben von den wohlhabenden Bürgern der Stadt München sahen sie sich die Inszenierung eines Dramas von Friedrich Schiller an. Es war ihr 16. Geburtstag und sie konnte sich keinen schöneren Ort vorstellen, um diesen Tag mit ihrer Familie zu feiern. Das prunkvolle Schauspielhaus zog sie von Kinderbeinen an in seinen Bann. Rot und Gold waren die dominierenden Farben. Hufeisenförmig umschlossen die prächtigen Rokoko-Logen das Parterre. Von dort blickten die Reichen und Schönen in ihren atemberaubenden Abendroben auf die anderen Theaterbesucher herab. Die Kronleuchter unter der Decke hüllten das gesamte Rund in einen goldenen Schimmer. Oft beobachteten Sarah und sie nur die vornehmen Damen in den obersten Logen und stellten sich vor, dass sie, wenn sie einmal erwachsen waren, ebenfalls neben einem Baron oder reichen Bankier sitzen würden. Aber dieser Abend war anders.
Es wurde „Wallensteins Tod" gespielt, der letzte Teil von Schillers Wallenstein-Trilogie. Auf der Bühne in der Rolle des titelgebenden Feldherren stand ihr Vater. Becca konnte jeden Satz des Dramas mitsprechen. Jeden Tag hatte sie mit ihrem Vater nach der Schule einzelne Passagen des Stückes geprobt. Ihre Augen klebten an ihrem Vater, der kaum wiederzuerkennen war. In seinem Gesicht trug er einen falschen Bart und die mittelalterliche Robe samt Schwertattrappe ließ ihn tatsächlich zu Schillers tragischem Helden werden. Sie liebte das Theater, sie liebte die Schauspielerei und Max Goldstein, ihr Vater, war ihr großes Idol. Sie war so stolz auf ihn. Die Zeiten für die Juden in Deutschland waren schwierig geworden, doch ihr Vater war so talentiert und beliebt, dass er seine Anstellung trotz der Widrigkeiten und Schikanen behalten hatte. „Wir handeln, wie wir müssen. So lasst uns das Notwendige, mit Würde, mit festem Schritte tun", drang die feste Stimme ihres Vaters von der Bühne zu ihr. Voller Neugier und kindlicher Begeisterung hing sie an seinen Lippen.
Und in diesem Moment brach ihr Traum entzwei und wurde zu etwas Anderem, etwas Dunklem. Sie war plötzlich an einen Stuhl gefesselt und trug ein eigenartiges Gerät aus Stahl auf ihrem Kopf, das schmerzhaft um ihre Stirn gespannt war. Und sie taten ihr weh, wieder und wieder. Wenn die Schmerzen beinahe unerträglich wurden, sagte sie jede einzelne Zeile aus Wallensteins Tod in ihrem Innersten auf und versuchte an jenen glücklichen Moment im Theater zu denken, als sie noch mit ihrer Familie vereint war, als ihre kleine Mädchenwelt noch nicht aus den Fugen geraten war. Dann sah sie noch einmal ihre schöne Mutter und Sarah, die ihrem Vater applaudierten, als er sich beim donnernden Beifall des Publikums auf der Bühne verbeugte.
Jemand berührte sie an der Schulter. Dieser Jemand musste eine ziemlich große Hand haben, doch die Berührung war sanft. Mit Mühe öffnete sie ihre Augen. Das Tageslicht blendete sie und Becca blinzelte mehrmals, bevor sie klar sehen konnte. Dann brach die Wirklichkeit über sie herein. Ruckartig setzte sie sich auf. Sie war eingeschlafen! Wie hatte sie nur einschlafen können, während sie mit einem unbekannten Mann auf der Flucht vor Hydra und wahrscheinlich jeder Polizieeinheit im District of Columbia war?
„Wir sind da, Benfield Lodge."
Buckys Stimme riss Becca aus ihren Gedanken. Sie war zurück. Vor ihnen erhob sich das vertraute hellblaue Holzhaus mit den weißen Dachüberständen und der gemütlichen Veranda. Auf einem bemalten Holzschild in der Wiese vor dem Haus stand in blauer Farbe „Benfield Lodge". Mrs. Benfield. Das Gesicht der älteren Dame mit dem gutmütigen Lächeln stieg unbewusst in ihrem Innersten auf.
„Du hast allein hierher gefunden?"
„Ich kann Karten lesen", kam die mürrische Antwort ihres Begleiters.
„Wie lange..."
„Du hast fast drei Stunden geschlafen", fiel er ihr ins Wort.
Drei Stunden? Becca musste schlucken. Er hatte sie drei Stunden durch die Gegend kutschiert, ohne auf die Idee zu kommen, sie aufzuwecken. Unangenehm beschrieb nicht annähernd das Gefühl, dass sie beschlich, wenn sie daran dachte, dass sie einfach in seinem Beisein geschlafen hatte. Seit wann war sie so vertrauensselig? Ja, er hatte ihr geholfen, sie waren gemeinsam geflüchtet und er schien Hydra mindestens so sehr zu verabscheuen wie sie selbst, aber sie wusste rein gar nichts über ihn, außer dass er Bucky hieß, Deutsch und wahrscheinlich auch Russisch sprach und eine äußerst effektive kybernetische Armprothese besaß. Er war offensichtlich kein Hydra-Agent, so viel stand schon einmal fest. Aber er ist gefährlich, warnte ihre innere Stimme sie. Er hatte vor ihren Augen zwei Männer mit einer solch kaltblütigen Effizienz umgebracht, dass sich beim bloßen Gedanken daran Gänsehaut auf ihren Armen bildete. Und was hatte sie getan? Sie hatte diesen Killer an den einzigen Ort gebracht, an dem sie sich wirklich sicher fühlte.
Wallensteins Gähnen auf der Rückbank schreckte Becca auf. Sie musste aufhören in Buckys Gegenwart ständig in ihre eigene Gedankenwelt abzuschweifen. Sie löste ihren Gurt und wollte gerade aussteigen, als seine Hand sie festhielt. Eiskalte Augen bohrten sich in sie.
„Was ist das für ein Ort?"
„Ein sicherer Ort, das habe ich dir doch schon gesagt."
Sie machte sich von ihm los und öffnete die Tür. Der Geruch der umliegenden Eichenwälder stieg in ihre Nase. Als sie Wallenstein aus dem Auto springen ließ und der Hund aufgeregte Kreise um den Wagen zog, musste sie lächeln. Wenigstens einer, der sich über den Ortswechsel zu freuen schien. Sie steuerte auf die Eingangstür zu und streckte sich dabei ausgiebig. Drei Stunden Schlaf reichten definitiv nicht aus, um die Ereignisse der vergangenen Nacht sowohl körperlich als auch geistig zu verarbeiten.
Das Knallen der Autotür verriet ihr, dass Bucky ebenfalls ausgestiegen war. Auf der Veranda angekommen, tastete sie hinter einem der aufgeklappten Fensterläden nach einem metallischen Gegenstand. Mit einem Lächeln zog sie den Haustürschlüssel von dem Haken, an dem er befestigt war. Mrs. Benfield blieb ihrem alten Versteck treu. Als sie die Tür aufsperrte, trat Bucky hinter ihr auf die Veranda. Es war ein seltsames Gefühl, nach längerer Zeit wieder in dem Hausflur zu stehen. Alles sah noch genauso aus wie bei ihrem letzten Besuch. Becca schritt durch den Flur in Richtung des Wohnbereiches mit dem großen offenen Kamin und der weißen Landhausküche. Von dort führte eine Tür auf die Terrasse, von der aus man einen wundervollen Blick in das von Wald umsäumte Tal hatte.
Jeden Moment rechnete sie damit, dass Mrs. Benfield mit einem Buch in der Hand in den Raum trat. Aber es war September und ihre englische Freundin würde erst im Frühjahr wieder in ihr amerikanisches Domizil zurückkehren. „Du hast hier immer einen Zufluchtsort, Rebecca!" hallte Mrs. Benfields sanfte Stimme in ihr nach. Sie bemerkte erst jetzt, wie sehr ihr dieser Ort und die ältere Dame in Washington gefehlt hatten. Sie verdankte der Engländerin so viel. Hinter ihr fiel die Haustür ins Schloss. Bucky hielt es offensichtlich nicht für nötig, sich bei ihr abzumelden. Wahrscheinlich suchte er die umgrenzenden Wälder nach Hydra-Agenten oder anderen potenziellen Gefahrenquellen ab. Müdigkeit war wohl ein Fremdwort für ihn. Als sie sich umdrehte, stand ihre schwarze Sporttasche im Flur. Langsam schlenderte Becca darauf zu. Ein Blick in die Tasche genügte. Natürlich waren die Waffen weg. Glaubte er wirklich, sie würde die Dinger noch einmal freiwillig anfassen? Sie ergriff die Tasche und ging auf der Holztreppe ins obere Stockwerk. Es war ihr vollkommen egal, was ihr Begleiter tat oder nicht tat. Sie brauchte jetzt eine warme Dusche, um endlich wieder klar denken zu können.
Als Becca im Badezimmer stand und sich ihr Kleid über den Kopf zog, brachte der ziehende Schmerz in ihrem Arm die Erinnerung an das zurück, was in der Straße geschehen war, an das, was sie getan hatte. Während sie vorsichtig den Verband von ihrer Wunde entfernte und die frische Narbe betrachtete, musste sie daran denken, dass sie sieben Menschenleben auf dem Gewissen hatte. Ja, es waren Hydra-Agenten und sie hasste Hydra mit jeder Faser ihres Körpers, aber sie waren auch Menschen, hatten vielleicht Familien oder Freunde, zu denen sie nie zurückkehren würden. Sie sah die sieben Männer vor sich stehen, ihre Waffen auf sie gerichtet. Ihr einziger Gedanke war gewesen, dass sie nicht wieder an diesen schrecklichen Ort zurückkehren wollte. Es war ein Kinderspiel gewesen in ihre Köpfe einzudringen. Die Agenten hatte die Aufgabe sie entweder tot oder lebendig zurückzubringen, im besten Falle lebendig, so viel verstand sie binnen eines Herzschlages. Hatte sie eine andere Wahl gehabt, als sie Männer dazu zu zwingen, sich selbst in den Kopf zu schießen? Immer wieder sah sie vor sich, wie das Blut der Männer auf die Straße spritzte.
Sie schaffte es gerade noch rechtzeitig zur Toilette, bevor sie sich übergeben musste. Zusammengesunken saß sie am Boden. Nach einiger Zeit raffte sie sich auf. Mit zitternden Händen entkleidete sie sich. Als das anfangs kalte Wasser gemächlich auf ihren Rücken prasselte, kamen die Tränen. Sie fühlte sich so schmutzig. Ihretwegen waren Menschen gestorben - nicht zum ersten Mal! Sie hatte sich geschworen, dass so etwas nie wieder passieren würde. Wie kam also ausgerechnet sie dazu über Bucky zu richten? All die Anspannung der vergangenen Stunden fiel auf einmal von ihr ab. Das Wasser war angenehm warm, aber Becca zitterte dennoch am ganzen Körper. Sie glitt an der gefliesten Wand hinab und kauerte sich in der Duschwanne zusammen. Die Zeit verstrich. Nur das regelmäßige Rauschen des Wassers dröhnte durch ihren Kopf.
Ein lautes Pochen an der Tür schreckte sie auf. Wie lange hatte sie so da gesessen? Wie lange hatte sie sich in ihrem Selbstmitleid gesuhlt? Wieder ertönte das Pochen, dieses Mal noch energischer.
„Ja, ja, ja, kein Grund die Tür einzuschlagen!" schimpfte Becca und stellte das Wasser ab.
Wenigstens war sie so geistesgegenwärtig gewesen, die Tür abzuschließen, sonst wäre ihr Begleiter, der offensichtlich über die Manieren eines Holzfällers verfügte, womöglich in das Bad geplatzt. Schwere Schritte entfernten sich.
„Jetzt reiß dich endlich zusammen, Becca!", ermahnte sie sich im Flüsterton.
Beim Abtrocknen fiel ihr Blick auf den beschlagenen Badezimmerspiegel. Mit einer Hand wischte sie darüber und sah sich dann in ihr Gesicht. Ihre nassen Haare klebten an ihrem Körper. Sie durchkämmte mit ihren Fingern die wilden Strähnen. Die warme Dusche hatte ihre Wangen etwas gerötet, doch die Erschöpfung stand ihr nachwievor ins Gesicht geschrieben. Die hellblauen Augen ihres Spiegelbildes beunruhigten Becca und sie musste den Blick abwenden. Es würde Zeit brauchen, bis sie sich wieder in die eigenen Augen schauen konnte.
Aus ihrer Sporttasche zog sie frische Kleidung. Neben ihren Turnschuhen befand sich darin immer ein neuer Satz Unterwäsche sowie ein T-Shirt, eine Jeans und ein Pullover. Nachdem sie sich anzogen hatte, wühlte sie weiter in der Tasche. Es war weg! Wütend sperrte sie die Tür auf und marschierte heftig atmend zur Treppe. Als sie im Erdgeschoss ankam, hatte sich ihre Wut verdreifacht. Die Terrassentür stand offen. Wallenstein räkelte sich genüsslich in der Sonne. Neben ihm saß Bucky auf dem Boden und starrte Löcher in die Luft. Wann hatten sich die Beiden eigentlich verbrüdert? Es hatte ihr besser gefallen, als ihr Hund den Fremden noch angeknurrt hatte.
„Wo ist mein Geld?", fuhr Becca ihn an.
„Gut verwahrt."
Sie ballte ihre Fäuste.
„Es ist mein Geld, gib es mir zurück!"
„Nein."
Er hatte sich erhoben. Wie eine dunkle Gewitterwolke baute er sich drohend vor ihr auf. Seine kalten Augen ließen keinen Zweifel daran, dass sie ihr Geld so schnell nicht wieder sehen würde. Dieser verdammte Mistkerl wusste genau, dass sie ihm geschworen hatte, keine Telepathie-Tricks mehr bei ihm anzuwenden. Sie hatte ihm ihr Wort gegeben und sie hielt sich immer an ihre Versprechen, aber in diesem Moment hätte sie ihn am liebsten dazu gebracht sich mit seiner Metallfaust selbst ins Gesicht zu schlagen.
„Du hast die Waffen und mein Geld, ich hoffe du bist jetzt zufrieden."
„Du schuldest mir Antworten!"
„Ich schulde dir gar nichts!"
Becca stemmte die Hände in ihre Hüften. Sie machte sich etwas vor. Irgendwann musste sie mit ihm reden. Doch wo sollte sie anfangen, wie sollte sie ihm Dinge erklären, die sie selbst nicht begreifen konnte. Sie hatte sich bisher nur einem einzigen Menschen anvertraut - Mrs. Benfield. Sie hatte ihr Zeit gelassen, sie zu nichts gedrängt. Es fiel ihr schwer darüber zu sprechen, noch dazu mit einem Fremden. Aber wenn sie hier länger zusammen leben wollten, mussten sie ehrlich miteinander sein.
„Du bekommst deine Antworten, aber ich habe auch Fragen", informierte sie ihn und ging zurück ins Wohnzimmer.
Sie betete, dass noch eine Flasche von dem guten Chianti-Wein da war, den ihre ältere Freundin immer aus Europa mitbrachte. Im Weinregal neben dem Kamin wurde sie fündig. Seit sie Bucky begegnet war, hatte sich ihr Alkoholkonsum vervielfacht. In einer Küchenschublade fand sie einen Korkenzieher und öffnete die Flasche. Der blumige Duft des schweren Rotweins umhüllte ihre Sinne.
Das war ihr Plan, sie musste nur genug trinken, dann würde sie es über sich bringen und ihm alles erzählen. Wahrscheinlich hielt er sie dann endgültig für geisteskrank, aber sie war sich sicher, dass Bucky mindestens genauso viele Geheimnisse mit sich herumtrug wie sie selbst. Aus einem Hängeschrank holte sie ein Weinglas hervor und kehrte dann auf die Terrasse zurück. Er hatte sich keinen Zentimeter vom Fleck gerührt. Sie ging an ihm vorbei, ließ sich neben Wallenstein auf dem hölzernen Boden nieder. Dann füllte sie ihr Glas. Sie betrachtete die rote Flüssigkeit. Fast lautlos hatte er sich ihr genähert und nahm ebenfalls Platz. Der Dobermann hob nicht einmal seinen Kopf, als Bucky sich neben ihn setzte.
„Kleiner Verräter, nur weil er dir den Sprung zur anderen Seite erspart hat", tadelte sie den Hund gedanklich, aber kraulte ihn dabei an seiner Lieblingsstelle hinter dem Ohr.
„Gut, du bekommst deine Antworten."
Sie nahm einen Schluck. Der Rotwein legte sich angenehm auf ihre Zunge.
„Mein Name ist Rebecca Goldstein und ich wurde am 26. Mai 1925 geboren."
Die Augen ihres Gegenübers zeigten für den Bruchteil einer Sekunde seine Überraschung, doch er fiel ihr nicht ins Wort, als Becca begann ihm alles zu erzählen.
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