Ideenzauber: Vierzigtausendundzwei Welten
Dieses Jahr habe ich am Ideenzauber von Kapitelwaise teilgenommen. Weil ich kein neues Buch dafür veröffentlich wurde, lade ich erst jetzt nach Beendigung des Wettbewerbs meine Kurzgeschichte hoch. Wer den Ideenzauber noch nicht kennt, schaut euch unbedingt die Profile der anderen Autoren an, es sind echt tolle Geschichten dabei.
Das Aufregende an der Sache: "Vierzigtausendundzwei Welten" hat seine Kategorie gewonnen und wird in Kürze in einer Kurgeschichten-Anthologie veröffentlicht. :D
Hier könnt ihr es natürlich vorher schon lesen. Viel Spaß!
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Ich bin Autorin. In den einundzwanzig Jahren meines Lebens bin ich dutzende Male gestorben, habe hunderte Welten gesehen und tausende Freundschaften geschlossen. Ich kenne zweiundsiebzig Wege, jemanden umzubringen. Momentan habe ich nicht schlecht Lust, wenigstens vier davon auszuprobieren.
Ein Kind rennt aus vollem Lauf gegen den Einkaufswagen seiner Mutter. Scheppernd kippt das Gefährt um. Eine Flut von Lebensmitteln ergießt sich auf den Boden. Für einen Atemzug breitet sich ein Schweigen voller offener Münder und glotzender Augen aus. Dann reißt der Junge seine Klappe auf und schreit. Ich mache gerade einen Schritt auf den kleinen Teufel zu, da wird eine zweite Kasse geöffnet. Trotz Morgenmüdigkeit gewinne ich das Rennen um den Platz ganz vorn in der Schlange. Mein Einkauf beschränkt sich auf eine einzige Packung Kaffeebohnen. Ich bin aus dem Supermarkt heraus, bevor ich eine von zweiundsiebzig Mordmethoden verwirklichen kann. Die Sommerluft streicht über meine Wangen und der Himmel spannt sich endlos über mir.
Zwei Straßen vom Supermarkt entfernt gerate ich in einen Stau. Über den Himmel meiner Freiheit ziehen Abgaswolken. Frustriert schlage ich gegen das Lenkrad meines Autos. Im nächsten Moment halte ich inne und tätschele entschuldigend das Armaturenbrett. Dumpf dringen die Geräusche von Autohupen und Fahrergeschrei zu mir. Wenn ich meine Augen schließe, klingt es beinahe wie das Brüllen eines Wesens aus einer anderen Welt. Ein Lächeln breitet sich auf meinen Lippen aus. Denn jetzt und hier bin ich keine Fahrerin in einem Stau, sondern eines von hunderten schlagenden Herzen in der Brust eines Drachen. Wir schieben uns durch die Straßen und die Sonne blitzt auf unseren Schuppen. Beinahe bin ich traurig, als ich mich von meinen Gleichgesinnten trennen muss und auf die Landstraße abbiege. Ich lasse die Fenster herunter und der Wind pustet mir einige rote Locken ins Gesicht. Schon vor langer Zeit habe ich es aufgegeben, meine Haare zu bändigen. Ich halte meine Nase in den Luftzug und atme tief ein.
»Das ist Freiheit«, seufze ich zu meinem Auto. »Keine Pflichten, keine Regeln, keine anderen Menschen, die mich-«
Das Auto unterbricht mich mit dem Klingeln der Freisprechanlage. Mit geschürzten Lippen überlege ich, den Anruf zu ignorieren. Ich gehe sicher, dass das Auto mein Augenverdrehen mitbekommt, bevor ich auf den Annahmeknopf drücke.
»Ich hätte nicht gedacht, dass du wach bist«, sagt meine Schwester an Stelle einer Begrüßung.
Ich verdrehe die Augen gleich noch einmal. Normalerweise würden mich keine zehn Pferde an einem Samstagmorgen aus dem Haus bekommen. Ohne Kaffee könnte ich allerdings genauso gut aufhören zu atmen.
»Eigentlich wollte ich heute fünftausend Wörter schaffen«, erkläre ich meiner Schwester. Von der anderen Seite der Leitung kommt kein Geräusch, aber ich weiß, dass Beatrice den Kopf schüttelt. Sie versteht nicht, wie ich auch nur einen zusammenhängenden Satz zu Papier bringen kann. Normalerweise bin ich kein guter Partner für sinnvolle Gespräche. An meinem Laptop allerdings fließen die Wörter nur so aus meinen Fingern. Denn im Gegenzug verstehe ich nicht, wie Beatrice leben kann, ohne mit fiktiven Charakteren zu lachen und zu weinen und zu lieben und zu sterben.
»Was passiert denn in deinem Buch gerade?«, fragt Beatrice. Ich kann an ihrer Stimme hören, dass sie es nur aus reiner Höflichkeit tut. Davon lasse ich mich nicht abschrecken. Ein Grinsen breitet sich auf meinen Lippen aus. »Wir nähern uns dem finalen Kampf an.« Ich kann nicht glauben, dass es endlich so weit ist. »Erst muss natürlich Calahan - du weißt schon, der Rebellenprinz, mit dem die Protagonistin zusammenkommt - entführt werden. Wenn nämlich der Antagonist ihn foltert, dann wird er zum ersten Mal im Buch seine Kontrolle verlieren.«
Ich setze mich gerader hin und trommele mit den Fingern gegen das Lenkrad. »Weißt du, was das bedeutet? Calahan wird die Dunkelheit in seinem Inneren freilassen, was dazu führt, dass sich seine Schattenmagie zu einem Monster formt. Ebendieses Monster ist die Grundlage unzähliger Legenden in meiner Welt. Der Antagonist, der ja nur so böse ist, weil seine Mutter ihn schon von Kindesbeinen an emotional missbraucht hat, hat vor nichts in der Welt Angst - abgesehen von genau diesem Monster. Seine Mutter hat es immer als Drohung für den Antagonisten genutzt. Die Protagonistin kann seine Schwäche ausnutzen und endlich gegen den Antagonisten kämpfen. Um zu gewinnen, muss sie nur noch die nötige Magie sammeln und zu der Waffe werden, die die Seher prophezeit haben.«
Das Schnurren des Motors füllt das Schweigen nach meinen Worten. Ich kann meine eigenen Atemzüge hören. Vor Aufregung habe ich die Geschwindigkeitsbegrenzung überschritten. Gerade rechtzeitig vor dem Ortsschild meines Heimatdorfes bremse ich ab.
»Tilda«, seufzt meine Schwester schließlich, »Menschen wie du sind der Grund, dass Rothaarige als Hexen verfolgt wurden.«
Mit einem Lachen winke ich ab. Ich bin nicht verrückt. Ich bin Autorin.
Vor dem Haus meiner Eltern angekommen verabschiede ich mich von Bea. Eigentlich bin ich zum Studieren in die Stadt gezogen, aber dieses Jahr fallen die Semesterferien mit der jährlichen Kreuzfahrt meiner Eltern zusammen. Ein Haus für mich allein, mit Bäumen, deren Äste gegen die Fensterläden kratzen und zwitschernden Vögeln im Gebälk kann ich nicht ausschlagen. Mein erster Weg führt mich zur Kaffeemaschine, auf deren Display noch die unheilvolle Nachricht Bohnen nachfüllen blinkt. Sobald der Becher mit dem heißen Gebräu meine Finger wärmt, stapfe ich die Treppe hinauf. Knarrende Holzstufen und der Duft von frischem Kaffee begleiten mich in das Atelier meines Vaters. Sonnenstrahlen fallen durch die verglasten Dachschrägen. Zwischen Staffeleien und Farbpalletten steht ein kreisrunder Tisch in der Mitte des Raumes. Mein geliebter Laptop lockt mit einem aufgeschlagenen Worddokument. Und in dem Ledersessel davor sitzt ein Prinz.
Sein dunkler Haarschopf ragt über die Lehne des Sessels heraus. Die blasse Haut sticht gegen das dunkle Leder hervor. Nach zwei Schritten kann ich sein Gesicht sehen - die scharfen Wangenknochen, das kantige Kinn, die geschwungenen Lippen. Und seine Augen. Silbrige Schlieren wirbeln um seine Pupille und drohen, mich in ihren Bann zu ziehen. Ich weiß, dass es seinem Blick kein Entkommen gibt. Ich habe dutzende Male beschrieben, wie Feinde vor ihm auf die Knie fallen. Nur gut, dass Calahan nicht mein Feind ist.
»Du warst lang weg, meine Göttin.« Seine tiefe Stimme rollt über mich hinweg und sendet einen Schauer meinen Rücken hinunter. Ich muss mich von ihm abwenden. »Du sollst mich nicht so nennen.«
Ein Lachen entkommt seiner Kehle und lässt mich erstarren. »Du hast mich erschaffen. Du hältst meine Geschicke in deinen Händen. Wer bist du, wenn nicht meine Göttin? Wer bin ich, wenn nicht dein ergebener Untertan?«
Eine Spur Sarkasmus mischt sich in seinen Ton. Wir wissen beide, dass er niemandes Untertan ist. Seine Präsenz stellt jede andere Person im Raum in den Schatten. Und die Schatten selbst, die er kontrollieren kann...
»Du bist ein Hirngespinst meiner Fantasie.« Ich schubse ihn an der Schulter. Die Muskeln unter meinen Fingern sind hart und unnachgiebig. Calahan taucht immer dann auf, wenn ich mit den Gedanken in meinem Buch stecke. Also spätestens dann, wenn ich das Atelier betrete. Mit der Hüfte stoße ich ihn an. Seinen Körper kann ich damit nicht bewegen, aber er versteht die Nachricht und räumt den Ledersessel. Ich drehe meinen Kopf gerade so weit, dass er mein Grinsen sieht. Mit den Fingern streiche ich über die Tastatur.
»Bereit, deine Geliebte zu treffen, Cal?«
»Cal?« Er tritt um den Sessel herum und beugt sich über meine Schulter. Eine seiner Locken kitzelt mich an der Ohrmuschel. »Nur meine Familie nennt mich Cal. Sag mir, meine Göttin, bist du meine Familie?«
Sein warmer Atem trifft auf die empfindliche Haut an meinem Hals. Erst gestern habe ich das Kapitel geschrieben, in dem Cal meiner Protagonistin von dem Spitznamen erzählt hat. Sein kleiner Bruder hat ihn erfunden. Calahan war dem Knirps schlichtweg zu lang. Das letzte Mal, dass ein Fremder den Namen Cal verwendet hat, hat Calahan ihm die Nase gebrochen. Ich muss zweimal schlucken, bevor ich antworten kann. »Ich bin Teil deines Herzens, so wie du ein Teil von mir bist.«
Ich gebe ihm keine Gelegenheit, zu antworten. Blindlings fliegen meine Hände über die vertrauten Tasten, die seinen Namen formen. Cal verschwindet, und während mein Körper im Atelier bleibt, folgt ihm mein Geist zu den Abgründen meines Buches. Elvine, meine Protagonistin und Cals Geliebte, empfängt uns mit offenen Armen.
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»Lebe.« Elvine wog Calahans Kopf in ihren Händen. Ihre Finger krallten sich in seine Haare. »Das ist mein erster und einziger Befehl an dich. Lebe.«
Die Folter hatte einen roten Nebel um Calahan hinterlassen. Elvines Stimme war das Einzige, was zu ihm durchdrang. Der Rebellenprinz kämpfte mit allem, was er hatte. Und er gewann. Langsam öffneten sich seine Augen.
Ein Schluchzen entkam aus Elvines Kehle. Sein silberner Blick hatte sie schon so oft in seinen Bann gezwungen - voller Wut und Sanftmut und Liebe. Jetzt stand etwas darin, das sie noch nie zuvor gesehen hatte: Schmerz.
Aus seiner Brustwunde floss heißes Blut über ihren Handrücken. Sie presste die Ränder der Verletzung aneinander. Es war an ihr, sein Leben zu retten.
Knirschend zerbeiße ich einen getrockneten Apfelring. Das Kauen hilft mir beim Denken. Anders als Elvine habe ich keine Erfahrung in der Heilkunst. Erst muss ich mich auf eine Google-Suche begeben, um herauszufinden, wie ich Cals Wunde versorge. So etwas beginnt man bekanntlich damit, indem man minutenlang auf seinen Bildschirm starrt. Die Hälfte der Apfelring-Tüte verschwindet in meinem Magen.
Bis ein Röcheln mich herumfahren lässt. Auf dem Sofa an der Wand des Ateliers liegt ein Mann. Das ist nicht ungewöhnlich, mein Vater schläft öfter auf diesem Sofa als in seinem Bett, allerdings trägt er für gewöhnlich keinen schwarzen Ledermantel. Und er ist meist auch nicht blutüberströmt.
»Cal!« Mit wenigen Schritten bin ich bei ihm. Auf seiner Stirn stehen Schweißtropfen. Seine Lippen zittern, als er ein Lächeln versucht. »Meine Göttin. Kommst du, um mich zu retten?«
Sein Atem geht flach. Ich erkenne die Falte in seiner Stirn, die sich nur dann bildet, wenn er die Kontrolle verliert. Ich weiß auch, dass er seit Tagen eine Wunde an seiner Wade verbirgt, die überhaupt erst dazu geführt hat, dass die Handlanger des Königs ihn überwältigen konnten. Jeder Zentimeter seines Körpers ist mir vertraut. Doch das reicht nicht aus, um ihn zu retten.
»Ich weiß nicht, was ich machen soll!«
»Blutung stillen«, quetscht er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Ich greife nach einem Tuch, das die neueste Malerei meines Vaters abdeckt, und presste sie auf seinen Brustkorb. Ein Fetzen seiner Tunika klebt an der Verletzung. Mit bebenden Fingern zerre ich ihm das Kleidungsstück vom Leib. Die Messer seiner Folterer haben es ohnehin in Stücke gerissen. Seine Haut unter meinen Handflächen ist feucht und heiß. Ich kann spüren, wie sein Herz rast. Das habe ich ihm angetan. Meine Worte haben sein Leben in Gefahr gebracht.
»Du wirst nicht sterben«, stammele ich. »Das steht nicht in meinem Plan. Du kannst nicht sterben.«
Er ist ein Splitter meiner Imagination. Sein Leben ist nicht real - dann kann es sein Tod auch nicht sein. Ich muss zurück zu meinem Laptop. Elvine kann so etwas besser als ich. Sie hat den kühlen Kopf und den Mut, das Richtige zu tun. Ich habe nur meine Fantasie. Und zum ersten Mal lässt sie mich im Stich. Kein einziger Satz taucht in meinen Gedanken auf. Nein nein nein-
Keine Schreibblockade. Nicht jetzt.
Cal stöhnt und krümmt sich um sich selbst zusammen. Eine Blutlache bildet sich auf dem Sofa. Die Sonnenstrahlen, die durch die Dachfenster hereinfallen, glänzen auf den roten Tropfen. Das Gefühl an meinen Fingern lässt mich schaudern. Sein Blut ist warm und seine Muskeln sind fest und sein Atem ist das Streichen zarter Flügel auf meinem Handrücken.
Ich habe das getan.
Meine Worte haben den Mann vor mir geschaffen. Seinen Schmerz. Seine Angst. Ich habe sein Leben erweckt und seinen Tod gedroht.
»Ich weiß, ich bin atemberaubend«, hustet Cal. »Kannst du jetzt bitte die Wunde nähen?«
Meine Augen schnappen zu seinem Gesicht. »Ich kann nicht nähen.«
Er stöhnt, und diesmal weiß ich nicht, ob es an seiner Ungläubigkeit oder den Qualen liegt. Kurzerhand ziehe ich mein Handy hervor und wähle bei FaceTime Beas Kontakt. Immerhin sind große Schwestern dafür gemacht, bei solchen Dingen zu helfen.
Ihr Gesicht taucht auf meinem Handy auf. Durch das Display sieht sie blass aus. Mit aufgerissenen Augen starrt sie auf einen Punkt hinter mir. »Tilda, warum liegt da ein blutender Mann auf der Couch?«
Sie kann ihn sehen. Calahan ist ein Charakter, den ich in Schwarz und Weiß erschaffen habe, Wörter auf Papier. Bea sieht seine silbernen Augen und sein rotes Blut und seine braunen Lederstiefel.
»Erkläre ich später«, murmele ich hastig, »Erstmal musst du mir erklären, wie ich seine Wunde nähe.«
»Was zur Hölle?«
»Du kannst doch nähen!»
»Ich kann nur häkeln, das ist-« Bea verschluckt sich an ihrem eigenen Atem. »Ich kann in anderthalb Stunden bei dir sein, bis dahin rufst du einen Krankenwagen.«
»Er hat weder eine Krankenversicherung noch einen Ausweis!«
»Wie-« Ich höre ihr Keuchen durch das Handy. Sie erkennt den Mann hinter ihr. Ich habe ihr jede von Cals Szenen kichernd und quietschend vorgelesen. Letzte Woche habe ich ihr sogar von Cals Besuchen erzählt. Wie immer hat sie mich lachend als Hexe bezeichnet. Wir haben beide nicht geglaubt, dass er real ist. Bis jetzt.
Bea stößt die Luft aus. Sie schüttelt sich. Im nächsten Augenblick erscheint der Ausdruck auf ihrem Gesicht, der mir sagt, dass ich jetzt auf jedes ihrer Worte hören muss. »Nadel und Faden sind im unteren Schubfach des Schreibtischs. Du desinfizierst beides und kommst sofort zurück.«
Ich erlaube mir keinen anderen Gedanken als den, Beas Befehlen zu folgen. Die größte Schwierigkeit ist, den Faden durch das Nadelöhr zu bekommen. Cal zuckt nicht einmal zusammen, als die Nadel seine Haut durchstößt. Wieder und wieder steche ich ihn mit der winzigen Klinge. Sobald ich den Faden verknoten habe, wische ich meine Hände an seiner Hose ab und stürze mich auf meinen Laptop. Am Rande bekomme ich mit, wie Beas blecherne Stimme nach mir ruft, und dann schrillt mein Klingelton wieder und wieder durch das Atelier. Bis auf meine Tastatur verschwimmt der Raum um mich. Ich darf das Gefühl nicht vergessen, wie sich Cals Fleisch angefühlt hat, wie ich von der blutgetränkten Nadel abgerutscht bin, welcher Druck nötig war, um die Spitze durch Cals Haut zu bringen. Ich werfe einen einzigen letzten Blick auf Cal. Er ist bereits verschwunden. Nur sein Blut hebt sich noch dunkel gegen den Stoff des Sofas ab.
☽✷☾
Elvines Lippen formten ein einziges Wort. Eine Wahrheit. Ein Versprechen. »Calahan.«
Ein Geräusch entkam aus den Tiefen seiner Kehle. Er rang nach Atem und grub die Finger in die Haare an ihrem Hinterkopf. Sie begrüßte den süßen Schmerz. Cal war bei ihr. Sie konnte ihn spüren.
»Meine Elfe.«
Er war bei ihr. Sie konnte ihn hören - das Rumpeln des Kosenamens in seiner Kehle. Den Luftzug aus seinen Lungen. Das Donnern seines Herzens.
Er verharrte, so dicht vor ihr. Mit einem Seufzen nahm sie sich, wonach es sie verlangte. Er war bei ihr. Sie konnte ihn schmecken. Endlich.
Calahan keuchte, als ihre Lippen auf seine trafen. Er öffnete den Mund. Und-
Das Blinken des Cursors scheint mich zu verhöhnen. Und was?, kichert der schwarze Strich. Ich bin Autorin. Ich kann dafür sorgen, dass sich jede noch so ferne Fantasie anfühlt, als wäre sie deine Realität. Ich kann dich auf einem Drachen fliegen lassen, mit Meerjungfrauen schwimmen, Flammen bändigen. Aber wie zur Hölle beschreibe ich einen Kuss?
»Ist ja nicht so, als könnte ich aus Erfahrung berichten«, knurre ich den Cursor an.
Eine tiefe Stimme erklingt hinter mir. »Das müssen wir ändern.«
Jedes seiner Worte vibriert durch meine Knochen. Ich schließe die Augen und genieße die Gänsehaut, die sich auf meinen Armen ausbreitet. Es dauert eine Weile, ehe ich antworten kann.
»Das ist sehr charmant, aber leider unmöglich.«
Cal schlendert um den Sessel herum. Seine Bewegungen sind fahriger als sonst. Er hat sich noch nicht von seiner Wunde erholt. Doch seine Augen funkeln wieder. Er schiebt meinen Laptop zur Seite und setzt sich auf die Tischplatte. Seine Knie stoßen rechts und links an meine Arme. Er muss den Kopf nach unten neigen, um meinen Blick aufzufangen. Diese verdammte schwarze Locke fällt ihm in die Stirn.
»Nichts ist unmöglich, meine Göttin.«
Der Blick aus seinen silbernen Augen lässt mich schlucken. Wo ist sein Sarkasmus? Ich habe bisher nicht eine einzige Szene geschrieben, in der er so ernst geklungen hat.
»Ich bin nicht Elvine.« Selbst in meinen eigenen Ohren klingt meine Stimme kläglich. Cal zieht eine Braue hoch.
»Elvine ist nicht hier. Ich bin froh, dass du es bist, die vor mir sitzt.«
»Du liebst sie. Sie ist deine Gefährtin!«
»Ich liebe dich. Du bist meine Göttin.«
Er hält unseren Blickkontakt aufrecht. Sein Kinn senkt sich für keinen Zentimeter. Dieser Mann hat keine Angst vor der Wahrheit, die er gerade ausgesprochen hat. Ich schon.
»Cal, du kannst sowas nicht einfach sagen!«
Ein leises Lachen schwebt durch die dicke Luft zwischen uns. Diesen halben Meter Abstand, der nicht ausreicht, dass ich richtig atmen kann.
»Ich kann. Sei ehrlich, Tilda - du spürst die Anziehung zwischen uns beiden auch.«
»Ja, aber-« Ich fahre mir so fest durch die Haare, dass einige rote Strähnen an meinen Fingern hängen bleiben. »Ich habe dich geschaffen, um eine andere Person zu lieben.«
Elvine ist perfekt für ihn. Cal fühlt mit der Intensität eines Sturms, und Elvine behält selbst im schlimmsten Gewitter die Nerven. Ich bin Chaos. Cal und ich, das könnte niemals funktionieren. Zusammen würden wir in einem Rausch versinken, aus dem wir niemals wieder auftauchen könnten.
»Das ist das Problem mit Charakteren wie mir.« Cal beugt sich zu mir nach vorn. Seine Locke streicht über meine Schläfe, als sein Mund zu meinem Ohr wandert. »Wir bleiben nicht in den Grenzen, die ihr Autoren uns auferlegt.«
Er macht eine winzige Bewegung. Es ist kaum mehr als eine Drehung seines Kopfes. Und mit einem Mal liegen seine Lippen auf meinen. Cal ist ein Blitz, der mich trifft, meine Haare zu Berge stehen lässt, Elektrizität in jeden letzten Winkel meines Körpers schickt. Doch die Berührung seines Mundes ist wie das Flattern von Schmetterlingsflügeln. Langsam, sanft, genüsslich bewegt er sich gegen mich. Ich spüre jede Kontur seines Mundes. Die Wölbung seiner Oberlippe. Die Spitze seines Eckzahns. Den winzigen Riss in seiner Unterlippe.
Der Rausch nimmt uns beide gefangen. Ich weiß nicht mehr, warum ich ihm entkommen wollte. Er ist wundervoll.
Ich ertrinke in dem Kuss. In Cal. Mein Körper hält mich nicht mehr aufrecht. Meine Hände packen seine Schultern, graben sich in seine Haut. Ein winziges, verzweifeltes, hungriges Geräusch entkommt seiner Kehle. Er greift nach meinem Rücken und presst mich fest an sich heran. Sein Geruch von Leder und Regenwind umfängt mich. Meine Finger finden die seidigen Strähnen seiner Haare. Es muss schmerzen, so fest ziehe ich daran. Ich weiß genau, dass das sein Schwachpunkt ist. Cal stöhnt auf und reißt sich von mir los.
»Das ist nicht fair«, keucht er. »Dein Körper ist mir fremd, doch du kannst mich mit einer einzigen Berührung in die Knie zwingen.«
Wie von selbst finden meine Lippen die empfindliche Stelle an seinem Hals. Cals Seufzen klingt beinahe gequält.
»Das kann ich nicht zulassen, meine Göttin«, presst er hervor.
Seine Worte dringen kaum zu mir durch. Mir ist schwindelig von der Atemnot, die der Kuss in mir ausgelöst hat. Meine Worte haben mich das fühlen lassen. Sie haben Cal ins Leben gerufen, und mein Leben auf den Kopf gestellt.
»Du kennst jedes meiner Leberflecke, jedes Muttermal.« Cal umfängt meinen Kopf mit seinen Händen und zwingt mich, ihn anzusehen. »Ich werde einen Ausgleich schaffen.«
Meine Glieder zittern. Es kostet mich mehr, als es sollte, um ein kleines Grinsen zu schaffen. »Ich habe keine Muttermale.«
Der Funke in seinen Augen verrät mir, dass er die Herausforderung annimmt. »Du hast Sommersprossen.«
»Unzählbar viele«, schnaube ich, »Du kannst unmöglich-«
»Ich werde jede einzelne kennenlernen.«
Ein letztes Mal blitzt sein silberner Blick auf. Dann schlägt er die Lider nach unten und presst seine Lippen auf mein Schlüsselbein. Noch einmal. Noch einmal.
»Vierzigtausendundzwei«, flüstert er irgendwann gegen meine Haut.
☽✷☾
»Keine Bewegung.«
Kalter Stahl presste sich gegen Elvines Kehle. Zu ihrem Entsetzen gehorchten die Rebellen dem Befehl des Königs. Er hatte sie hierhergelockt, auf das Schlachtfeld, und sie waren in seine Falle getappt. Die Finger des Königs gruben sich tief in Elvines Haut. Sie spürte, wie ein Tropfen Blut ihre Kehle hinabrann. Calahan fiel auf die Knie und ließ zu, dass die Soldaten ihn packten.
»Verletze sie nicht.« Da war kein Sarkasmus mehr in Calahans Ton. Er ließ alle Masken fallen und erlaubte dem König einen Blick auf den Jungen darunter, der aus vollem Herzen liebte. »Bitte, Vater. Verletze sie nicht.«
Der König strich eine Strähne aus Elvines Gesicht. Die Berührung hinterließ eine brennende Spur auf ihrer Schläfe. Er nickte Calahan zu. »Es wird schnell vorüber sein.«
Koas Schrei übertönte sogar Calahans. Koa, sein kleiner Bruder, der gerade erst sieben Winter gesehen hatte. Elvine schluchzte auf. Koa durfte nicht der Zeuge ihres Todes werden. Calahan und sie hatten so hart dafür gekämpft, ihn aus dem Krieg herauszuhalten.
»Mache dich bereit, zu sterben, Schwiegertochter«, säuselte der König in einem schrecklichen Singsang. Er ließ sein Schwert niederschnellen, und Elvine fiel zu Boden. Sie keuchte auf. Sie atmete. Sie lebte. Jemand hatte sich über sie geworfen-
Koas blutender Körper fiel in ihre Arme. Nein. Nein, nein, nein. Bebend fuhr sie ihm durch die wirren Locken. Er öffnete die Augen. Das sonst so freche Blau war verschleiert, von Angst und Schmerz und etwas ganz Anderem.
»Koa...«
»Elfie.« Mit einem zitternden Atemzug schmiegte er sich an sie. Sein Brustkorb hob sich nicht noch einmal. Als ihre erste Träne auf sein Gesicht fiel, spürte er es nicht mehr.
Durch meine Tränen kann ich die Tastatur nicht mehr erkennen. Ich habe immer gewusst, dass Koa sterben muss. Er und Elvine sind die einzigen Menschen, die unter dem Licht aller drei Monde in meiner Welt geboren wurden. Koas Tod setzt die nötige Magie frei, die die Rebellen brauchen, um den König zu besiegen. Doch jetzt, wo es so weit ist, zittern meine Finger. Es ist unmöglich, Koa nicht zu mögen. Er liebt es, am Morgen die Augen aufzuschlagen. Zu atmen. Seinen Weg entlangzuspringen, ganz egal, wohin der ihn führen wird.
Und genau deswegen wird sein Tod die Leser zerstören. Trotz der Tränen kann ich nicht verhindern, dass meine Mundwinkel zucken.
»Das hast du nicht getan.«
Die Schatten in den Ecken des Ateliers flackern und ihr Herrscher taucht in ihrer Mitte auf. Binnen eines Herzschlags verschwindet die Trauer um Koa, und da ist nur noch Cal. Ich aale mich in der prickelnden Luft zwischen uns. Cals Stimme ist tonlos. Er klingt genau wie der skrupellose Rebell, als den ich ihn ursprünglich erschaffen habe. In dem mittlerweile vertrauten silbernen Blick fehlt das Funkeln.
»Schreibe die Szene um.«
Die Temperatur im Atelier sinkt um ein paar Grad. Seine Worte schießen wie Dolche auf mich zu. Bei dem Befehlston flattern Schmetterlinge durch meinen Bauch.
Ich lehne mich in meinem Sessel zurück. »Ich kann nicht.«
Mit zwei Schritten ist Cal bei mir. Er packt die Lehne des Sessels und dreht ihn von dem Tisch weg. Der schwere Ledersessel ist für ihn kein Hindernis. Cal schirmt mich von meinem Laptop ab und zwingt mich, ihn anzusehen. »Du bist meine Göttin. Es gibt nichts, was du nicht kannst.«
Dieser Mann lässt mich schmelzen. Leider hat er keinen Sinn für Handlungsstränge. »Es muss so sein. Koa wurde unter dem Licht aller drei Monde geboren-«
»Er ist sieben!« Cals Brustkorb hebt und senkt sich heftig. »Er ist mein kleiner Bruder! Er darf nicht sterben!«
»Sein Tod wird nicht umsonst sein. Ihr könnt nun den König besiegen, die Welt retten...«
»Soll die Welt doch brennen!« Cals Knie treffen auf dem Boden auf. Er packt meine Finger und starrt zu mir nach oben. »Ohne Koa ist die Welt nicht wert, gerettet zu werden. Bitte. Bring ihn zurück.«
Ich lege meine freie Hand an seine Wange und streiche mit dem Daumen über die weiche Haut. Seine Kiefermuskeln sind angespannt. Trotzdem schmiegt er den Kopf in meine Handfläche. »Du hast so hart für dein Königreich gekämpft. Ihr seid so kurz vor dem Ziel. Außer Koa hat nur Elvine die Magie in ihrem Blut, die euch den Sieg bringt. Wenn ihr verliert, schlachtet dein Vater euch alle ab.«
Cal erstarrt. Er umklammert meine Finger so fest, dass sie schmerzen. »Elvine. Elvine kann sich an Koas statt opfern.«
Mein Daumen streicht über seinen Wangenknochen, aber er scheint die Berührung gar nicht zu spüren. »Cal, du liebst Elvine.«
Er schüttelt heftig den Kopf. »Ich liebe dich. Ja, Elvine ist Teil meiner Familie geworden, aber gerade deswegen wird sie sich ohne zu zögern für Koa opfern. Und wir, du und ich, können zusammen sein.«
»Sie ist die Protagonistin! Ohne sie gibt es kein Ende für das Buch.«
»Dann ist unsere Geschichte unendlich.« Mit jedem Wort wird Cal schneller, sicherer. Er ist nun wieder ganz der Rebellenprinz. »Elvine wird einen Heldentod sterben. Und wir beide werden auf ewig beisammen sein.«
Ich will schon widersprechen, da begreife ich, was er gesagt hat. Ich muss mein Buch nicht zu einem Ende bringen. Meine Treffen mit Cal könnten andauern. Wir hätten wir die Möglichkeit, uns ein gemeinsames Leben aufzubauen.
Einst habe ich gedacht, er wäre nicht real. Aber dann hat ihn meine Schwester gesehen. Auf dem Sofa gegenüber von mir kann ich den Fleck von seinem Blut sehen. Seine Haut, sein Atem, selbst seinen Herzschlag - ich spüre seine Anwesenheit, als würde eine höhere Macht uns zueinander rufen.
»Ich liebe dich, Tilda.«
Ich schaudere. Cals Stimme ist tiefer geworden und er formt die Worte so sorgfältig. Seine Art zu sprechen ist mir unglaublich vertraut. Liebe war nie Teil meines Lebens. Ich war immer die merkwürdige Rothaarige, die mit imaginären Personen mehr redet als ihren Kommilitonen. In den letzten Wochen hat Cal mir eine andere Welt gezeigt. Er ist ein Teil von mir. Ich lechze nach dem Rausch, in den er mich fallen lässt. Ich liebe ihn. Und mit derselben Intensität liebe ich Koa. Elvine. Den König.
Meine Lippen suchen Cals. Nur für einen Wimpernschlag liegen unsere Münder aufeinander. Der winzige Kuss reicht mir, um Cal tief in meinem Inneren zu spüren. Er schmeckt nach Sehnsucht und nach Ankommen zugleich.
»Ich bin gleich wieder bei dir«, wispere ich ihm zu. Meine Schritte sind wackelig, als ich zu meinem Laptop hinüberlaufe. Der Ledersessel trennt mich von Cal. Nur für einen Moment. Denn sobald ich die erste Taste drücke, sind wir wieder beisammen. In einer anderen Welt.
Calahan wiegte den Körper seines kleinen Bruders in den Armen, tippe ich. Koas Körper begann, zu leuchten. Elvine schrie. Voller Trauer und Schmerz und so unglaublich viel Macht. Koas Lebenskraft ging in sie über. Die Magie eines Kindes, das unter den drei Monden geboren wurde. Die Macht, die Elvine brauchte, um den König zu vernichten.
Es ist kein Rausch, den ich fühle. Es ist ein Wirbelsturm. Nicht nur der Kontrollverlust über meine Gefühle, sondern das Entgleisen jedes meiner Sinne. Ich schmecke die Trauer in der Luft. Rieche Eisen und Stahl, Blut und Schwerter. Der Schlag von Elvines Macht lässt meine Knochen beben. Ich sehe das Funkeln in Elvines Augen, Koas graue Haut, Cal und seine tobenden Schatten.
In der Realität werde ich Cal nicht noch einmal treffen. Den Tod seines Bruders wird er mir nicht verzeihen. Doch das ist in Ordnung. Denn in meinem Buch lebe und leide ich gemeinsam mit ihm und allen anderen Charakteren. Vielleicht ist es naiv, dafür die Chance auf Liebe aufzugeben. Ich gehe das Risiko mit einem Lächeln ein.
Liebe mag die stärkste aller Emotionen sein, doch das reicht mir nicht. Denn ich bin Autorin. Mit jedem Buch hoffe ich und hasse ich und hungere ich nach mehr. Durch meine Wörter spüre ich mehr, als eine Lebensspanne mir jemals schenken könnte. Ich kann dutzende Male sterben, hunderte Welten sehen und tausende Freundschaften schließen. Ich fühle sie alle. Alle vierzigtausendundzwei Emotionen.
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