Siebte Challenge

Nachdem ich die Aufgabe - das erste Zusammentreffen von Protagonist und Antagonist zu schreiben - gelesen hatte, hatte ich erst einmal keinen Plan, wie diese Szene aussehen sollte. Denn Vìn ist zwar in dem Lager geboren, über das General Sírnir herrscht, hat aber kaum etwas mit ihm zu tun - vor allem, da Kostya ihn vergiftet, als Vìn kaum acht Jahre alt ist. Die Szene, die letztendlich in meinem Kopf aufploppte, spielt kurz vor Kostyas Auftauchen in Zaarlos. Und ich glaube, ich habe mich vom Vorspiel etwas mitreißen lassen, das ist unnötig lang, aber es hilft, die Bastarde etwas besser kennenzulernen - ich habe es also nicht gekürzt.
Also dann, viel Spaß beim Lesen!
Und immer her mit Verbesserungsvorschlägen. Nichts ist für einen Autoren so hilfreich wie konstruktive Kritik!
Spoiler-Alert: keine Spoiler

Sie lag mit dem Kopf in Milos' Schoß und ließ sich den Kopf kraulen.
Die harten Kanten seiner schartigen Fingernägel kratzten angenehm auf ihrer Haut, die im Sommer immer von Fliegenbissen übersäht war. Ihre Augen waren geschlossen und ihr Atem ging ruhig. Wenn Milos über eine besonders empfindliche Stelle strich, kamen Laute über ihre Lippen, die beinahe einem Schnurren glichen. Vìn räkelte sich und lauschte zufrieden auf das Zwitschern der Vögel, die von den Kiefern vor ihrem Unterschlupf zu ihnen herabsangen. Die Sonne war kräftig genug, dass sich der Boden unter ihren bloßen Füßen aufwärmte, und die Sommerbrise brachte den würzigen Geruch von Wildkräutern mit sich.

»Deine Haare sind oben ganz weiß«, murmelte Milos so leise, dass er die entspannte Atmosphäre nicht störte, »Das sieht lustig aus.«
Sie gab nur ein unverständliches Brummen von sich. Die Strähnen, die ihr sonst immer ins Gesicht fielen, waren tiefschwarz. Aber vielleicht wechselten sie ihre Farbe, ähnlich wie die Duygus aus dem Westwald ein helleres Fell bekamen, je älter sie wurden? Vìn hatte die eleganten Huftiere schon immer gemocht. Ihre Schwester Elèn behauptete, einmal eine ganze Herde gesehen zu haben, aber sie hatte ihr nie so richtig geglaubt. Duygus bekam man nur zu Gesicht, wenn man sich auf Zehenspitzen an ihre geheimen Weideplätze heranschlich, und dann auch nur, wenn man großes Glück hatte.

»Nicht aufhören«, murrte sie, als Milos' Bewegungen langsamer wurden. Sie spürte sein Seufzen mehr, als dass sie es hörte, aber ihr Bruder protestierte nicht. Doch obwohl er das Kraulen wiederaufnahm, kam Vìn nicht mehr zur Ruhe.
Plötzlich setzte sie sich auf. »Mir ist langweilig. Lass uns was Spannendes machen!«
Die dunklen Augen vor ihr blitzten mit den vertrauten Funken auf. Milos warf mit einer raschen Kopfbewegung seine schwarzen Locken zurück, die so lang geworden waren, dass sie ihm in die Augen fielen.
»Ich dachte schon, du fragst nie. Wir haben viel zu lang kein Abenteuer im Wald erlebt!«

Die Trägheit verschwand innerhalb eines Wimpernschlags aus Vìns Körper. Sie sprang auf die Füße, doch die plötzliche Bewegung sandte schwarze Flecken durch ihr Blickfeld. Taumelnd musste sie sich an der Holzwand neben ihr abstützen, deren raue Außenseite ihr Splitter in die Hand getrieben hätte, wären ihre Finger nicht von Hornhaut geschützt. Als sie sich gefangen hatte, schüttelte sie unwirsch den Kopf.
Milos drückte ihr wortlos einen Wasserschlauch in die Finger, doch noch bevor sie ihn an ihre Lippen setzte, spürte sie, wie furchtbar leicht er war. Die wenigen Tropfen, die sie herauspressen konnte, reichten längst nicht aus. Sie schirmte ihre Augen gegen die Sonne ab und spähte in den Himmel, doch es war keine Wolke in Sicht. Ein rascher Seitenblick zeigte ihr Milos' besorgten Ausdruck, der zu demselben Schluss gekommen war wie sie. Sie gab sich einen Ruck und streckte ihre Schultern zurück, ein Grinsen auf ihr Gesicht zwingend.

»Wir haben eine Mission, Bruder. Lass uns die Quelle des Lebens finden!«
»Auf zur Quelle des Lebens!«, echote er begeistert, augenblicklich auf ihre Vorlage anspringend.

Mit etwas Mühe quetschten sie sich durch den Spalt zwischen den beiden Hütten, die ihren Unterschlupf begrenzten. Die Waffenkammer ganz am Ende des Lagers hatte schiefe Wände, und wenn man seine Füße gegen die Holzplanken stemmte und sich ein Stück nach oben zog, konnte man das Lager auf diesem Weg ungesehen verlassen. Der einzige andere Ausgang aus dem Unterschlupf ging auf den Trampelpfad in der Lagermitte hinaus, den auch die Soldaten benutzten, und da war das Risiko viel zu hoch, erwischt zu werden. Außerdem ging es so viel schneller.

Vìn und Milos tobten Seite an Seite in den Wald hinein, dessen äußerste Bäume ihre Äste bis über die Baracken der Soldaten streckten. Der Boden war mit einem Teppich aus Nadeln und Moosen bedeckt und dämpfte ihre Schritte, bis sie auch zwei Geister hätten sein können, die sich zwischen den Bäumen verirrt hatten. Vìn hörte nichts mehr bis auf ihren eigenen Atem, der schnell und aufgeregt, aber nicht abgehetzt klang. Ihre Füße flogen förmlich über Wurzeln und Ranken, und hätte sie darüber nachgedacht, wohin sie ihre Tritte setzte, wäre sie sicher gestolpert. Doch hier musste sie nicht denken, hier musste sie sich keine Sorgen machen – hier fiel ein Teil ihrer selbst an seinen rechtmäßigen Platz, der sonst ruhelos umherstreifte. In diese Wildnis, sich unter Ästen hindurchduckend und über umgestürzte Baumstämme springend, hier gehörte sie hin.

Milos holte sie ein, als sie an einer Lichtung innehielt. Die Sonne, immer wieder aufgehalten von den Baumkronen, malte willkürliche Muster auf das satte grüne Gras. Ein Wildhase sprang aufgeschreckt davon, von den Kindern beim Trinken gestört. Mit einem breiten Grinsen huschte Vìn näher an den Bach heran, der schon von weitem mit verheißungsvollem Gluckern gelockt hatte. Triumphierend drehte sie sich zu Milos um, der gespielt geschockt die Augen aufriss.
»Die Quelle des Lebens!«
Er nahm den Schlauch auf, den er an seinen Gürtel gebunden hatte. Vìn überließ es ihm, das Wasser nachzufüllen, und hielt ihre Nase genüsslich in die sachte Brise, die das Wildgras zu einem wogenden Smaragdmeer machte. Die Luft schmeckte nach Kiefernzapfen und Sommer, und ohne ihr Zutun verzogen sich ihre Mundwinkel zu einem breiten Lächeln.

Ziellos und völlig zufrieden mit sich und der Natur um sich herum streiften sie noch eine Weile am Waldrand entlang. Milos überließ es wie immer Vìn, die Gespräche zu beginnen, und sie hatte kein Bedürfnis, die Stille zu durchbrechen. Doch ihre übrigen Geschwister teilten diesen Gedanken augenscheinlich nicht.

Vìn erstarrte, noch bevor sie überhaupt realisiert hatte, welches Geräusch an ihre Ohren gedrungen war. Und dann verfiel sie in einen Laufschritt – da weinte jemand, nicht weit von ihnen entfernt. Diesmal waren ihre Schritte weniger vorsichtig, und knackende Zweige verrieten ihr, dass Milos sich ihrer Hast angeschlossen hatte. Die beiden schlitterten an einem Dornenbusch vorbei und konnten gerade noch stoppen, bevor sie in ein riesiges Brombeergestrüpp hineinliefen. Die Sporne zerrten an Vìns Tunika, als sie sich nach links wandte und die Hände in ihre Hüften stemmte, mit skeptischem Blick die Situation vor ihr betrachtend.

Ihre Schwester Amiel saß mit überkreuzten Beinen auf dem Waldboden, den Rücken gegen eine knorrige Kiefernwurzel gelehnt. Ihre rehbraunen Locken waren völlig verfilzt und von Zweigen und Blättern übersäht. Und das Baby, das sie auf dem Arm hielt, sah nicht viel besser aus, obwohl der dunkle Flaum auf ihrem Kopf kaum einen Fingerbreit lang war. Mit der anderen Hand hielt sie Ikka am Arm, die trotzig ihr Kinn vorgeschoben hatte und unter ihren dichten schwarzen Wimpern zu Vìn hochschielte. Das Mädchen hatte bloß drei Sonnenkreise erlebt und war bereits jetzt eine Unruhestifterin, doch Vìn zwinkerte ihr versteckt zu. Ihren Hitzkopf hatten sie beide gemein.
Das herzzerreißende Schluchzen, das sie hergelockt hatte, kam von einem der Zwillingsbrüder, die zu Amiels Füßen saßen und dunkelviolett verfärbte Münder hatten. Arik und Aròe waren in Ikkas Alter und glichen einander wie ein Ei dem anderen. Mit verschmierten Gesichtern hatte sogar Vìn Probleme, sie auseinanderzuhalten.

»Was ist hier passiert?«, verlangte sie in einem Ton, der hoffentlich Elèns strenger Stimme glich. Milos war für solche Sachen nicht zu gebrauchen, und wenn ihre Älteste nicht anwesend war, musste eben Vìn die Führung übernehmen.
»Sie hat Aròe geschubst!« Arik deutete anklagend auf Ikka, und von seinem Finger tropfte Brombeersaft ins Moos.
»Weil er mir keine Beeren abgegeben hat!«
»Hat er wohl!«
»Du lügst! Du hast selbst-«
»Schluss mit Streiten.« Vìn funkelte ihre jüngeren Geschwister an. Sie hockte sich neben Aròe nieder und griff nach seiner Hand, die er an seine Brust gepresst hielt. Seine Handfläche, bis hinauf zum Unterarm, war mit Kratzern übersäht, die jedoch allesamt nur oberflächlich waren. Zwei Dornen hatten sich in der weichen Haut an seinem Handgelenk verfangen, und als Vìn sie vorsichtig berührte, wimmerte Aróe auf. Sie warf ihm ihr beruhigendstes Lächeln zu.
»Auf drei, ja? Eins, zwei-« Sie hatte die Dornen herausgezogen, noch bevor Aróe die Gelegenheit hatte, sich auf den Schmerz vorzubereiten. Verdutzt starrte der Junge sie aus seinen großen Augen an.

»So, da wir das geklärt hätten... wo ist Elèn?« Sie richtete sich wieder auf und wandte sich mit funkelnden Augen an Amiel. Sie genoss es, Anführerin zu spielen, und fühlte sich mit dem stummen Leibwächter neben ihr beinahe wie eine Fürstin. Milos hatte seine Arme verschränkt und beobachtete die Situation, ohne Anstalten zu machen, einzugreifen. Es wäre sowieso aussichtslos gewesen, jetzt gegen Vìn zu protestieren.
»Keine Ahnung«, murmelte Amiel. Sie starrte die kleine Senia in ihren Armen an, als wünschte sie, sich hinter dem Baby verstecken zu können. »Ich bin nur froh, dass ihr jetzt da seid. Diese drei sind schwerer zu hüten als ein Schwarm Krähen.«

Jetzt meldete sich Milos doch zu Wort, und sein Ton war ängstlicher, als Vìn lieb war. »Ich habe vorhin mit Elèn die Essensreste zu Ravell gebracht. Sie wollte danach eigentlich zu euch aufbrechen.«
Sie fing seinen Blick auf, und sie spürte die Muskeln in ihrer Brust zucken. Der Frieden, den der Wald über sie gebracht hatte, war spurlos verschwunden. Furcht hatte seinen Platz eingenommen, und das Wissen, dass Zaarlos nur friedlich war, solang keine Soldaten in Sichtweite waren. Wenn Elèn allein im Lager verschwunden war... Sie schluckte.

»Ihr bleibt hier.« Sie drehte auf den Fersen und war drauf und dran, zwischen den Bäumen zu verschwinden, da wandte sie sich noch einmal um. »Keiner von euch rührt sich von der Stelle. Ist das klar?«
Amiel nickte, doch Milos zog seine Augenbrauen zusammen. Sie wartete nicht auf seinen Protest, sondern stürmte los. Diesmal achtete sie nicht auf das Unterholz, doch sie spürte das Peitschen der Äste und Reißen der Dornen kaum. Sie stolperte mehrfach, und als ihre Füße nach einem Sprung über einen Baumstumpf auf losem Geröll ausrutschten, schlug sie ihre Knie auf den Steinen auf.

Vìn spürte keinen Schmerz. Wenn ihre Instinkte die Kontrolle übernahmen und alles in ihr danach drängte, ihrer Schwester zu Hilfe zu eilen, rückte ihr Körperempfinden völlig in den Hintergrund. Sie dachte nicht, dass Elèn etwas Schlimmes zugestoßen war, nicht wirklich. Doch insgeheim machte es Spaß, in höchster Eile durch den Wald zu hetzen und sich selbst davon zu überzeugen, auf einer lebensgefährlichen Rettungsmission zu sein. Sie würde dieses Gefühl in nicht einmal einem Jahr völlig vergessen haben, wenn ihr Leben tagtäglich bedroht sein würde, und den Kopf schütteln über die Naivität, die ihr früheres Ich gehabt hatte. Doch in diesem Moment ging ihr siebenjähriges Selbst völlig auf in der Scheingefahr.

Die Umrisse der westlichsten Hütten des Lagers schimmerten ihr verschwommen durch die Bäume entgegen. Sie blinzelte heftig, als sie den Schutz des Waldes verließ und von der vollen Kraft der Sonne erwischt wurde, doch sie erlaubte sich keine Pause. Erst, als sie die Stimmen von Soldaten hörte, presste sie sich mit bebendem Brustkorb gegen eine Hauswand. Sie verschluckte sich beinahe an ihrem eigenen Atem, als sie versuchte, das hastige Keuchen zu unterdrücken. Die Soldaten schienen nicht näher zu kommen, doch Vìn würde kein Risiko eingehen. Das Rauschen ihres eigenen Blutes viel zu laut in den Ohren, drehte sie sich vorsichtig um und streckte sich, so weit sie nur konnte. Mit etwas Mühe erreichte sie die Fensteröffnung der Schlafbaracke, an der sie sich japsend hochzog. Ihre bloßen Füße fanden problemlos Halt an der rauen Holzwand, und schnell wie ein Eichhörnchen hatte sie sich auf das Dach der Hütte gezogen. Geduckt huschte sie weiter nach vorn, bis sie über die Dachkante hinweg den Hauptplatz erspähen konnte.

Unter ihr wimmelte es von Soldaten. Die Metallteile ihrer Rüstungen blitzten in der Sonne, und diejenigen, die sonst Kopfschutze trugen, hatten wegen der Hitze ihre Helme unter den Arm geklemmt. Vìns Augen huschten für einige Herzschläge über die Menschenansammlung, dann sprang sie von der Hütte hinab. Elèns weißer Schopf fiel auch zwischen Dutzenden Soldaten auf, und von ihr war keine Spur zu sehen. Vìns Füße trugen sie in Richtung der kleineren Steinhäuser im Norden des Lagers, hinter dem Essenspavillon entlang, um den Augen der Soldaten zu entgehen.

Es gab nicht viele Verstecke in diesem Teil des Lagers. Wenn irgendetwas passiert war, etwas, das Elèn so viel Angst gemacht hatte, dass sie nicht zu ihren geliebten Geschwistern zurückkehren konnte – wohin würde sie fliehen? Vìn presste sich gegen die Wand des gewaltigen Pavillons, der zu dieser Tageszeit vollkommen leer war, und hielt für einen Moment inne. Milos hatte die Essensreste mit Elèn zu Ravell gebracht und war danach zu ihr in den Unterschlupf gekommen... ihre Schwester konnte nicht weit gekommen sein. Als sie sich wieder in Bewegung setzte, waren ihre Schritte sicherer und zielstrebiger. Sie musste sich zwischen den Häusern der Offiziere entlangstehlen, um zur Kochhütte zu gelangen. Doch sie würde sich nicht aufhalten lassen, zu ihrer Schwester zu gelangen. Die Steinwände der massiven Gebäude schrammten über ihre nackten Arme, als sie sich im Schatten der Mauern nach vorn schlich. Ihr Herz flatterte wie ein gefangener Vogel in ihrer Brust. Der Norden des Lagers war gefährlich für Ihresgleichen – die hochrangigen Söldner griffen schneller zu ihren Schwertern als die Fußsoldaten. Zaarlos schien mit ihr den Atem anzuhalten, als sie sich Schritt für Schritt weiter hinein in die Höhle der Löwen schob. Sie konnte die runde Kochhütte mit dem Spitzdach bereits sehen, den Rauch riechen, der aus den offenen Fenstern drang... da zerriss eine Stimme die Luft wie ein Peitschenschlag.
»Stehenbleiben!«

Ihre Hände flogen kampfbereit nach oben, und sie fuhr zu dem Fremden herum. Der Soldat stand in der Mitte des Hauptweges, als wäre er aus dem Nichts erschienen. Kein Schatten berührte seine Gestalt, doch seine Rüstung war tiefschwarz und sein Gesicht lag im Dunkeln. Die Finsternis schien an ihm herabzufließen, als hätte er sich aus einem schwarzen See erhoben. Vìn schluckte schwer und schüttelte den Kopf – ihre Augen spielten ihr einen Streich. Sie war viel gerannt, und sie sorgte sich um Elèn. Sie durfte nicht zulassen, dass so etwas ihre Wahrnehmung beeinträchtigte. Vìn hatte keine Angst.

»Du bist weit entfernt von den Wegen, auf die du dich wagen darfst, Mädchen.« Die Stimme des Mannes war rau und so kalt, dass Vìn trotz der sommerlichen Temperaturen schauderte. Irgendetwas hier war falsch. Der Soldat kam ihr bekannt vor, vielleicht hatte sie ihn schon einige Male von Weitem gesehen, doch sie konnte ihn nicht einordnen. Und auch wenn sie sich immer wieder sagte, dass er ihr keine Furcht einjagen konnte, zitterten ihre Knie.

Der Mann kippte seinen Kopf nur ganz leicht auf die Seite. Seine Augen blitzten klar und grün zu ihr hinüber und wanderten über ihren Körper. »Mädchen«, wiederholte er, und er spuckte das Wort aus wie Gift.
Die Muskeln in seinen Schultern zuckten, und dann setzte er einen Fuß in ihre Richtung.
Vìn sprang zur Seite und rannte.

Sie schlug einen Haken um eine Hütte herum und rutschte beinahe im Schotter aus. Die fürchterliche Stimme fluchte in ihrem Rücken, und schwere Schritte verfolgten sie, doch sie sah nicht zurück. Alles in ihr drängte sie nach vorn, weg, nur weg von diesem Mann. Ihre Hände fanden halt an einer der Hauswände aus rohem Stein, und beinahe blind vor Panik zog sie sich auf das Dach herauf. Auf der anderen Seite der Hütte ließ sie sich nach unten fallen, und ein scharfer Schmerz zuckte durch ihren Knöchel. Doch ihre Füße trugen sie weiter, weg, weg, weg.

Ihr Sichtfeld klärte sich erst wieder, als sie um Atem ringend stehenblieb. Mit wildem Blick wandte sie ihren Kopf, suchte die Hütten vor ihr nach Zeichen von Offizieren ab. Doch da war kein Geräusch mehr abgesehen vom rauschenden Blut in ihren Ohren.
Und dann realisierte sie, dass die Wand, an die sie sich presste, abgerundet war. Ihr Körper hatte sie instinktiv zur Kochhütte geführt – als drängte selbst ihr tiefstes Inneres darauf, ihre Schwester zu finden. Vìn sog noch einmal tief Luft ein, dann reckte sie sich mit bebenden Armen nach dem Fenster über ihr. Ihre Zehen krallten sich in die Absätze, die die Steinblöcke bildeten, und ihre flinken Finger fanden zuverlässig die Risse in der Mauer. Einmal rutschte sie beinahe ab, weil ihre Muskeln noch immer zitterten. Wütend biss Vìn die Zähne zusammen und drängte sich selbst immer weiter, bis sie sich ins Innere der Hütte schwingen konnte. Ihr Körper durfte nicht aufgeben, nicht jetzt. Nicht jetzt, wo sie sich hinter einer der Feuerstellen niederkauerte und innehielt, bis ihre Augen sich an das Zwielicht gewöhnt hatten.

Kadaver von Beutetieren hingen von der Decke der Küche herab, nebst einigen Sträuchern von Wildkräutern. Der Gestank von rohem Fleisch mischte sich mit dem Rauch der noch immer glimmenden Glut, und Vìn musste flach durch ihren Mund atmen. Die Hütte war vollgestellt mit Tischen und Platten, die sich unter dem Gewicht der vielen Töpfe bogen, doch Ravell mit seinen strengen Augen war nirgendwo zu sehen. Er würde erst wiederkommen, wenn die Sonne den Zenit erreicht hatte, um das Abendessen vorzubereiten.
Vìn hielt ihren Körper so still wie nur möglich und lauschte in die Düsternis.
»Elèn?«

Einige Herzschläge vergingen in vollkommener Stille. Dann ertönte das Knarzen von Holz, und der Deckel eines der Fässer, die umgekippt neben der Tür lagen, öffnete sich von innen. Das Mädchen, das erst zögerlich hinausspähte und sich dann Stück für Stück nach draußen schob, schien im Zwielicht beinahe zu Leuchten. Ihre Haare waren genauso blass wie ihre beinahe kränkliche Haut, und ihre Augen suchten hell und verschreckt nach Vìn.
»Er kommt«, flüsterte Elèn, die Stimme kaum mehr als ein Hauch, »Er wird mich finden, und du kannst ihn nicht stoppen.«

Vìn starrte sie kurz an, bevor sie sich langsam erhob. Elèn zuckte zurück und sah zu ihr auf, zusammengekauert wie ein Spatz mit gebrochenen Flügeln. Mit mehr Sicherheit, als sie eigentlich verspürte, streckte Vìn ihr die Hand entgegen. »Du weiß doch, niemand kann dir etwas antun, wenn ich in der Nähe bin.«
Sie gab ihrer Schwester die Zeit, die sie brauchte, um nach ihren Fingern zu greifen. Meist war Elèn die Ruhe in Person und immer da für ihre jüngeren Geschwister, doch Vìn hatte ihre schwache Seite schon oft zu Gesicht bekommen. Selbst Elèn konnte nicht immer die große Schwester spielen, und manchmal brach sie unter der Last der Verantwortung zusammen. Vìn war jederzeit bereit, Elèn diese Bürde abzunehmen, solang, bis sie sie selbst wieder tragen konnte.

Die Schwestern verließen die Hütte gemeinsam, mit vorsichtigen, lautlosen Bewegungen. Elèns Hand in ihrer war verkrampft und sie klammerte sich an Vìn, als hinge ihr Leben davon ab.
Und Vìn entzog sich ihr nicht, auch wenn ihre Finger schmerzten.
Doch dann wimmerte Elèn. Sie begann so heftig zu zittern, dass Vìn das Beben ihres Körper in ihren eigenen Knochen spürte. Ihre Augen flogen zum Körper ihrer Schwester, suchten nach Verletzungen, nach Schmerz... doch da war nur nackte Panik in ihrem Blick.

»Sieh mal einer an.«

Vìn fuhr herum. Sie hatte die Stimme bereits beim ersten Wort erkannt, diesen Ton, der den Sommer gefrieren lassen konnte. Diesmal lächelte der Mann in der schwarzen Rüstung, der sich zwischen zwei Hütten aufgebaut hatte und ihnen den Weg zum Südteil versperrte. Und diesmal konnte Vìn ihre Angst nicht leugnen. Das Kräuseln seiner blutleeren Lippen wirkte wie ein Zähnefletschen, und das grausame Funkeln in den schrecklichen grünen Augen ließ ihr Herz einen Schlag aussetzen.
»Die Götter müssen mir endlich gewogen sein, wenn sie mir gleich zwei Spatzen auf dem Silbertablett präsentieren.«

Elèn schnappte nach Luft und griff sich an ihren bloßen Hals, als würde die schiere Anwesenheit des Soldaten sie ersticken. Er war es, der ihre Panik verursacht hatte, der sie gejagt und in die Ecke getrieben hatte wie ein Beutetier. Und Vìn hatte ihn direkt zu Elèn geführt. Ihr Blick irrte zwischen den beiden Gestalten hin und her, so gegensätzlich wie Tag und Nacht. Und dann schob sie sich nach vorn, bedeckte mit ihrem Körper Elèns Gestalt, und ballte die Hände zu Fäusten.
»Lass uns in Ruhe.«
Das Lächeln des Mannes wurde breiter. »Mit Vergnügen, mein kleiner Spatz. Komm nur zu mir. Ich schenke dir ewige Ruhe.«
Elèn stieß gegen sie, und sie wusste nicht, wer von ihnen zusammengezuckt war. Vìn musste sich dazu zwingen, fest stehenzubleiben.
»Ich bin kein Spatz. Ich bin eine Wölfin.« Sie bleckte ihre Zähne und warf dem Fremden jede Faser ihrer Wildheit entgegen. Er machte Elèn Angst. Und das würde sie nicht zulassen. »Lass uns durch. Wenn du einem von uns auch nur ein Haar krümmst, reiße ich dich in Stücke.«

Sie schöpfte eine Kraft aus ihrem Zorn, die sie selbst nicht gekannt hatte. Und nicht einmal das kalte Lachen des Soldaten konnte sie dazu bewegen, ihre Position aufzugeben.
»Niemand befiehlt mir, Mädchen.« Mit einer Bewegung, die so schnell war, dass Vìn ihr nicht mit den Augen folgen konnte, zog er sein Schwert. »Zu schade, dass du nicht lang genug leben wirst, das zu lernen.«
Die Klinge des Schwertes war genauso schwarz wie sein metallener Brustpanzer. Sie war breit und gobschlächtig und schien das Sonnenlicht zu schlucken... Die Leichtigkeit, mit der er die gewaltige Waffe hob, war erschreckend.

Aber der Soldat irrte sich. Sie war kein Spatz und auch kein Mädchen. Sie knurrte, Elèn schrie auf, und dann stürzte sie sich mit ihrer gesamten Kraft auf den Mann. Ihre Bewegung war hastig und unkontrolliert, das Bild vor ihren Augen verschwommen, doch ihr rasender Zorn ebnete ihr den Weg. Sie traf ihn mit einer Hand am Kinn, und ihr Fuß grub sich in die Seite seines Knies. Mit einem überraschten Grollen stolperte der Soldat zurück, und Vìn setzte ihm hinterher, mit fliegenden Fäusten. Doch dann hatte er sich gefangen, bereit, zurückzuschlagen.
Sie hatte keine Chance gegen ihn. Er ließ seine Waffe durch die Luft sausen, immer wieder auf sie zu, und all ihre Muskeln waren angespannt, entkamen dem Tod immer wieder um Haaresbreite. Der Schatten seiner Gestalt umfing sie, und seine Schläge schienen aus jeder Richtung zu kommen. Einen einzigen Moment lang hoffte Vìn.
Sie hoffte, wenn sie ihm nur lang genug auswich, würde er einfach verschwinden, sie und ihre Familie in Ruhe lassen. Doch der Mann, um dessen Schultern Finsternis hing, zerstörte ihre Hoffnung mit einem wilden Funkeln im Blick. Er stieß die Spitze seines Schwertes beinahe senkrecht in die Luft, und sie zuckte zurück, auf einen Rückhandschlag gefasst – da wirbelte er seine Waffe herum und ließ sie wie ein Bllitzschlag von oben auf sie herabfliegen. Sie ließ sich nach unten fallen, um der tödlichen Klinge zu entgehen, sich blindlinks zur Seite rollend. Eine Wand in ihrem Rücken unterbrach ihre Flucht, und sie wandte gerade noch rechtzeitig den Kopf, um sein triumphierendes Lächeln zu sehen.

Und in diesem Moment, als die Schwertspitze sich näher und näher an ihre Brust schob und der Mann in seiner Rüstung aus purer Dunkelheit über ihr aufragte, hatte sie doch Angst.
»Hast du das Fliegen verlernt, kleiner Spatz?«
Seine Brust hob und senkte sich langsam, als hätte der Kampf in völlig entspannt und zufrieden gemacht. Als wäre ihre Panik für ihn der Ersatz für das Sonnenlicht, das seinen schwarzen Brustpanzer nicht durchdrang.

Vìn wich verzweifelt den grünen Augen aus, die sie festhalten wollten, sie verschlingen und ersticken. Ihr Blick fiel auf die Stelle, an der sie eben noch mit Elèn gestanden hatte. Und obwohl die Welle der Furcht genauso hoch schwappte wie das Feuer in ihrer Wut, konzentrierte sie sich mit aller Macht auf das lodernde Brennen in ihrer Brust.
»Wölfe können nicht fliegen«, fauchte sie ihn an, »Das weiß doch jeder.«

Blitzartig stieß sie sich an der Wand ab. Sie schnellte nach vorn, zwischen den Beinen des Mannes hindurch, und als er sich umgedreht hatte, war sie bereits seiner Reichweite entkommen.
Diesmal stürmte sie weg von den Hütten der Soldaten, in Richtung Waldrand – in die Wildnis von Zaarlos. Dorthin, wo das Territorium der Soldaten aufhörte und die Wölfe über das Land herrschten. Dorthin, wohin bereits Elèn geflohen war, als sie die Ablenkung genutzt hatte und getürmt war, darauf vertrauend, dass Vìn sich irgendwie aus der Situation herauswinden würde. So, wie sie es immer schaffte.

Und noch bevor Vìn zu ihrer Familie stieß, suchte sie sich einen Felsensplitter von einer der Gesteinshaufen im Wald. Die größten der scharfkantigen Steinstücke waren lang wie ihr Unterarm, aber schmaler und handlicher. Mit einem grimmigen Zähneblecken gürtete sie sich die improvisierte Waffe an die Hüfte.

Es wurde Zeit, dass diesem Wolf Klauen wuchsen.

(~4000 Worte)

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