Unerwarteter Nachwuchs
Emma
Wir fliegen die Nacht durch. Es ist kurz nach fünf, als wir Boston erreichen und auf einem Platz etwas südlich der Stadt landen.
Da es eindeutig noch zu früh ist, um sich in meine ehemalige Schule zu begeben und dort nach Mr. Carter zu erkunden, hält die Crew noch ein Schläfchen. Zumindest mache ich das, ehe die Geräuschkulisse wieder zunimmt und ich wach werde.
Es riecht nach Kaffee und Seife. Anscheinend müssen also manche von uns bereits Einkaufen gewesen sein.
Brummend richte ich mich in dem weichen bequemen Sessel auf - der allerdings für ein längeres Nickerchen nicht wirklich gemacht ist.
Ich spüre, wie etwas von meiner Brust fällt. Nein. Kein Brocken der Erleichterung, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Es ist eine Decke. Eine braune Decke. Eine Decke, die normaler und einfacher nicht sein könnte. Die es überall quasi zu kaufen gibt.
Aber diese hier - und das erkenne ich deutlich an ihrem Geruch, ist die Decke, die mir Steve in unserer ersten Nacht in Wakanda gekauft hat. Wir wollten zelten gehen, ein wenig abseits des Palastes, der auf uns Beide mehr als beeindruckend wirkte und das Verlangen weckte, irgendwo anderes zur Ruhe zu kommen. Wir waren gerade aus der Stadt gelaufen, als mir auffiel, dass wir keinerlei Decken mitgenommen hatten. Da die Nächte recht kühl in Wakanda werden, eilte Steve sofort los und kauft mir diese einfache braune Decke. Ohne irgendwelche Verzierung, Stickerein oder anderen Kitsch. Simpel und einfach, aber sie erfüllte ihren Zweck perfekt.
Und sie riecht auch nach knapp einem Jahr immer noch so schön nach Steves Aftershave.
Wie kommt sie nur hierher? Wer hat sie mir umgelegt?
Ich drehe meinen Kopf herum und sehe Steve mit Sharon reden. Beide volle Kaffeetassen in den Händen. Beide in frischen Sachen. Steve steckt sogar wieder in seiner blauen Kampfuniform mit den silbernen Streifen darauf - sogar blutfrei.
Ich drehe mich wieder zurück. Ein kurzes Anheben meiner Schulter macht deutlich, dass sie bereits am heilen ist. Aber immer noch höllisch schmerzt.
Sollte ich mal wieder ein Update brauchen, werde ich mir auch irgendwas zur schnelleren Regenerieren einpflanzen lassen.
Gähnend strecke ich die Füße auf und fahre mir anschließend durchs Haar.
Wenn ich Michael wiedersehen soll, muss ich dringend einen Spiegel finden. Und irgendwas um mir die Augenringe wegzutuschen.
"Guten Morgen, Emma", begrüßt mich eine melodische weibliche Stimme von der Seite, die ich eindeutig nicht zuordnen kann.
Wieder drehe ich mich zur Seite und erkenne eine blonde junge Dame neben mir hocken. Sie lächelt mir matt entgegen und hält mir nun ein Glas voll Wasser entgegen. Sie hebt den anderen Arm an und zeigt mir zwei sich in ihrer Haut befindlichen Tabletten. Schmerzmittel.
Dankend nehme ich ihr beides ab und schiebe mir die Tabletten samt Wasser in den Rachen hinein.
"Willst du einen Kaffee oder einen Tee?" fragt sie mich und beobachtet mich dabei, wie ich das leere Glas vor mir auf den Boden abstelle.
Ob sie die Freundin von dem Bogen-Kerl Hawkeye ist? Zumindest habe ich die beiden gestern schon zusammen gesehen. Und irgendwas klingelt in meinem Hinterstübchen, von wegen langjährige feste Beziehung des Hawkeyes mit einer ehemaligen SHIELD- Agentin.
"Tee. Aber den hole ich mir gern selbst. Danke." Den Invaliden werde ich hier sicherlich nicht spielen. Und auf noch mehr Mitleid von allen Seiten, habe ich erst recht keine Lust. Die Füße massiert mir dann dann nämlich trotzdem niemand.
Außerdem ist der Tee- und Kaffeeautomat gleich hinter Steve und Sharon. Eine perfekte Gelegenheit, um zu sehen, ob Steve immer noch sauer auf mich ist.
Ohne die Mundwinkel abzusetzen, lächelt sie mir weiter entgegen und sieht mir dabei zu, wie ich mich aus dem Stuhl erhebe. Zugegeben; ich wäre froher, wenn sie wenigstens das nicht mit ansehen müsste.
Aber ich stehe. Oder sowas ähnliches.
Ihr freudiges Prusten ist unüberhörbar, als sie sich erhebt und zur vollen Größe aufbaut. Sie übertrumpft mich fast um einen halben Kopf. Ich muss ja fast schon zu ihr aufsehen. "Für jemanden, den gestern fast die Kugel durchlöchert hat, scheint es dir schon wieder besser zu gehen."
Ich zucke mit meiner gesunden Schulter. "Alles gut. Ich muss mir nur mal die Beine vertreten." Und gleich mal die Wogen glätten.
Denn selbst wenn Steve sauer auf mich ist, ist er immer noch Gentleman genug, dafür zu sorgen, dass ich nicht als Frostbeule wach werde.
Auch wenn ich keine Ahnung hab, wie ich gerade aussehe, laufe ich auf die beiden zu, die wohl immer noch in einem Gespräch stecken.
Er sieht mich nicht mal an, als ich zu ihnen laufe. Erst, als ich vor ihnen stehe und Sharon mich bemerkt, wandert auch Steves Blick zu mir.
Na ach, der sieht nicht wirklich freundlicher aus als gestern Abend. Er lächelt ja nicht einmal mehr. Oh man. Er würdigt mich nur mit einem ernsten abschätzenden Blick. Nicht wirklich das, was ich sehen will.
Ich deute auf den Wasserkocher hinter ihnen. "Ich würde mir nur schnell einen Tee machen, ehe wir los machen." Als wenn sich die Lage für mich nicht schon übel genug anfühlt, klingt jetzt auch noch meine Stimme,wie die einer Zwölfjährigen, die sich endlich traut ihren Schwarm anzusprechen.
Sharon lächelt mir aufmunternd entgegen. Und allmählich geht mir dieser mitleidige Blick auf den Wecker. "Geht's dir besser, Emma?"
Na, wer hätte mir dieser Frage wohl gerechnet? Ich!
Um ihr - und vielleicht auch meinem Mann - zu zeigen, dass ich mich wirklich schon wieder an einer verbesserten Gesundheit erfreue, stecke ich mir einfach ihr fröhlich-nerviges Lächeln auf das Gesicht - in der Hoffnung, dass niemand auf meine Knie achtet, die sich tatsächlich noch wie Wackelpudding anfühlen. "Mir geht's gut, ja." flöte ich und unterstreiche meine Aussage mit einem mehrmaligen festen Kopfnicken. Ja. Mir. Geht. Es. Besser.
"Du hast auch schon wieder ordentlich Farbe im Gesicht."
„Danke." gebe ich kurz angebunden von mir und quetsche mich an den beiden vorbei zum Wasserkocher, der hinter ihnen auf einer kleinen Anrichte steht.
Wasser ist noch genügend im Kocher drin. Aber wo ist der Kamillentee? Ich weiß doch, dass Charles immer welchen hier hat. Mhm.
Ich sehe nach oben. Zwar ist das Flugzeug ziemlich tief geschnitten, aber anscheinend immer noch hoch genug, damit man meinen Tee in schwindelerregender Höhe platzieren kann. Ganz oben im metallenen Regal, das über der Anrichte befestigt ist, steht er. Mein Tee.
Ich seufze. Das ist doch echt nicht wahr.
Selbst wenn ich die Theke herauf klettere, komme ich da nicht ran, ohne dass mich meine Schulter daran hindern wird.
Na super. Das wars dann mit dem Tee.
„Lass mich das machen." höre ich seine tiefe rauchige Stimme hinter mir, ehe sich Steve neben mich stellt und sich ausstreckt, um mit Leichtigkeit an die Teeschachtel zu kommen.
Er gibt sie mir. Sieht mir dabei tief in die Augen. Unsere Hände berühren sich, als er mir die Schachtel gibt.
Ich kann das Kribbeln in meinem Bauch nicht ignorieren. Auch nicht diese Funken, die zwischen unseren Fingern sprühen. Selbst jetzt kann dieser Mann Dinge in mir entfachen, die sonst niemand könnte.
„Danke." sage ich nun zum gefühlt hundertsten Mal. Aber dieses Mal so ehrlich wie kein anderes davor.
Doch viel zu schnell lässt er meine Hände wieder los und wendet sich wieder Sharon zu.
Ich atme schwer aus. Der scheint ja wirklich sauer auf mich zu sein. Aber darum muss ich mich wohl später kümmern. Vielleicht wenn er eins, zwei Tassen Kaffee mehr intus hat. Und vielleicht ein paar Stunden geschlafen.
Rasch hänge ich den Teebeutel in die Tasse, die gleich neben dem Wasserkocher steht und übergieße ihn anschließend.
Der weiche süßliche Duft von Kamille zieht auf. Ein Stück Vertrautheit steigt mit ihr auf.
Mit der dampfenden Tasse in der Hand drehe ich mich wieder zu den beiden um.
Sharon muss darauf gelauert haben, denn kaum habe ich mich herumgedreht, sieht sie mir auch schon lächelnd entgegen. „Emma, wenn du zwei Minuten hast, erklären wir dir unser Vorhaben."
„Natürlich." sage ich und stelle mich bewusst zwischen Steve und Sharon. So, dass mein Liebster besten Ausblick auf mein Hinterteil hat.
„Du, Steve und ich machen los, sobald du dich fertig gemacht hast und machen uns dann zu deiner ehemaligen Schule auf. Entweder arbeitet Michael noch dort oder nicht. Mit deinen Kräften sollte das doch relativ leicht rauszufinden sein oder? Wenn wir nahe genug an der Schule sind und wir irgendwelchen Schülern oder Lehrern begegnen - das sollte doch klappen oder?"
Nein, will ich schon sagen. Sicherlich lese ich die Gedanken anderer ohne deren Einwilligung - doch aber immer nur aus einem Instinkt heraus - Sicherheit für mich.
Aber es geht hier um Peggy, die ihren Bruder so lange zuvor verloren hat - und um Steve, der endlich wieder seine alte Liebe sehen darf - jung und vital.
Ich schätze, dafür kann ich auch schon mal ein Opfer bringen. Immerhin hat Steve bereits unzählige für mich getan.
Also nicke ich und spüre fast zeitgleich, wie etwas Warmes durch meine Gedanken streift. Wie eine streichelnde Hand. Eine, die sagen will, dass alles gut gehen wird. "Ich bin für solche Situationen ausgebildet worden. Im Prinzip kann ich es auch alleine machen."
"Auf keinen Fall!", höre ich es sofort hinter mir - und auch ohne mir zu sagen, dass ich immer noch einen Verband um die Schulter trage, der noch deutlich macht, dass meine Schulter noch mitten in der Heilungsphase ist, kann ich es alleine an der Tiefe seiner Stimme hören.
Sharon nickt mit ein und überkreuzt die Arme vor der Brust. "Steve hat Recht. Wir können dich das nicht alleine machen lassen. Außerdem wissen wir ja nicht einmal zu hundert Prozent, ob dieser Michael Carter wirklich mein Großvater ist."
Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche, Sharon. Der Mann auf ihrem Bild sieht mit meinem ehemaligen Lehrer identisch aus. Ich werde niemals die kleine Narbe auf seinem Gesicht vergessen.
Dennoch - "Meinetwegen." Ich nehme einen Schluck aus meiner Tasse - und möchte es am liebsten sofort wieder auf den Boden spucken. Der Tee ist kochendheiß. Aber den Gefallen werde ich hier niemanden tun und schlucke es herab. Aua. Die Zunge habe ich mir wohl für die nächsten Tage außer Gefecht gesetzt. Genau wie meinen Gaumen. Ah! Wo ist nur die Eistruhe, wenn man sie einmal braucht?
Ehe ich weiterspreche, stelle ich die Tasse auf der Anrichte ab. "Dann werde ich mich jetzt fertig machen und wir treffen uns in zehn Minuten vor dem Blackbird."
Ich will schon fast lachen, als ich mit einem hüftschwungfreudigen Gang von den beiden weiche. Ich habe überhaupt keine Ahnung, wie ich mich fertig machen soll und vor allem bei welcher meiner Baustellen ich anfangen soll. Als ob ich Make Up oder Wechselkleidung eingesteckt habe!
Nach fünfzehn Minuten tauche ich nun auch vor dem Blackbird auf. Wobei ich nochmals einen imaginären Dank an Bobbi Morse schicke, die mir nicht nur mit Schmerzmitteln ausgeholfen hat, sondern auch mit Klamotten und Make Up - und einem Kamm.
Zum ersten Mal seit dem Schuss fühle ich mich endlich wieder menschlich.
Ohne die lilanen Augenringe, mit ordentlich frisierten Haaren und in ordentlichen Sachen. Auch wenn mir die Idee noch nicht ganz einleuchtend erscheint, warum ich ausgerechnet das kurze frühlingsblaue Kleid mit den kleinen bunten Blumenapplikationen und den verspielten Flügelärmchen in Kombination mit dem Gürtel von Bobbi tragen soll.
Zugegeben, die Lederboots gefallen mir wirklich gut, aber für Ende Sommer und den damit fallenden Temperaturen, doch ein wenig kühl.
Als ich allerdings Steves Blick erkenne, der mich einmal von oben bis unten abscannt, gefolgt von einem kräftigen Schlucken, weiß ich wohl doch um den Grund ihrer Kleiderauswahl.
Grinsend laufe ich an den beiden vorbei zu einem kleinen grünen Stadtflitzer, den wohl in der Nacht jemand für uns beschafft hat. „Dann machen wir mal los."
Selbstverständlich fährt Steve und lässt mich auf den Beifahrersitz Platz nehmen. Obwohl er bereits die Adresse meiner alten Schule in das Navi eingegeben hat.
Unsere beider Türen sind bereits geschlossen und ich lege mir den Gurt an, als sich Steve räuspert. „Du siehst gut aus, Emma."
Was?
Zumindest meine ich das gehört zu haben. Ich sehe zu ihm hinüber. Seine großen blauen Augen sind auf meine gerichtet. „Nicht, dass du es nicht immer tun würdest." setzt er hinterher.
„Danke."
Er will noch etwas anderes sagen, dass kann ich ihm deutlich ansehen, doch dann öffnet sich die Tür hinter uns und Sharon steigt ein. Und Steves Redelust aus.
Die Fahrt dauert nicht lange. Gerade eine halbe Stunde sind wir unterwegs als ich die enge gepflasterte Straße wiedererkenne, in die mein Mann einbiegt.
Wir parken ein wenig abseits der Schule und laufen das kleine Stück.
Es scheint gerade Unterricht zu sein, denn von Schülern sieht man nicht viel.
Seufzend sehe ich meiner Schule entgegen. Nicht gerade die besten Erinnerungen verbinden mich mit ihr. Der großen hellgelben Schule, die mit ihren vielen Fenstern und dem gläsernen Eingangsportal versucht, zu bestechen.
Ich war klein, ich trug eine Brille und hatte noch braune Haare. Jeder hatte es gemieden sich mit mir sehen zu lassen. Mit dem Mädchen, das so seltsam anders war.
Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Bestärkend und zugleich tröstend. „Gehen wir rein." höre ich ihn sagen und nicke.
Im Gegensatz zu manch anderen Schulen ist diese hier auch nach all den Jahren nicht verschlossen und steht offen. Um dennoch nicht weiter aufzufallen, werde ich die anderen Sharon als kleines Mädchen sehen lassen. Und Steve wird in den Gedanken der anderen sicherlich nicht weiterhin seine sexy Uniform tragen. Flanellhemd und verwaschene Jeans. Das reicht.
Seufzend betrete ich die Schule durch die gläsernen Türen und lande im Eingangsportal. Den Ort an denen sich die Schüler zurückziehen können, um in den Pausen zu schwatzen. Denn einen Pausenhof versucht man hier vergeblich.
Alles ist leer. Und nichts hat sich zu damals verändert. Immer noch sind die Wände hochgebaut. Der Geruch von alten Büchern und Mottenkugeln liegt genau so schwer in der Luft wie der Duft von Tomatensoße.
Ich deute auf die Treppen, die sich angrenzend an den Eingangsportal befinden. „Das Sekretariat ist oben."
Beide folgen mir mit deutlichem Abstand die Treppe aufwärts. Am Ende des gelben Flures liegt es auch schon.
Ich hole noch ein Mal tief Luft, ehe ich die Hand zu einer Faust forme und gegen die Holztür hämmere. Es dauert nur einen kleinen Moment, ehe uns eine weibliche Stimme herein bittet.
Ich gebe Sharon in Gedanken kurz zu verstehen, welche Rolle sie spielen wird und suche mir aus ihren Erinnerungen Bilder heraus, die sie als kleines Mädchen zeigt.
Dann gehen wir hinein.
Es riecht noch genau wie früher. Nach Kaffee, Kippen und Büchern. Und selbst der Schreibtisch von Mrs. Green hat sich nicht geändert.
Selbst Mrs. Green hat es nicht. Außer, dass ihr lockiges schwarzes Haar nun mit mehreren grauen Strähnen durchzogen ist. Aber ihr strenger Blick über die Brille und die üppige Figur ist geblieben. Genau wie die lila Bluse mit den Rüschen, die gespannt an ihrem Busen sitzt.
„Ja? Kann ich Ihnen helfen?" erkundigt sie sich in ihrer rauen Stimme, die wohl mehr an einen Ork erinnert, als an die einer Frau in der Mitte ihrer Fünfzig.
Meine Sensoren breiten sich aus und setzen ihr das Bild von der jungen Sharon in den Kopf.
Es gab eine Rauferei. Meine Tochter Sharon Rogers hat sich gewehrt, als ein Junge ihr an den Zöpfen gezogen hat. Mein Mann und ich sollten sie abholen kommen. Sie saß die ganze Zeit bei Ihnen und sah traurig zu Boden nieder. Ein fleißiges Kind, mit immer guten Noten.
Sie haben vor einer halben Stunde bei uns angerufen und uns hergebeten.
„Ich grüße Sie, Mrs. Green. Sie wollten mit uns reden?"
In Gedanken fordere ich Sharon auf, ihren Platz auf dem alten Holzstuhl einzunehmen, der neben dem Schreibtisch steht. Ehe ich wieder in Mrs. Greens Gehirn eintauche.
Ich kämpfe mich durch allerhand unnützes Zeug und versuche das letzte Gespräch mit Michael zu finden.
„Ja, Mr. und Mrs. Rogers." Sie säuselt all die Informationen vor, die ich ihr gerade in den Kopf gesetzt habe. Lediglich nur, um andere Lehrkräfte, die sich in der Nähe aufhalten, desinteressiert zu lassen. Ich gebe Sharon und Steve kurz zu verstehen, dass sie weiterspielen sollen, während ich suche. Es sie einfach aussprechen zu lassen wo Michael gerade ist, ist zu gefährlich. Das Lehrerzimmer liegt immerhin gleich nebenan.
Ich wühle weiter in ihrem Gehirn. Irgendwo muss was sein. Irgendwo.
Mhm. Da.
Eine Erinnerung an heute Morgen.
Ein Kollege mit braunen Haaren und blauen Augen. Er kam eilig in das Lehrerzimmer hereingeweht. Seine Haare standen in allen Himmelsrichtungen ab. Michael. Ganz eindeutig ist es er. Er entschuldigte sich zu spät gekommen zu sein. Die Nacht sei viel los gewesen. Er würde ohne Umwege sich in seine Klasse losmachen. Klasse 10 b. Geschichte.
Plötzlich wird es schwarz vor meinen Augen. Die Gedankenleserei verbraucht doch einiges an Energie. Energie, die ich gerade an anderen Körperstellen brauche.
Sofort greifen Arme nach mir und geben mir Halt. Ich darf mich nicht aus Greens Gedanken losreißen. Sonst fliegen wir auf. „Emma. Ist alles in Ordnung?"
Ich nicke benommen und schließe krampfhaft die Augen. Ich darf die Verbindung zu ihr nicht verlieren.
„Mrs. Rogers, ist alles in Ordnung mit Ihnen?" Green steht von ihrem Schreibtisch auf. Nur keine Aufmerksamkeit erregen. Nur niemanden kommen lassen. Um mehr Personen kann ich mich nicht kümmern. Das gebe ich auch in Steves Kopf weiter.
Mein Mann gibt Sharon das Zeichen ihren Platz zu räumen und mich setzen zu lassen. „Wir erwarten unser zweites Kind.", gibt Steve zu verstehen und setzt mich ab, „Sie hatte schon Probleme mit der Schwangerschaft von Sharon und jetzt das ganz Theater und die Anreise hierher. Eigentlich sollte sie Zuhause liegen und sich entspannen. Aber sie hört ja einfach nicht auf."
Da kann wohl doch jemand lügen. Sogar ziemlich glaubwürdig.
„Soll ich einen Arzt rufen, Mr. Rogers?"
Eilig schüttelt Steve den Kopf. „Nein. Nein. Wir bekommen das hin. Geben Sie ihr nur ein Glas Wasser und es hat sich wieder."
Geht es dir gut, Emma? Wir können das hier sofort abbrechen.
Nein. Aber ich kann nicht aus Mrs. Greens Gedanken. Wir müssen das durchziehen.
Konntest du irgendwas herausfinden?
Ich nicke im Schein, dass ich damit die Schwangerschaftsgerüchte bestätige und um das Glas Wasser bitte. Michael arbeitet hier. Er hat gerade Geschichte. Bei einer 10b.
Sharon wird sich darum kümmern, Emma. Sie wird ihn eher erkennen als wir. Beende das hier und lass uns von hier verschwinden.
Allzu gern.
Steve wendet sich an Sharon. „Deine Mutter und ich warten im Auto auf dich. Hol deine Sachen aus dem Klassenraum der 10b bei Mr. Carter und komm dann nach."
Während Sharon verschwindet bekomme ich mein Glas Wasser, das ich schneller leer trinke als sonst. Ich muss hier raus und meinen Kopf entspannen.
Nur allzu schnell stellt Steve das Glas zurück auf Mrs. Greens Schreibtisch und verabschiedet sich von der Sekretärin, ehe er mir aufhilft und mich nach draußen bringt. Zuvor sammle ich aber meine letzten Kräfte zusammen und lösche alles Wichtige aus Mrs. Greens Gedächtnis über uns.
Wir warten vor den Eingangtüren auf Sharon.
Und ich genieße jeden Atemzug der mit frischer bostoner Luft gefüllt ist. Frei von Rauch-, Buch- und Kaffeegeruch.
„Was war da drin mit dir los?" fragt Steve irgendwann, nachdem wir uns beide auf eine Bank gesetzt haben, die freie Sicht auf das Schulgebäude gibt.
„Gedankenlesen frisst Energie. Normalerweise kann ich das gut ab, wenn ich mich gesund ernähre und ab und an Sport treibe. Ausreichend Schlafe und der ganze Quatsch. Aber Momentan habe ich zwei andere Baustellen in mir, die diese Energie fressen und damit bleibt mir nicht mehr viel für die Telepathie übrig."
Sein Kopf dreht sich besorgt zu mir herüber. „Gehts dir wieder besser?"
Ich nicke. Auch wenn mir die Zunge vom heißen Tee immer noch qualmt. Meine Stimme ist leise, als ich zu ihm sehe. „Ja. Dank dir."
Steve schüttelt langsam seinen Kopf und blickt herab auf die grüne Wiese unter uns. „Es tut mir leid wegen gestern, Em. Ich hätte dich nicht so sitzen lassen sollen. Man sieht ja wohin das führt."
„Ich hätte dir vertrauen sollen, Steve. Ich bin nur so-„
Er nickt rasch und sieht wieder zu mir. Lose blonde Strähnen haben sich aus seiner nach hinten gekämmten Frisur gelöst und hängen links und rechts von seiner Stirn herab. „Du bist angeschossen worden. Du bist schwanger, leidest unter Schlafmangel und stehst unter Schmerzmitteln. Ich hätte einfach besser auf dich aufpassen sollen und hätte mit der Situation anders umgehen müssen. Aber ich bin es nun mal gewohnt, dass du so selbstständig und gewissenhaft agierst. Ich kenne keine schwachen Momente bei dir."
Grinsend wende ich den Kopf ab. „Keine schwachen Momente - ist klar!"
„Du weißt, wie ich das meine, Emma."
Wieder kann ich nur nicken und erlaube es mir endlich wieder, meinen Kopf an seine starke Schulter zu legen. „Danke für die Decke."
Ich erkenne, dass es ein kleines Müh dauert, ehe er begreift, auf was ich anspiele und lächelt matt. „Ich dachte, ich nehme dir irgendwas vertrautes mit, wenn wir nach Boston reisen. Und gestern Nacht sahst du nicht gerade sonderlich warm aus."
Statt einer Antwort, die er eh bereits kennt, drücke ich ihm nur einen sachten Kuss auf die Wange und lehne mich danach wieder zurück an seine Schulter.
Ach wie ich unsere Art der Konfliktlösung liebe. So leise, weich und stark.
Nach einer kleinen Ewigkeit, in der die Temperatur wieder steigt und Steve und ich einfach den Moment genießen zu zweit allein zu sein, öffnet sich wieder die Eingangstür.
Sharon tritt aus ihr heraus.
Gefolgt von Michael Carter.
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