As Cool as Ice: Von Königen und Königinnen und dem Tod

Die zehnbrieffreunde haben unter der Regie von gelbeameise wieder einmal einen tollen Wettbewerb auf die Beine gestellt. Der Prompt, zu dem ich geschrieben habe, ist folgender:
Dein Protagonist findet ein Buch, welches offensichtlich über ihn geschrieben ist.
Dazu ist eine Kurzgeschichte mit ca. 2187 Wörtern entstanden (Wattpad und Word sind sich da etwas uneinig).
Hoffentlich habt ihr genauso viel Spaß beim Lesen wie ich beim Schreiben!

🗡️

Vor zwei Jahren hatte Lethia ihren letzten Mord begangen. An das Gesicht des Mannes konnte sie sich nicht erinnern. War es der mit den eingesunkenen Augen gewesen? Oder hatte sie den mit der hohen Stirn danach getötet?
Diese Zeiten lagen hinter ihr.

Zumindest hatte sie sich das gesagt, als sie in ihren alten Anzug geschlüpft war. Der Satz war wieder und wieder durch ihren Kopf gegeistert, während sie ihren Waffengurt umgelegt hatte. Und jetzt, auf dem Dach der punkvollsten Villa der Stadt, murmelte sie die Worte wie ein Mantra. Die Zeiten, in denen sie eine Assassinin gewesen war, waren vorbei.

Regen prasselte gegen Lethias zusammengesunkene Gestalt. Am Rand ihrer Kapuze sammelten sich Tropfen. Ab und zu fand einer von ihnen den Weg hinein, zu ihrer bloßen Haut, wo er mit einem Zischen auf ihren Hals traf. Auf ihren Händen spürte Lethia die Nässe kaum noch. Der Marmor des Villendachs lag kalt und rutschig unter ihren Fingern. Sie hielt sich tief geduckt an der Dachkante, den Bewegungen der Menschen unten auf der Kopfsteinpflasterstraße folgend. Betrat jemand das Gebäude unter ihr, bekam Lethia es mit. Der Regen war dabei kein Hindernis. Er war ihr Freund – der Schleier, der sie vor den Augen der Passanten verbarg, das Lied, das ihre Atemzüge übertönte. Nein, die Feuchtigkeit störte sie nicht. Es war der immer wiederkehrende Gedanke, der ihre Nackenhaare zu Berge stehen ließ: Die Zeiten, in denen sie eine Assassinin gewesen war, waren vorbei.

Nur war sie niemals nur irgendeine Assassinin gewesen, nicht wahr? Eine bessere als sie hatte es nie gegeben. Nachtkönigin. Das war der Titel, der auf den Schwingen der Gerüchte durch die Stadt ritt. Der Name, den sich die Bewohner hinter vorgehaltener Hand zuflüsterten.
Lethia war nicht die Einzige, die sich daran erinnerte.

Ein Automobil brummte über die Straße tief unter ihr. Das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich in dem nassen schwarzen Lack. Mit einem Krachen rumpelte der Wagen durch ein Schlagloch. Das aufspritzende Wasser traf eine Dame, die dem Fahrer mit erhobener Faust hinterherrief. Zorn. Unruhe. Trauer. Das waren Emotionen, die Lethia fremd waren. Ihr Inneres war ebenso kalt geworden wie die winzigen Flecken ihrer Haut, die dem Regen ausgesetzt waren. Ihre klammen Finger konnte sie kaum noch krümmen. Lethia fühlte sich abgeschottet von den Lebewesen auf der Straße. Hier oben war sie ein stiller Beobachter. Ein Raubtier auf der Lauer. Eine Göttin.
Doch sie blieb erfolglos. Niemand schenkte der Villa auch nur einen Blick.

Sie wusste nicht, warum sie hier lag und die Straße beobachtete. Sie wusste nicht einmal, warum sie den alten E-Mail-Server überhaupt geöffnet hatten. Keine einzige Mail war jemals von dieser Adresse geschickt worden. Nur Lethias Kunden erhielten den Zugang. So konnten sie Mails in den Entwürfen verfassen und mit Lethia Informationen austauschen, ohne ihre Daten in die Weiten des Webs zu entlassen. Es war reine Routine gewesen, das Passwort einzutippen. Auch nach zwei Jahren waren Lethias Finger über die Tastatur gesprungen, als hätten sie nie damit aufgehört. Lethia versuchte, sich einzureden, sie hätte es aus purer Langeweile getan. Ihr Herz hatte die Lüge enttarnt. Voller Vorfreude war es gegen ihren Brustkorb gehüpft, als sie den ungelesenen Mailentwurf gesehen hatte.
An die Schwinge der Schatten: Fauve-Mansion. Philipp Fauve. 25.000$.

Marketingdesign brachte schlichtweg nicht so viel Geld ein wie bezahlte Morde. Lethia musste eine unmenschlich hohe Miete für ihr Appartement zahlen.
Die Zeiten, in denen sie eine Assassinin gewesen war, waren vorbei.
Nur dieser eine Auftrag. Für das Geld.
Lügnerin, Lügnerin, sang ihr Herz.
Willkommen, willkommen, willkommen zurück!, fiel der Regen ein.

Wie ein Schatten kroch Lethia über die Dachkante der Fauve-Mansion. Für einen Moment flog sie. Im freien Fall flatterte der Saum ihrer Tunika um ihre Hüfte. Dann fing sie sich an einem Geländer ab. Ihre Finger fanden einen dünnen Metallstrang, protestierten gegen ihr Gewicht und klammerten sich doch zuverlässig fest. Das Geländer wölbte sich in Schnörkeln um den höchsten Balkon der Villa. Lautlos zog sie sich auf die Plattform hinauf. Sie brauchte keine fünf Minuten, um das Fenster aus den Angeln zu heben. Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Nach zwei Jahren trug sie ihren Titel noch immer zu Recht.
Es gab keine Tür, die der Schwinge der Schatten nicht offenstand.

Lethia wurde zu einem Geist, der die Flure der Villa heimsuchte. Die Mansion war wie ausgestorben. Selbst wenn jemand hier geschlafen hätte, Lethia wäre unentdeckt geblieben. Sie war der Windhauch in den Vorhängen. Der Schatten, den die Säulen warfen. Die Dunkelheit hinter den Türen.
Dicken Läufer auf den Fluren schluckten Lethias Schritte. Die Finsternis vor den Wänden und das Mondlicht, das durch die bodentiefen Fenster hereinfiel, malten Bilder aus einer ganz anderen Welt auf die Teppiche. In einem Spiegel erhaschte Lethia einen Blick auf sich selbst. Schwarzer Umhang mit noch schwärzeren Stiefeln. Blasse Haut, die aus den Tiefen eines Assassinen-Anzugs hervorblitzte. Sie sah aus wie eine Tote. Oder der Tod höchstpersönlich.

Mit jedem neuen Flur schlug ihr Herz schneller. Es wollte hinaus, gierte nach dem Rausch, den es zwei Jahre nicht gespürt hatte. In den Räumen fand Lethia lederne Ohrensessel, dunkle Chaiselongues, klauenfüßige Tische – Möbel wie aus einer anderen Zeit. Ihr Atem warf ein Echo gegen die Wände und schien sich wie ein Schleier über die Räume zu legen. Normalerweise war Lethia ein lautloser Räuber. In der vollkommenen Stille der Villa fühlte sie sich wie das ahnungslose Beutetier.
Von ihrer Zielperson war keine Spur zu sehen. Da waren keine Waffen, keine Briefe, nichts, was auf zwielichtige Geschäfte hinwies. Lethia war kurz davor, der Villa den Rücken zuzukehren. Ihre Schritte führten sie auf das Fenster in einem Wohnzimmer zu. Nachtkönigin. Wer glaubte schon noch an diesen Titel?

Mitten in der Bewegung erstarrte sie. Ihr Fuß, bereits zum Schritt erhoben, kribbelte. Ihre Finger schwebten in der Luft, die sich wärmer, dicker anfühlte. Lethia befand sich in dem untersten Level der Villa. Der weitläufige Raum unterschied sich auf den ersten Blick nicht von den vielen anderen, die sie zuvor durchsucht hatte. Sitzgruppen standen um einen gähnenden Kamin verteilt. Ein Tisch, kaum hüfthoch, kauerte zu Lethias Rechten. Und darauf lag ein ledergebundenes Buch.

Lethia gab ihrem Körper keinen Befehl. Und doch bewegte sie sich auf den Tisch zu, nahm das Buch in die Hand, schlug die Seiten auf. Das Leder schmiegte sich in ihre Finger. Auch wenn das Buch alt aussah, war das Pergament in seinem Inneren weiß wie Schnee. Klar und kühl hob sich die Tinte gegen die Seiten ab.

»Es waren einmal ein Junge und ein Mädchen, die lebten in einem Land, in dem Menschen wie sie den Krähen zum Fraß vorgeworfen wurden.«

Lethia Atem gefror in ihren Lungen. Kinder wie sie. Es war keine Erklärung nötig, damit Lethia wusste, wer gemeint war. Bastarde, Waisen, Söhne und Töchter der Slums.

»Der Junge und das Mädchen ließen sich nicht von den Krähen fressen. Gemeinsam mit den Raben erhoben sie sich in die Lüfte, ritten die Nachtwinde und wuchsen zu Herrschern heran.«
Die Schwünge der Buchstaben waren genauso kühn wie die Worte selbst. Lethia kannte diese Handschrift. Sie konnte seine Stimme in ihrem Inneren hören.

»Bald wurde der Junge der beste Freund der Krähen. Seite an Seite mit ihnen jagte er die Reichen, die Adeligen, die Verbrecher seiner Stadt. Es waren nicht mehr länger die Straßenkinder, die Opfer der Krähen wurden. Der Junge ließ das nicht zu.
Das Mädchen jedoch... Das Mädchen wurde zur Königin der Krähen. Sie befehligte die Schwärme. Auf ihr Kommando gingen die Krähen auf die Stadt nieder und vernichteten die Feinde des Mädchens. Nur die bösartigsten der Verbrecher, die wohlhabendsten, die sich hinter den Wänden der höchsten Villen versteckten, diese tötete das Mädchen selbst.
Der Junge kniete mit Stolz vor seiner Königin nieder.«

Eine Träne ließ die Worte verschwimmen. Die Tinte des letzten Satzes verlief. Schwarz und Weiß flossen auf dem Pergament zusammen, vermischten sich zu einem unlesbaren Wirbel. Lethia musste die Buchstaben nicht lesen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie die Geschichte wieder und wieder gehört. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie die Geschichte gelebt.

»Eines Tages hatte das Mädchen keine Feinde mehr. Der Junge hatte sie allesamt für seine Königin vernichtet. Der Krähenschwarm zerstreute sich in alle Winde. Nur der Junge blieb an der Seite des Mädchens. Nun kämpften sie nicht mehr um das Überleben. Ihren Lohn mussten sie nicht länger restlos für Nahrung ausgeben. Nach und nach häuften sich Reichtümer in den Tiefen ihrer Kellergewölbe an. Der Junge, voller Hingabe für das Mädchen, schenkte ihr alles, was er in seine Finger bekam. Er war ihr letzter Untertan. Und sie wurde so reich und adelig wie die schlimmsten ihrer Feinde. Eine Verbrecherin war sie längst. Eine Mörderin. Eine Verräterin.
Den Jungen kümmerte das nicht. Seine Liebe für sie war grenzenlos.«

Lethia konnte nicht mehr atmen. Ihre Kehle war zugeschnürt, ihr Herz ein gefangener Vogel, der nicht länger fliegen konnte. Sie hätte bemerken müssen, dass eine Gestalt aus den Schatten hinter dem Kamin trat. Auch nach zwei Jahren hätten die Instinkte der Assassinin sie warnen müssen.
Sie bemerkte ihn erst, als er vor ihr stand. Blasse Haut, die aus der Dunkelheit eines Umhangs hervorblitzte. Das Schimmern von grauen Augen. Die schwarze Locke, die ihm immer in die Stirn fiel.

„Rani." Seine Stimme wusch über sie hinweg wie ein Bergbach. Rau von Wochen des Schweigens, belegt mit kaum zurückgehaltenen Emotionen. Tief sog Lethia die Luft ein. Von all ihren Titeln war dieser ihr liebster. Schwinge der Schatten. Nachtkönigin. Der Tod höchstpersönlich. Rani.
Sie brachte nur ein kehliges Flüstern hervor. „Raja."

Ein Lächeln erblühte auf seinen Lippen. Seine Haltung glich ihrer wie ein Spiegel. Die Schultern zurückgereckt, die Knie gebeugt, die Füße in Schrittstellung. Zum Kampf bereit. Und bereit, sich in die Arme ihres Gegenübers zu stürzen. Er war ein Abbild ihrer Stärke. Ein Teil ihrer Seele ruhte in seinem Herzen. Er war die Klinge der Dunkelheit. Nachtkönig. Der Tod höchstpersönlich. Raja.

Sie schaffte einen vollständigen Satz. „Was tust du hier?"
„Ich habe auf dich gewartet."
Für einen Moment schloss die Augen. Sie liebte die Art, wie seine Zunge jede Silbe so sorgfältig formte.
„Philipp Fauve ist einer meiner vielen Namen."
Sie beide trugen viele Titel. Viele Namen. Wie sie wirklich hießen, wussten nur wenige. Archeron deutete auf das Buch. Erst jetzt spürte sie das Gewicht in ihren Händen. In seiner Gegenwart verschwamm der Raum um sie herum. „Lies' weiter."

Es fiel Lethia schwer, sich auf die Buchstaben zu konzentrieren. Archeron war wie ein Stern mit einem eigenen Gravitationsfeld. Seinem Sog konnte sie niemals widerstehen. Und doch... Der Ton der Geschichte änderte sich. Der nächste Absatz war lange Zeit nach dem vorherigen verfasst worden.

»Es war einmal ein König, der wurde von seiner Königin verlassen. Er tobte, er wütete, er weinte und schrie. Nichts und niemand konnte sie zurückbringen. Er versuchte, sie zu vergessen. Er versuchte, eine neue Königin zu finden. Er versuchte, ein anderer Mensch zu werden, einer, der keine Königin brauchte. Jeder Versuch war vergebens. Es war nicht nur die Königin, die er vermisste. Es war das Mädchen, das sie einst gewesen war. Dafür hasste er sich. Das Mädchen gab es nur gemeinsam mit dem Jungen. Und er wollte den Jungen, der er einst gewesen war, so gern begraben. So hilflos, so machtlos, wollte er nie wieder sein. Alles in ihm strebte danach, ein neuer Mensch zu werden. Kein König, kein Junge, kein Assassine. Ein einfacher Mann, der sich um sein Überleben keine Sorgen machen musste. Doch in all den Monaten kam er nur zu einer Erkenntnis. Der Junge lebte, solang das Mädchen lebte. Also suchte er sie.
Er rief die Krähen, die einst Seite an Seite mit ihm geflogen waren. Jeden Winkel der Welt durchstreiften sie, bis sie das Mädchen fanden. Und der Junge und das Mädchen waren vereint.«

Lethia strich über das Ende der Seite. Das Pergament schnitt in ihren Finger. Ein Blutstropfen vermischte sich mit ihren Tränen. Archeron tat zwei Schritte. Ihr Körper lehnte sich auf seinen zu. Er stand so dicht vor ihr, dass sie seine Wärme spüren konnte. Eine Hand strich die Tränen von ihren Wangen.
Lethia zitterte. Sie musste ihn sehen, ihn spüren, ihn atmen. Das Buch fiel aus ihrem Griff. Mit einer schnellen Bewegung fing er es auf. Seine freie Hand wanderte hinab zu ihrer Schulter. Er drehte sie herum, und dann zog er sie endlich an sich. Ihr Rücken presste sich an seine Vorderseite. Das Heben und Senken seines Brustkorbes gab den Rhythmus ihres Atems vor. Seine Arme schlichen sich um sie herum, wiegten sie in seiner Umarmung. Er hielt das Buch vor sie und blätterte die Seite um. Da stand noch ein einziger letzter Abschnitt. Der Schein des Mondlichts glänzte auf der feuchten Tinte. Er musste die Worte gerade erst geschrieben haben.

»Das Mädchen und den Jungen gab es nur gemeinsam. Sie lebten in einem Land, in dem Menschen wie sie den Krähen zum Fraß vorgeworfen wurden. Sie hätten niemals so lang leben dürfen. Der Schatten, den sie warfen, hatte die gesamte Stadt in Dunkelheit getaucht. Der Junge kannte nur einen Ausweg. Er tötete das Mädchen. Er wusste, dass die Krähen ihren Körper finden würden.«

Das letzte, was Lethia spürte, war der Dolch an ihren Rippen. Und Archerons Atem, der wie eine Liebkosung über ihre Wange strich.

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