Mein Ex - der Bruder deiner Ex

Emma

Steve und ich schrecken fast beide gleichzeitig auf und stehen von unserer Bank auf.

Es ist Michael. Der Michael, der damals für mich da war, als ich es brauchte - vermeintlich zumindest.

Er sieht deutlich verwirrt aus, als er und Sharon auf uns zu kommen. Sein Blick wird nur noch panischer, als er mich sieht. Und mich anscheinend auch erkennt.

Zugegeben, ich habe mich optisch ein wenig verändert. Aschblondes Haar, die Brille ist weg, dafür habe ich Brüste bekommen und bin noch knappe zehn Centimeter gewachsen. Und auch der Rest meines Körpers ist nun endgültig im Erwachsenenalter angekommen. Aber Michael scheint es nicht sonderlich schwer zu fallen mich wieder zuerkennen.

Einige Meter vor Steve und mir bleiben Sharon und Michael stehen. Sharon grinst wie ein Pfannekuchen. „Steve, Emma, darf ich euch meinen Großvater, Michael Carter, vorstellen?"

Steve lächelt freundlich meinem Ex zu und streckt ihm die Hand entgegen. „Steve Rogers, sehr erfreut."

„Michael Carter." sagt er knapp und sieht mich danach an.

Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. So hat er mich früher auch angesehen. Mit diesem abschätzenden Blick. Ein Blick, der deutlich macht, dass er immerzu über mich gestellt ist. Und das nicht nur als Lehrer.

„Emma Frost." selbst seine Stimme klingt noch genauso streng und tief wie früher. „Du hast dich ganz schön verändert. Du siehst jetzt so ... erwachsen aus."

Ich gebe mir nicht mal Mühe irgendwie freundlich zu wirken. Dazu fehlt mir einfach die Energie. „Ich bin fast dreißig. Wäre traurig, wenn dem nicht der Fall wäre."

„Du siehst gut aus."

Ein starker Arm legt sich urplötzlich um meine Taille. Gerade so kann ich verhindern, dass ich über diese urplötzliche Berührung zusammenzucke. Steve dagegen bewahrt den Anschein des freundlichen Soldaten Captain Rogers und lächelt Michael weiterhin freundlich entgegen.

Dieser wirkt fast genauso irritiert wie ich. Sein Blick schwingt zwischen Steve und mir hin und her. Seine Lippen formen sich zu einem förmlichen Lächeln. Seine Gedanken sind allerdings so laut, dass ich sie kaum mehr ignorieren kann.

Du wirst sie die längste Zeit für dich gehabt haben, Captain.

Ich schlucke. Versuche jedoch so gelassen wie möglich zu bleiben.

„Sharon, wie hast du rausgefunden, dass er dein Großvater ist?" will Steve wissen. Seine Daumen beginnt zugleich in sanften Bewegungen meinen Rücken zu streicheln. So eine simple Geste, doch lässt sie mich fast augenblicklich zu einer Pfütze schmelzen.

Sharon kann kaum mehr die Augen von Michael lassen. Sie grinst zufrieden zu ihm auf. „Ich könnte sagen, es war ein innerliches Gefühl gewesen. Aber in seinem Ausweis steht das Geburtsjahr 1917 drin und da es in meinem Umfeld nur einen gibt, der mit 100 Jahren auch noch so frisch und Jung aussieht, muss es sich hier wirklich um den Michael Carter handeln, den wir suchen."

Steve hebt skeptisch eine Braue an. „Peggy sagte, ihr Bruder sei 1940 im Krieg gefallen. Wie haben sie es überlebt?"

Wieder legt Michael jenes charmante Lächeln auf, welches er damals immer über seine Lippen zog, um meine Knien zum Wackeln zu bekommen. Doch inzwischen zuckt in meinem Körper bei diesem Lächeln nicht mehr viel.

„Wenn ich das wüsste, Captain, wäre ich wohl kaum mehr hier."

„Wieso?" will ich wissen.

Michaels Blick ist unentrückbar auf mich gerichtet. „Ich habe mein Gedächtnis verloren, Emma. Ich kann mich an nichts mehr erinnern, seit dem Tag an dem ich auf einer Straße in Deutschland wach geworden bin - mit einer Kanüle im Arm und versuche seit dem herauszufinden, was mit mir los ist. Ich altere nicht mehr, ich heile übermenschlich schnell, werde nicht krank und kann nicht mehr betrunken werden."

„Experimente der Deutschen." Es klingt fast, als würde Steve es zu sich selbst sagen.

Michael nickt. „Inzwischen glaube ich das auch. Nach all meinen Recherchen, muss ich eines der anfänglichen Experimente von Hydra gewesen sein. Noch ohne irgendwelche Substanzen, die den Muskelaufbau beschleunigen oder mich zu einem Heiden machen."

Heiden. Das ist doch Absicht!
Aber ich lasse mir nichts an merken und nicke kühn.

„Dann kennst du Peggy?"

Michaels Augenbrauen ziehen sich zusammen. Eine tiefe Falte gräbt sich zwischen den Brauen ein. „Über meine Familie habe ich all die Jahre nichts weiter herausfinden können. Ich habe meinen Namen, den ich aus meinem Ausweis entnehmen konnte und ich habe mich viel mit meiner Vergangenheit beschäftigt. Aber Carter ist ein Name, der wie Sand an Meer vorkommt. In den ersten Jahrzehnten war meine Suche fast völlig aussichtslos. Ich lebte lange in der Schweiz und habe versucht, vor dem Krieg zu fliehen. Erst nach ein paar Jahren konnte ich anfangen zu suchen. Ich bin selbstverständlich auf Peggy Carter gestoßen und habe auch von Sharon gehört, aber bis zu ihr durchzukommen, ist fast genauso unmöglich wie bei SHIELD. Als Normalo hat man kaum Chance auf ein Gespräch mit den höheren Tieren und kommt an der Dame am Empfang kaum vorbei. Also habe ich angefangen mich neu zu orientieren und habe das Studium des Lehramts aufgenommen. Ich habe hier und da unterrichtet. Nie lange an einem Ort, weil ich mich spätestens nach zehn Jahren erklären musste, weshalb ich nicht älter werde. Und vor einigen Jahren habe ich nun hier in Boston angefangen - und traf Emma."

Steve verstärkt den Halt an meinem Rücken. „Also hatten Sie bereits die Ahnung, dass Sie in Verbindung mit Sharon und Peggy stehen?"

Michael blickt nun zu Sharon hinüber und lächelt sanft. Nicht so wie er mich damals immer anlächelte. Das hier ist friedlich und sanft. Harmonisch und familiär. „Es gibt nicht viel über die Carter's bei SHIELD zu erfahren. Das CIA schweigt dazu ziemlich stark. Aber natürlich habe ich alle Vorfälle beobachtet und Theorien aufgestellt, die jetzt durch den Besuch dieser hübschen Frau bestätigt wurden."

„Dann sind Sie bereit Ihre Schwester, Peggy Carter kennenzulernen?"

Michael sieht zu Steve hinüber. „Absolut."

Steve hebt amüsiert beide Brauen in die Höhe. „Wie wärs mit einem gemeinsamen Frühstück, ehe wir uns nach London ausmachen?"

Mein Magen knurrt vor Freude wild auf. Gegen ein schönes Rührei oder ein paar Pfannkuchen hätte ich jetzt wirklich nichts einzuwenden. Oder vielleicht sogar beides.

*

Das kleine Diner in dem wir sitzen, ist nur spärlich besucht. Nur ein paar pausierende Tracker sitzen an der Theke des Diners und schlürfen ihren Kaffee, ehe es für sie zurück auf die Straßen geht. Niemand zeigt nur annähernd Interesse an uns. Nicht einmal die junge Kellnerin, deren Aufmerksamkeit fast nur Steves blauen Augen und seinen Oberarmen galten, als sie vor wenigen Minuten unsere Bestellung aufgenommen hat. Ich kann sie ja wirklich verstehen, aber sie hätte ja wenigstens so tun können, als hätte sie etwas für die restlichen drei Gäste übrig, die mit Captain Rogers am Tisch sitzen. Aber nein, sie grinste ihn nur kokett mit ihren tief roten Lippen an, während ich meine drei gefüllten Pfannkuchen mit Schokoladenfüllung bestellte und den dazu passenden Kamilientee.

Erst als auch Sharon ihre Speckbohnen mit Toast bestellt hat, kehrte sie uns hüfteschwingend den Rücken zu und verschwand hinter der Theke.

Seufzend lehne ich mich an die Lehne der schwarz gepolsterten Bank an und überkreuze die Arme vor der Brust. Manchmal fällt es echt schwer nicht aus subjektiven Gründen in den Kopf eines Menschen einzutauchen und meinen Mann einfach nach Old-Magneto aussehen zu lassen.

Aber dafür habe ich keine Kräfte mehr übrig.

Ruh dich aus, Em. Schalte den Kopf aus und entspann dich. Ich passe auf uns auf, höre ich Steve in meinen Kopf sprechen, der sich auf den Tisch vor uns etwas vorbeugt, um das Gespräch mit Sharon und Michael, die uns gegenübersitzen, besser verfolgen zu können.

Statt zu antworten, nicke ich. Manchmal hasse ich meine Gabe. Ich bin durchaus in der Lage, die Gedanke der anderen aus meinem Kopf zu verdrängen. Ich kann völlige Stille in mir herrschen lassen.

Aber hin und wieder gibt es sie. Die Leute, die mir ihre Gedanken mit vollem Karacho gegen meinen Kopf werfen, sodass ich sie quasi lesen muss.

Wahrscheinlich hätte es damals noch länger gedauert, die Gedanken der anderen hören zu können, wenn ich nicht so oft mit Michael zusammen gewesen wäre. Denn seine Gedanken sind wie Felsen, die gegen meine mentale Mauer angeflogen kommen und sie immer wieder niederreißen.

Beim Allmächtigen, sie sieht immer noch so verdammt gut aus. Michael sieht mich nicht mal von seinem Sitzplatz aus an, aber seine Gedanken könnten nicht lauter sein.

„Es wird schwer uns alle in Peggys Heim einzuschleusen. Im Empfangsbereich befinden sich zwei ältere Damen, die immer genauestens alle Informationen der Besucher aufnehmen. Es wird auffallen, wenn urplötzlich gleich vier Mann zu ihr wollen. Ich kann maximal einen von euch mitnehmen."

Ich seufze leise. „Gebt mir ein paar Stunden Zeit, dann bringe ich uns alle problemlos rein. Das wird kein Problem für mich werden."

Ich wünschte, ich würde nur für fünf Minuten in deinen Kopf können und Ruhe haben.

Steve muss sich ein Grinsen verkneifen und versucht einen ernsten Captain Rogers zu mienen. „Wenn das funktionieren soll, brauchen wir eine Nacht zwischen heute und dem Versuch Peggy zurück in ihre jüngere Form zu bekommen. Wenn uns eines nicht passieren darf, dann sind das Fehler. Wir suchen uns für diese Nacht ein Hotel in England, finden alle etwas Ruhe und Kraft und kümmern uns dann um alles andere."

Ihr habt eine Vergangenheit. Vielleicht bist du inzwischen über ihn hinweg, aber anscheinend er nicht. Und ich kann ihn ganz gut verstehen, wenn es um dieses hübsche Mädel mit den blonden Haaren geht.

Bitte? Selbst Scott hat nicht mehr solche Gedanken über mich! Mit bitterer Miene sehe ich zu ihm herüber. „Klingt gut."

Ich mag Komplimente, mein Hübscher. Von allen. Aber wenn ich mir zum hundertsten Mal anhören darf, wie wohlgeformt mein Körper geworden ist und wie toll mein Haar im Licht der Sonne aussieht, hol ich mir bald eine Zeitschrift für Schwangere raus, damit das aufhört.

Noch ehe ich den letzten Satz richtig in seinen Kopf gleiten gelassen habe, beginnt Steve schallend zu lachen. Er wirft den Kopf in den Nacken und lacht aus Leibeskräften. Vor lauter Freude, hält er sich mit einer Hand die rechte Brust fest.

Ich schrecke fast genauso zusammen wie auch Sharon und Michael ... und der Rest des Diners - völlig unvorbereitet vor dieser Reaktion meines Mannes.

Beim Allmächtigen! Ich habe mit vielem gerechnet, aber nicht, dass mein Ehemann aus vollem Herzen auflacht.

„Alles in Ordnung, Cap?" fragt Sharon erschrocken.

Steve wischt sich lachend eine Träne aus dem Augenwinkel. Er nickt auf Sharons Frage hinweg und legt mir fast zeitgleich einen Arm um die Schultern.

Ich finde das überhaupt nicht lustig! Du musst dir das ja nicht ständig anhören!

Emma, das sind die loyalsten Gedanken, die ein Mann in deiner Nähe haben kann. Carter ist ein netter anständiger Mann, der es inzwischen bereut, dass er aus deinem Leben getreten ist. Lass ihn doch noch ein wenig Freude.

Die Kellnerin mit den braunen langen Haaren und der Standuhrförmigen Figur tackelt mit einem vollen Tablett auf uns zu. Ich könnte schwören, dass ihr Blick um einige Nuancen finsterer wird, als sie Steves Arm um meine Schultern herum bemerkt. Dennoch tischt sie uns sämtliches Essen und die warmen Getränke auf und streckt sich, um an Steves Platz mit seinen bestellten Rührei zu kommen, volle Breitseite aus und schenkt Rogers eine kostenlosen Blick auf ihr höchst freizügiges Dekolleté, das von ihrem rot-weißen Kellnerinnenkleid bestens präsentiert wird.

Steves Wangen färben sich schlagartig pink, als er in seiner gewollten Freundlichkeit der Dame sich entgegen beugt, um ihr den Teller abzunehmen - und fast mit dem Gesicht in ihren Brüsten gestolpert wäre. Aber im letzten Moment zieht er den Kopf zurück und nimmt ihr mit der freien Hand, den Teller ab.

Sharon und Michael beobachten die Szene mit unterschiedlich gemischten Gefühlen. Eifersucht, Freude, Hass, hinterlistige Gedanken ...

Mein Mann nimmt einen Schluck seines Kaffees.

Dass das gerade von dir kommen muss, wundert mich nicht!, knurre ich zurück und nehme Messer und Gabel in die Hände.

Der Geruch von frisch zubereiteten Pfannkuchen steigt in genüsslicher Süße zu meiner Nase auf. Gott, riecht das gut!

„Lasst es euch schmecken." murmelt Sharon ohne den Kopf von ihren Bohnen hochzunehmen und schneidet an denm grünen Gemüse herum.

Der Arm um meinen Rücken verschwindet nicht. Stattdessen lehnt sich Steve zurück an die Lehne der Bank und sieht nachdenklich aus dem großen breiten Schaufenster des Diners hinaus auf den Parkplatz. Nur wenige PKWs stehen dort. Fast nur LKWs und zwei kleinere Wagen, wovon einer zu uns gehört.
Seine warme starke Hand reibt über meinen Rücken und nimmt mir immer mehr den Druck und die Anspannung aus den Knochen. Am liebsten will ich laut aufseufzen und mich noch weiter seinen Berührungen hingeben, aber diese Pfannkuchen haben Vorrang.

Ja, und sonderlich übel schmecken sie auch nicht. Kein Hunger mehr auf dein Rührei? Hat dir die Dame so sehr den Appetit verdorben mit ihren Brüsten?

Aus dem Augenwinkel heraus erkenne ich ein kleines erfreutes Zucken in seinem Mundwinkel. Trotzdem gilt sein Blick nur dem Parkplatz. Wahrscheinlich nimmt er den Teil mit dem Aufpassen wirklich ernst.

Alles zu seiner Zeit, Sonnenschein.

Schweigend essen Michael, Sharon und ich unsere Teller leer. Erst, als ich auch den letzten Tropfen meines Tees getrunken habe, fängt Steve mit seinem Rührei an. Doch während ich mich wie ein ausgehungerter Wolf über meine Pfannkuchen hergemacht habe, stippt Rogers nur in der weiß-orangenen Masse herum.

Wie geht's dem Baby? höre ich ihn plötzlich in meinen Kopf fragen, während er ein kleines Stück Ei herunterschluckt.

Gut.

Brauchst du irgendwas für euch, wenn wir in London sind?

Ich sehe zu meinem Soldaten hinüber.
Er wirkt fast genauso müde und erschöpft, wie ich. Das Haar steht in einzelnen Strähnen vom Rest ab. Leichte Schatten wachsen aus seinem Kinn heraus. Er braucht diese Pause wohl genauso sehr, wie ich. Es wird Zeit, dass wir endlich wieder nach Hause kommen und wir uns wieder ein richtiges Bett teilen können.

Ich brauche nichts. Nichts, außer wieder Zeit mit dir. Ich vermisse unsere faulen Sonntage in Wakanda ganz schön. Sonne, du, ich. Ein paar weiche Decken und unser Zelt.

Augenblicklich sieht Steve zu mir herüber. Da taucht wieder dieses Leuchten in seinen Augen auf. Sobald wir in London sind, werden wir uns ein Hotel suchen. Dort bleiben wir solange, bis du wirklich ausgeschlafen hast und erholt bist.

Was ist mit Stark? Er muss nach Wakanda und T'Challa überliefert werden. Wenn wir länger als nötig in London bleiben, könnte er abhauen oder Hilfe suchen.

Wird er nicht, murmelt Steve wieder seinem Essen zugewandt und stopft sich einen Haufen Ei in den Mund, er weiß, was er verbrochen hat und folgt uns. Außerdem, und das hat er mir mehr als nur ein Mal versichert, stehe er in deiner Schuld. Er wird nicht verschwinden. Erst Recht nicht, wenn er weiß, dass du und das Baby eine Pause braucht. Außerdem haben wir noch Bobbi und Clint, die auf ihn aufpassen können.

Ach, was würde ich drum geben, mal wieder neben ihm wach zu werden? Am Sonntag im Bett liegen zu bleiben, faulen Sex zu haben und erst aufzustehen, wenn es längst für das Frühstück zu spät ist. Hach ... in seinen warmen kräftigen Armen liegen, die so mächtig und sicher zu gleich sind. Auf seiner starken Brust einschlafen, während mir sein Herzschlag verdeutlicht, dass er bei mir ist.
Ja, das Essen ist wirklich köstlich - und ich sollte definitiv Ororo den Vorschlag unterbreiten einen amerikanischen Diner in Wakanda bauen zu lassen.
Aber gerade will ich eines noch mehr als die leckeren Muffins, die mir vorhin schon ins Auge gestochen sind. Ich will nur noch ein bisschen Zweisamkeit mit dem Mann, der mir seit meinem ersten Tag bei den Avengers geholfen hat.

Zurück an Bord des BlackBird ist es mir auch herzlich egal, was Steves Anstand davon hält. Da eh nur noch ein freier Platz im Flieger existiert, lässt sich Steve auf diesem nieder und breitet die Arme einladend aus, als hätte er nur darauf gelauert, dass mich die Sehnsucht zu ihm treibt. Stevie lässt mich, ohne auf die Blicke der anderen zu achten, auf seinen Schoß klettern, legt die Arme wie eine schützende Decke um mich herum, als ich mich an seine Brust schmiege. Nicht ein Mal kommt er dabei an meine verletzte Schulter.  Schlaf ein wenig, Sonnenschein. Wenn du wach wirst, werden wir da sein.

Seine Wärme dringt durch seinen Anzug hindurch bis auf mein Kleid und noch tiefer bis zu meiner Haut. Die Mixtur aus seiner Wärme, seinem stetigen Herzschlag und seinen schützenden Armen um mich herum, lassen all meine Mauern fallen. Nur für zehn Minuten, sage ich mir und schließe die Augen. Nur zehn Minuten und dann werde ich irgendwas produktives Machen. Lesen oder so.

Ich öffne die Augen - und muss erkennen, dass ich längst nicht mehr im Flugzeug sitze. Eine dicke Decke ist um mich herum, unter meinem Kopf ist ein Kissen.

Ich habe keine Ahnung wo ich bin.

Es riecht nach Waschpulver. Hupen, Sirenen und das Gerede von Menschen ist zu hören. Von Außerhalb dieses Raumes. Ich drehe mich auf der weichen Matratze herum und erkenne ein geöffnetes Fenster über einem hölzernen Schreibtisch. Die Gardine tanzt fröhlich im Wind, der von draußen nach innen strömt.

Ein Hotelzimmer? Bin ich in einem Hotelzimmer? Draußen ist es hell. Aber der Himmel scheint bewölkt zu sein. Es regnet leicht.

Sind wir etwa in London?

Ich richte mich auf und entdecke, dass ich in einem Satinnachthemd stecke und das ist definitiv neu. Ich kenne meine Hemdchen. Gold war noch nie eine Farbe, die ich gekauft habe. Obwohl ich sagen muss, dass das Teil mit der hübschen Spitze am Ausschnitt meines Dekolletés wirklich hübsch ausschaut. Wenn auch kurz. Ich sehe ja sogar noch die Liegefalten.

Verwundernswerter ist allerdings, dass der Platz neben mir im Bett nicht gemacht ist - und nach Steve riecht.

Jetzt höre ich auch des Brausen der Dusche, das anscheinend aus dem Zimmer hinter der Tür an der Garderobe kommen muss, die gleich neben dem Bett steht.

Eine Dusche könnte ich jetzt auch gebrauchen. Ich ziehe die Bettdecke weg und hüpfe aus dem Bett heraus.

Bewundernswerterweise scheint es meiner Schulter auch schon wieder besser zu gehen. Zumindest spüre ich sie jetzt kaum mehr. Vielleicht hat man mir aber auch im Schlafzustand noch ein paar Schmerzmittel eingeflößt.

Ich trete zu der Türe, aus der ich die Brausegeräusche höre und öffne sie. Ein dicker Dampfnebel umgibt das Bad. Nur das Licht, das von der Decke kommt, lässt mich die groben Umrisse erkennen.

Das Geräusch des fließenden Wassers versiegt und eine weitere Türe wird geöffnet, ehe ich mich aus dem Nachthemd schälen kann.

Ich erkenne die Umrisse seines nackten Körpers. Ich trete näher. Erkenne das blonde Haar, das ihm nass an der Stirn klebt.
Sein Körper, der überall mit kleinen Wassertropfen bedeckt ist.

Mein Atem wird schwer - und das nicht nur durch den Wasserdampf.

„Emma, ist alles in Ordnung?" höre ich Steve fragen.

Heilige Mutter. Er läuft auf mich zu und als er vor mir steht, kann ich nur schwer schlucken.
Selbst nach einem Jahr kann mich dieser Mann immer noch in einen Wackelpudding verwandeln.

„Wo sind wir?"

„In London. Du hast den ganzen Weg hierher geschlafen und ich wollte dich nicht wecken. Bobbi hat dir gestern Abend noch ein paar Sachen besorgt. Ich hoffe, es stört dich nicht, dass ich deine Kleidung gewechselt habe."

Ganz und gar nicht. „Gestern Abend? Wie lange sind wir schon hier?" Ich gehe noch einen Schritt auf ihn zu und lege meine Hände auf seine starke nackte Brust.

Er sieht zu mir herab. Das Funkeln in seinen Augen tobt durch das Ozeanblau hindurch. „Eine Nacht über, Sonnenschein. Aber du schienst den Schlaf wirklich zu brauchen, weshalb ich dich nicht aufgeweckt habe. Wie gehts deiner Schulter jetzt?"

Ich zucke mit beiden Schultern. Nur ein kleiner Schmerz schleicht noch durch die Schusswunde. Ich lächle ihm entgegen. „Alles bestens, mein Hübscher."

Sein Kopf nähert sich meinem. Mein Captain scheint auf sämtliche Attituden zu pfeifen, denn viel zu nahe ist sein Mund dem meinen. „Meinst du, ich könnte es dann wieder wagen, dich zu küssen?"

„Das will ich unteranderem auch hoffen."

Viel zu schnell landen seine Lippen auf meinen.
Viel zu schnell gleiten seine Hände über meinen Körper und ziehen das kurze goldene Nachthemd nach oben.
Und viel zu schnell bin ich auf seine Hüfte gesprungen, während seine starken großen Hände sich auf meinen Po legen und mich hungrig gegen eine Wand drücken.

Gott, wie habe ich das vermisst.

Nach vielen Küssen und vielen Liebesbekundungen und noch mehr Zärtlichkeiten, sitzen Sharon, Michael, Steve und ich auf einer Bank in Peggys Heim.

In meinen Händen befindet sich die Spritze mit der Substanz zu Peggys Verjüngung und Heilung. Allerdings gut verpackt in eine Plastiktüte.

Sharon hat bereits beste Arbeit geliefert und uns einen Termin bei Peggy gemacht. Als Großnichte und einzige Ansprechpartnerin für Peggy war es allerdings auch recht leicht gewesen.

Aber der eigentliche schwere Teil wird eh noch auf uns warten.

Denn nur einer darf noch zu Peggy herein.

Seufzend reiche ich die Tüte zu Sharon hinüber, die zwischen Steve und Michael sitzt. Überrascht sieht sie mir entgegen. "Willst du es nicht machen?"

Ich hebe skeptische eine Braue an. "Du meinst, ich soll mich als dich ausgeben und deiner Großtante die Spritze ansetzen? Ich kann nicht mehr als eine Person verwirren. Und die Tüte so aussehen zu lassen, als sei normale Medizin darin und vor allem dieses Gespräch hier zu verschleiern, frisst mehr Energie als ich habe. Du musst es machen."

"Dass du eine Mutantin bist, wusste ich. Aber nicht, dass du die Gedanken der anderen kontrollieren kannst." sagt nun Michael, wirkt aber durchaus über meine Offenheit erheitert. Vielleicht ist es auch nur das Quentchen an Information, die er brauchte, um auch über mich Bescheid zu wissen.

"Tja, du weißt so einiges nicht, Mike." Es fühlt sich seltsam an, ihn bei seinem alten Spitznamen zu nennen. Aber noch seltsamer, wenn ich so tun würde, als kennen wir uns nicht. Wir haben eine Vergangenheit, da hat Steve vollkommen Recht, und zu der sollte ich stehen.

Sharon mustert die kleine weiße Tüte in ihren Händen. "Und ... wie ... wie wird es angewendet?"

Ich zucke mit beiden Schultern. "Wie eine normale Spritze. Du kannst sie ihr hinstechen, wohin du willst. Aber desto näher sie am Herzen gesetzt wird, umso schneller wirkt sie. In Peggys Fall würde ich allerdings mehr eine Vene an ihren Armen suchen. Ihr Herz ist für ihr Alter vielleicht schon zu schwach für den Wirkstoff und würde den Vorgang nur unnötig verlangsamen."

Sharon nickt kurz. "Wie merkt man, dass es funktioniert?" Ihre Stimme ist dämpft. Absolut sinnlos, in Anbetracht dessen, dass ich das Gespräch eh aus den Köpfe aller anderen entferne. Eine leichte Übung, aber selbst hier merke ich, wie mein Energievorrat immer mehr schrumpft.

"Gar nicht. Bis du die ersten Veränderungen an ihr bemerkst, dauert es einige Stunden. Desto älter der Patient ist, desto schwerer haben es die Zellen sich zu regenerieren. Peggy ist fast hundert. Wir müssen mit fünf bis sechs Stunden rechnen."

Schaffst du das so lange, Em? Steves Arm legt sich um meine Schultern. An der verletzten streichelt er sanft mit der Hand darüber.

Wenn du mir ausreichend Essen bringst, mein Hübscher, kann ich es schaffen.

"Und es wird nicht zu viel für dich werden, Emma?" will nun auch Sharon wissen.

Ich nicke ernst. "Mir geht's wieder gut. Meine Schulter ist geheilt. Alles gut." Den Teil mit dem Baby lasse ich aber lieber weg. Schlimm genug, dass es Tony weiß.
Und auch, wenn ich Michaels Gedanken nicht sonderlich mag, muss er nichts von der Schwangerschaft wissen. Zumindest will ich nicht, dass er es so zwischen Tür und Angel erfahren muss.

„Tja.", setzt dieser an und klopft sich motiviert mit den Handflächen auf die Schenkel, „Wenn du zu Peggy gehst und Emma und Steve Wache schieben, kann ich für uns etwas essbares suchen. Irgendwelche Vorlieben oder Vorschläge?"

Ich traue es mir kaum zu sagen, doch ich habe den Sandwichautomaten im Eingangsbereich des Altenheimes gesehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Michael dort für uns Essen holen wird sind groß.

„Oh irgendwas ohne Salami bitte. Oder ohne Schinken. Vor allem Rohen."

Denk an den Käse, Sonnenschein.

Mit einem finsteren Blick drehe ich mich zu Steve herum. Ich habe nicht vor Blauschimmelkäse zu essen!

Skeptisch zieht er eine Braue nach oben. Ich will dir helfen, Em! Und zufällig weiß ich noch, wie Dr. Sature meinte, du solltest auf vorgefertigte Sandwiches verzichten. Ich will nur nicht, dass wir auch noch Probleme mit dem Baby bekommen.

„Was macht ihr beiden da?"

Erschrocken drehe ich mich zu Michael herum, der Steve und mich verwundert mustert.

Sharon kommt mir allerdings zuvor. „Steve und Emma reden ziemlich häufig über Gedanken miteinander."

„Das ist möglich?" will Michael wissen und schaut von Steve zu mir und wieder zurück zu ihm.

„Tendenziell kann niemand in meinen Kopf sehen, außer er ist Telepath und ein ziemlich mächtiger dazu. Ansonsten kann ich aus freien Stücken, wenn es mir danach beliebt, eine Art Brücke zwischen dem Hirn eines anderen und meinem knüpfen, die auf eingeschränkte Art und Weise zulässt, dass jemand anderes einen Teil meiner Gedanken lesen kann, ohne dass ich explizit jedes Mal vorher selbst erlauben muss, jenen Gedanken jemand anderen zuzusenden. Es funktioniert wie eine Art Telefon. Aber nur mit den Gedanken, die man auch wirklich sagen will und nicht jede kleinste Informationen, die unser Gehirn gerade verarbeitet. Ein ungeübtes Hirn würde ansonsten dabei draufgehen."

Verwundert nickt Mile kurz und steht auf. „Und ... ähm ... was soll ich euch jetzt zu essen bringen?"

Seufzend überkreuze ich die Arme vor meiner cremefarbenen langärmligen Satinbluse und sehe Steve an. „Irgendwas ohne Sandwich."

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