Achte Challenge
In dieser Challenge geht es endlich um's Worldbuilding - der Teil des Romans, der mir am meisten Spaß macht. Also kann ich endlich sagen: Willkommen in Castrhys! Aber ich glaube, ich muss euch vorwarnen: Es wird vermutlich verwirrend. Ich empfehle euch, die Karte von Castrhys (zu finden in Challenge 2) nebenbei aufzuschlagen, dann wird es vielleicht übersichtlicher.
Spoiler-Alert: Hintergrund-Spoiler im letzten Teil der Challenge
»In Castrhys hatte ein hundertjähriger Krieg geherrscht, bevor König Ruaidhrí die Erde spaltete und Frieden für uns alle brachte.«
Der Major tippte mit der Spitze seines Bajonetts nachdrücklich gegen das vergilbte Stück Pergament, das irgendjemand mit einem Wurfpfeil an der morschen Holzwand befestigt hatte. Der Platz an der Rückwand einer der Schlafhütten, die der Major für seine Lehren ausgewählt hatte, bot kaum Schutz vor Wind und Wetter, sodass das alte Schriftstück in der beißenden Brise immer wieder zitterte und seinen Inhalt damit fast unkenntlich machte. Die Seiten des Pergaments waren eingerissen und an einer Stelle hatte sich ein hässlicher Tintenfleck gebildet, doch Major Narvik hätte das Bildnis seines Königs, der mit erhobenem Schwert über der Meeresspalte schwebte, auch im Kopf zeichnen können.
Der Major war ein hochgewachsener Mann, schlank und mit scharfen Zügen. Er ließ den Blick seine Hakennase hinunter auf die Horde Kinder fallen, die sich dicht an dicht zu seinen Füßen im Dreck drängte, und zog missmutig die Augenbrauen zusammen. Auf seiner Stirn bildeten sich die gefürchteten Furchen und seine blassen Lippen schürzten sich kaum merklich, doch er gab keinen Kommentar zu den dumpfen Mienen der Halbwüchsigen ab. Als er sich ruckartig zu seinem Pergament umdrehte, spiegelte sich das Licht eines seltenen Sonnenstrahls auf seinem schwarzen Haar, das er zu einem strengen Zopf zurückgebunden hatte, um die mangelnde Pflege wenigstens ansatzweise zu verbergen.
Luxusgüter wie Seife oder Öl waren auf den Eisinseln rar.
Auch Narviks Waffenrock wies Schlammflecken und abgewetzte Stellen auf, gehörte längst ausgebessert, und ließ nichts von seiner Erziehung bei Hofe erahnen. Major Narvik war tief gesunken und hatte den Tag, an dem sein Schiff die Segel gen Norden gesetzt hatte, mehr als einmal bereut.
Doch seine Stellung garantierte ihm noch immer eine warme Mahlzeit im Bauch und ein Dach über dem Kopf, Annehmlichkeiten, von der die Bande unter ihm nur träumen konnte. Die Kinder trugen Lumpen, deren ursprüngliche Farben nicht mehr zu erkennen waren, und klammerten sich aneinander, um der Willkür des Wetters auszuweichen. Die ständigen Winde waren sie gewohnt, aber der eisige Nieselregen, der im Spätsommer einsetzte und erst stoppte, wenn die Temperaturen den Gefrierpunkt unterschritten, war in jedem Jahr ein Umschwung, auf den sich ihre mageren Körper erst einstellen mussten. Große Augen unter Matten aus dunklem Haar verfolgten jede Bewegung des Majors, und sie zuckten unison zusammen, als er sich scharf räusperte und mit der Lehrstunde fortfuhr.
»Der Krieg hatte Land und Leute ausgezehrt und bereits zur Zeit von König Krrilos begonnen. Während der Belagerung von Mághold starb der verehrte König.« Narvik bemühte sich, die Kinder kein Anzeichen seines Schauderns sehen zu lassen. Er kannte seine Heimatstadt nur in ihrer vollen Pracht, mit in der Sonne blitzenden Dächern und blankgeputzten Pflasterstraßen. Die Vorstellung, ein Heer von Feinden könnte ihre gigantische Schönheit bedrohen... Damals hatte die Stadt am Ufer der Großen Stroms, Starkvat, in Flammen gestanden. Zwar hatte die schnittige Flussflotte des Königs die großen, aber behäbigen Kriegsschiffe aus dem Süden abwehren können, aber die Bogenschützen hatten Mághold trotzdem sehr zugesetzt. Ein Großteil des Hofes war über die geheimen Tunnel in die Bruderstadt, Disford, entkommen, die auf der anderen Seite des Starkvat lag. So war das Volk zwar geschockt, als Krrilos durch einen mächtigen Schlag des Belagerers fiel, doch der Fortbestand des Reiches war durch seinen geflohenen Sohn gesichert.
Mit einem Seufzen riss Narvik sich aus den Gedanken um die längst geschlagene Schlacht. Seine Mutter hatte ihn immer gescholten, dass er mit einem Fuß in der Vergangenheit lebte. Die Götter mochten sie behüten.
»König Krrilos hinterließ seinem Sohn also ein Schwert anstelle des Zepters. Im Hundertjährigen Krieg kämpften drei Generationen gegen das gegnerische Heer, doch man munkelt noch immer, der Südkönig sei in all den Jahren ein und derselbe Mann gewesen. Es halten sich hartnäckige Vermutungen, dass sich der Usurpator durch lang vergessene Zauber Lebenszeit erkaufte, die ihm nicht zustand.« Denn es hatte einst Magie in Castrhys gegeben, Magie, die nach der schrecklichen letzten Schlacht – von der heutzutage nur noch als »Die Spaltung« gesprochen wurde – vom Festland verschwand. Narvik hatte von Objekten gehört, in denen sie noch konserviert war: den Swind-Ringen, zum Beispiel, die nur von besonders starken Kriegern getragen werden konnten, und die ihre Kraft noch verstärkten. Doch der letzte wirkliche Zauber war von König Ruaidhrí I gewirkt worden, und es gab kein Kind in Castrhys, das nicht davon gehört hatte. Selbst die heruntergekommene Bande vor Narvik nicht. Aber es würde nicht schaden, sie daran zu erinnern.
»Die treuen Soldaten von Castrhys hatten bereits ein Jahrhundert gegen die Aufrührer aus dem Süden gekämpft, als Krrilos' Enkel, Ruaidhrí I, an die Macht kam. Wir hatten das feindliche Heer aus dem Herzen unseres geliebten Landes zurückdrängen können, in die Region, die wir heute als Fenharia kennen. Eingekeilt zwischen den Sümpfen im Osten und dem Reißzahngebirge im Westen, rieben sich die Armeen aneinander auf. Erst, als Kronprinz Ruaidhrí auf dem Schlachtfeld das Leben aus den Augen seines Vaters erlöschen sah und eine Kraft aus seinem Kummer schöpfte, die gewöhnliche Menschen wie wir nicht einmal erfassen können, wendete sich das Schicksal. Ruaidhrí rief einen gewaltigen Blitzschlag herbei, der Castrhys auseinanderbrach, gerade dort, wo der Usurpator sein Lager aufgeschlagen hatte. Der Mann, der sich selbst als Südkönig bezeichnete, starb Seite an Seite mit dem Großteil seiner Gefolgsleute. Der kümmerliche Rest seiner Männer war auf die Südinsel gebannt, wo das Land alsbald starb und eine Wüste begann, die Vegetation zu verschlingen. Ruaidhrís Krönung dagegen konnte in Frieden stattfinden – er legte sein Schwert nieder, um das Zepter zu empfangen.«
Major Narviks Lippen kräuselten sich zu einem seiner seltenen Lächeln. Er hatte die Analogie schon immer gemocht. Von all den Helden, deren Geschichten die Historiker Castrhys' festgehalten hatten, war König Ruaidhrí I der gewaltigste. Und das war der Grund, dass alle Könige seither dessen Namen trugen, bis hin zu Ruaidhrí XIII, Seiner Herrschenden Majestät.
»Wie ihr seht, Kinder, war die Südinsel nicht immer eine Insel«, fuhr Narvik seine Geschichtsstunde fort, und ließ jetzt seinen strengen Blick über die Meute schweifen, »Die klügsten Köpfe von Castrhys«, und damit meinte der Major sich selbst, »vermuten, es hätte einmal nur eine einzige Landmasse gegeben. Doch nur die Götter wissen, wie sich die Felsen- und Eisinseln vom Festland getrennt haben.«
Narvik hatte nur ein einziges Mal gewagt, ein Schiff durch die unruhigen Gewässer im Westen zu nehmen. Der Meereskanal, der die Große Felseninsel Thaelind vom Festland trennte, war zwar nicht sehr breit, aber von starken Strömungen ständig aufgewühlt. Das war zugleich Segen und Unglück – zwar machte das die Anfahrt auf Thaelind schwer, aber so wurden oft Kadaver von Fischen oder größeren Meerestieren auf die Insel gespült. Denn Thaelind war karg und unwirtlich, wenn auch nicht so heiß wie die Wüstenlandschaft auf der Südinsel. Major Narvik hatte sich immer über die spärliche Vegetation der Felseninseln gewundert, befand sich doch kaum hundert Seemeilen weiter westlich das Hügelland von Castrhys mit seinen wogenden Grasmeeren.
Narvik hatte fast sein gesamtes Leben in den Zwillingsstädten Mághold und Disford verbracht, die am Rand eines riesigen Waldgebietes lagen. Irgendwo in den Tiefen dieses Waldes befand sich die Quelle des Starkvat, doch Bäume und Unterholz waren so dicht miteinander verflochten, dass bisher niemand sie entdeckt hatte. Doch auch zu den Einsinseln war der Major einmal gefahren. Aber anders als bei seiner Reise nach Thaelind war er von Zaarlos nicht wiedergekommen. Vielleicht hatte er noch Glück gehabt, trotz der eisigen Winde und des schlammigen Bodens. Denn von der Schwesterinsel, Ocrioll, war bisher kein Mann wiedergekehrt. Die meisten Schiffe scheiterten bereits an der Klingensee, die Ocrioll umgab. Zusätzlich zu den Strömungen, die auch die Felseninseln umgaben, lauerten hier Riffe und Eisberge, die nur darauf warteten, Schiffsrümpfe zu zerreißen. Und wer wusste schon, was unter den Schneewehen auf der Insel selbst lauerte.
Von der Kindermeute, die vor Narvik im Dreck hockte, war nur ein halbes Dutzend hier oben geboren worden. Sie waren die Einzigen, die sich wirklich als Kinder der Eisinseln bezeichnen konnten – die Bastarde von Zaarlos. Sie waren leicht zu erkennen unter den Kinderrekruten, ihre Blicke waren leerer und ihre Körper sehniger. Sie hatten gelernt, durch Major Narvik hindurchzusehen, seine Tiraden an ihren Ohren vorbeirauschen zu lassen wie das unaufhörliche Pfeifen des Nordwinds. Sie bemitleideten ihre Lebensbedingungen nicht und sie wimmerten auch nicht des Nachts, konnten nicht nach Müttern schreien, die sie niemals gekannt hatten. Die Lehrstunden waren für sie eine willkommene Pause, denn meist waren sie schwer beschäftigt damit, Wasser für die Soldaten durch das Lager zu schleppen, Rüstungen in Stand zu halten oder den Köchen zur Hand zu gehen. Ihre Arbeit war knochenhart und unbezahlt, aber das Lager war ihr Zuhause. Sie waren mit Messern in den Händen aufgewachsen.
Die Älteren von ihnen hatten schneeweiße Haare oder knochenbleiche Haut, gebeutelt von Schneestürmen und Eiswinden. Doch den jüngeren Bastarden, denen, die von ihren Geschwistern behütet aufgewachsen waren, sah man ihren wahren Ursprung an. Der Bursche, dessen braune Augen aus einem ebenso dunklen Gesicht hervorblitzten, war eindeutig von Eltern von der Südinsel geboren worden. Einer anderer hatte die schmale Statur und die rötlich braunen Haare eines Jungen aus dem Hügelland im Nordwesten von Castrhys. Er war einer der wenigen, der die helle Haut des Majors teilte. Doch die klaren, ebenmäßigen Gesichtszüge, die für Menschen aus den Hauptstädten üblich war, hatte keiner von den Bastarden. Der Adel aus Mághold und Disford brüstete sich damit, bereits aus der Entfernung erkannt werden zu können. Und sie hatten recht damit. Nirgendwo sonst hatte Narvik derart reines Haar gesehen, in Dunkelrot oder Goldblond oder Blauschwarz. Und das klare Grün oder brennende Bernsteinfarben, in dem die Augen der Mitglieder der Königsfamilie schimmerten, war unvergleichlich. Es wäre ein Skandal gewesen, hätte einer der Bastarde diese Züge aufgewiesen. Doch die meisten von ihnen hatten schlicht die lehmfarbene Haut und die dunklen Augen eines Kindes aus Fenharia. Fast alle Bastarde hatten schwarze Haare, die ihnen unordentlich in die Stirn fielen. Und bedachte man die Geschichte der Provinz im Süden des Festlandes, war das keine Überraschung für Narvik. Mit etwas Mühe zwang er seine Aufmerksamkeit zu seiner ursprünglichen Aufgabe zurück – sein Schweigen dauerte bereits viel zu lang an. Nichts machte er so gern, wie seinen eigenen Gedanken beim Wandern zuzuhören, sein kluger Kopf war ein Wunder für sich. Aber auch wenn die Jungspunde hier hoffnungslos verdreckt waren, so war er doch dafür zuständig, ihnen wenigstens ein Mindestmaß an Bildung zukommen zu lassen. Und das Bedeutete, ihnen immer und immer wieder von den großen Taten ihrer Könige zu erzählen, bis der nötige Respekt in ihre Knochen überging. Entschlossen holte er vor den ängstlichen Augen der Halbwüchsigen zur Zeit Ruaidhrìs IX aus.
»Über die Jahre hinweg versuchten Aufrührer immer wieder, gegen Ruaidhrís Herrschaft zu kämpfen. Über dem Süden von Castrhys hängt noch immer eine Spur der Zauber des Südkönigs. Die Rebellen stammten fast ausschließlich von den Gebieten rund um die Meerspalte. Als Ruaidhrí IX regierte, schlossen sich einige der Stämme vom Süden des Festlandes zusammen, um gegen die dortigen Lebensbedingungen zu protestieren. Sie lehnten sich gegen die Aufgaben auf, die ihnen Iarest, die Muttergöttin selbst, gegeben hatte – im empfindlichen Gefüge des Reiches fällt es dem Süden zu, Felder zu bestellen und Nahrung zu beschaffen, während die Soldaten aus dem Herzen des Festlandes für den Schutz unseres Volkes sorgen.«
Der Major ließ seinen strengen Blick seine Nase hinunter auf die Kinder wandern. Einige von ihnen starrten ihn an und wagten nicht, zu blinzeln. Als Narvik sein Bajonett nachdrücklich auf den Boden stieß, zuckten sie zusammen – und seine Lippen kräuselten sich genüsslich. Er hatte Erfolg bei der Erziehung dieser Lagerratten. »Führt ein Stamm die Aufgabe nicht aus, die ihm in Castrhys zuteil wird, schadet es dem gesamten Volk. Ein jeder hat seine Plichten, und werden sie nicht erfüllt, bedeutet das unweigerlich eine böse Absicht gegenüber unserer geliebten Heimat. Der Protest der Südlinge war nicht rechtens, und ihre Herangehensweise hinterhältig: sie griffen nicht zu Waffen, sondern hetzten mit Worten gegen den König auf, gewaltfrei, aber penetrant. Die Aufrührer gewannen scheinbar unaufhaltsam an Anzahl. Doch die Lösung Ihrer Majestät war noch klüger – er sprach ihnen eine Provinz unter eigener Regierung zu, nur Abgaben sollten an ihn gegeben werden. Dieses Zugeständnis Ruaidhrís IX war ebenso gütig wie gerissen: Er erstickte die Proteste mit dem Versprechen von Unabhängigkeit, stellte aber zeitgleich sicher, dass die Aufrührer ihre Lektion lernten und das Gleichgewicht von Castrhys erneut gesichert war. Denn wo das unerklimmbare Reißzahngebirge in der Provinz Fenharia aufhört, da beginnen die Sumpflande. Die Aufständischen sprachen dem König Steuern und Abgaben zu, im Unwissen darüber, dass ihr Gebiet eines der unwirtlichsten in ganz Castrhys sein sollte. Heutzutage besteht ein Großteil der niedrigsten Arbeiter des Königs aus Zwangseingezogenen aus Fenharia.« Major Narvik stellte sicher, dass ein Hauch Genugtuung auf seinem Gesicht erschien. Die Jungspunde sollten begreifen, was es hieß, sich gegen den König auszusprechen. »Das Leiden der Fenharianer ist notwendig, um die Sicherheit unseres Volkes zu gewähren. Mögliche Aufrührer sollen in den Süden blicken und gewarnt sein, Castrhys nicht anzugreifen. Auf den, der diese Warnung ignoriert, wird der Zorn der Götter herabkommen.«
Narvik bemühte sich, jedem der Kinder nachdrücklich in die Augen zu blicken. Ein Augenpaar begegnete ihm mit einem wilden Funkeln, unerschrocken und wenig beeindruckt. Die Herkunft des Bastard-Mädchens lag eindeutig ebenfalls in Fenharia, doch ihre Augen hatten ein ungewöhnliches Graugrün. Die Bastarde von Zaarlos glaubten ganz eindeutig nicht an die Götter. Doch Major Narvik kannte alle Gebete und Loblieder, denn er fürchtete sie allesamt. Und er wusste, dass sie wahrlich existierten.
Thulai fürchtete er am meisten, den Unberechenbaren, den ältesten der Götter, der der Welt mit seinem eisigen Atem Leben eingehaucht hatte. Er war der Gott von Norden und Winter und Luft. Seine Stürme waren gefürchtet; Kinder zitterten in ihren Betten, wenn sie das Grollen seiner Stime in der Ferne vernahmen. Sandte er seine Blitze durch den Himmel, wussten die Völker von Castrhys, dass sie seinen Zorn geweckt hatten. Den scharfen Augen der Späher des Thulai, Adlern und Falken und Bussarden, entging nichts. Wurde dem Weißen Gott geopfert, durfte das Tier nicht aus dem Reich der Lüfte stammen.
Doch während Thulai geopfert wurde, um ihn zu besänftigen, so spendete man der Muttergöttin Iarest, um ihr zu huldigen. Sie war die Wächterin, die all das Leben behütete, das Thulai gespendet hatte. Aus ihrem Schoß wuchsen Früchte und Getreide, und sie war die Schutzgöttin eines jeden Tieres, das auf ihrem nahrhaften Boden wandelte. Sie war die Göttin des Westens und des Frühlings und der Erde. Mütter beteten zu ihr, sie möge eine schützende Hand über ihre Kinder halten, und Väter flehten um genug Ernte, um ihre Familien zu ernähren.
Iarests sagenumwobene Schwester war Austre, die Gesichtslose. Wenig war über sie bekannt, und noch weniger über die Tiefen des Ozeans, in denen ihr Palast lag. Denn Austre herrschte über ihre eigene Welt unter der Wasseroberfläche. Sie war unabhängig von den anderen Göttern, denn ihre Wesen brauchten nicht Thulais Luft und auch nicht Iarests Saat. Der Legende nach konnte sie durch die Inseln in ihrem Herrschaftsgebiet, dem Osten, mit den anderen Gottheiten in Kontakt treten. Doch als in Zeiten, an die kein Lebewesen sich erinnerte, der Große Krieg der Götter ausbrach, spülte sie diese Landmassen in einer Sintflut hinfort. In ihrem Zorn hätte sie auch alle anderen Länder vernichtet, doch Iarest sang ihre Schwester in den Schlaf. Türmen sich die Wellen gewaltig hoch auf, dann wisse: Austre träumt, und ihr Bewusstsein drängt sich an die Oberfläche.
Die Legende berichtete weiter, der Grund für Austres Zorn läge im Gott des Südens und Sommers und Feuers, der einst ihr Liebhaber gewesen war. K'avak war der einzige Gott, dem nicht gehuldigt werden durfte, so befahlen es die alten Schriften. Sein Name durfte nicht erwähnt werden, und in Sagen war von ihm nur vom Roten Grimm die Rede. Denn weder gab er Leben noch erhielt er es – K'avak zerstörte. Er war der Bringer von Krankheit und Tod, und ihm unterstand kein lebendes Wesen. Seine Dämonen und Untoten hatten kein Platz auf Castrhys, sie hausten in Gruben und Spalten, die von Licht niemals erreicht wurden. Iarest hatte ihm und seinen Dämonen den Krieg erklärt, weil er das Leben nahm, das sie so hingebungsvoll zu erhalten versuchte. Und Thulai, der zwar in seinem Zorn oft Schaden anrichtete, stellte sich auf Iarests Seite – war er doch derjenige, der das Leben erst erschaffen hatte. Nur Austre, die nach Gleichgewicht suchte, wählte keine Front in diesem Krieg. Ihr Zorn richtete sich gegen Thulai und Iarest und K'avak, denn sie waren dazu bestimmt, Seite an Seite zu regieren, nicht, sich gegenseitig zu bekämpfen.
So war es gekommen, dass Major Narvik und Seinesgleichen fast ausschließlich Thulai und Iarest anbeteten. Doch auch wenn der Major sich für einen der klügsten Köpfe des Landes hielt, so gab es vieles, was er nicht wusste. Denn K'avak war keinesfalls aus Castrhys verschwunden, im Gegenteil – er war das Fundament, aus dem die Länder emporwuchsen. Tief, tief im Untergrund zogen sich feurige Bahnen wie Lebensadern durch Castrhys. K'avak war das pochende Herz des Landes, ohne das es kein Leben geben konnte. Den Krieg der Götter hatte es nie gegeben – er war eine menschengemachte Sage, nichts als Seemansgarn und ein verzweifelter Versuch, Ereignisse zu erklären, die jenseits des Begreifens der Menschen lagen. K'avak war gleichberechtigt zu den übrigen Göttern, und es kümmerte ihn nicht, dass niemand von seinem Geheimnis wusste.
Es gab nur einige wenige Menschen, die von K'avaks Blut im Inneren von Castrhys ahnten. Die Rebellen, die das Höhlensystem auf der Eisinsel Ocrioll ausgebaut hatten und tief im Untergrund lebten, hatten einige der Feueradern zu Gesicht bekommen. Außerdem hatten sie entdeckt, dass es im Tunnelsystem wärmer war, als das eisige Klima an der Oberfläche versprach. K'avaks Blut ermöglichte es ihnen, ungesehen von den Männern des Königs zu trainieren und die Befreiung Castrhys' zu planen.
K'avak war auch der Grund, dass die einst zusammenhängende Landmasse auseinandergebrochen war. Dort, wo seine Magmaströme sich nach oben schraubten, höher und höher, bis sie Iarests Erde berührten, hatten sich Vulkane gebildet. Im Zeitalter der Menschen waren sie längst vergessen, und die meisten von ihnen waren verglüht, doch ein einziges Mal war der mächtigste von ihnen – der größte Berg des Reißzahngebirges – ausgebrochen. Jahrelange Kämpfe an seinem Fuße hatten die Lava aufgerührt. Die gewaltige Explosion hatte die Erde aufgerissen und das Land gespalten, an einer Stelle, an der die Ströme K'avaks tief im Untergrund ohnehin auseinanderliefen und die Erdkruste dehnten. Ähnliches war bereits in grauer Vorzeit mit den Felsen- und Eisinseln geschehen. Doch die Menschen weigerten sich, K'avaks Präsenz anzuerkennen. Einer von ihnen wagte es, zu behaupten, dieses Ereignis wäre sein Tun – das Tun König Ruaidhrís – gewesen. Aber ein Schlag von derartiger Macht konnte nur von einem Gott kommen. Und so geschah es, dass die Menschen einen fünften Gott erhoben, einen, der über Castrhys selbst und seine Völker herrschte. Thulai und K'avak, Iarest, Austre, und Ruaidhrí – die fünf Götter von Castrhys. Einer von ihnen durfte nicht mehr als Gott angesprochen werden, doch es war ein anderer, der in Wahrheit weniger war als ein Gott. Weniger als ein Mensch sogar.
Und eines Tages würden die Götter sich rächen. Einst hatten sie den Menschen gewährt, Magie zu wirken und einen Abglanz ihrer göttlichen Macht zu spüren. Doch als ein Usurpator den Thron von Castrhys bestieg, hatten sie das Land vom Zufluss der Magie abgeriegelt. Dies war eines der vielen Dinge, die Major Narvik nicht wusste: Im Hundertjährigen Krieg war nicht Krrilos, sondern der Südkönig der wahre Herrscher über Castrhys gewesen. Krrilos, mit einer Überzeugungskraft gesegnet, die ebenso groß gewesen war wie sein Machthunger, war ein einfacher Diplomat gewesen. Doch er hatte ein Heer aufgestellt, das Seinesgleichen suchte, und in der Belagerung von Mághold die Hauptstadt eingenommen. Schritt für Schritt hatte er die treuen Männer des wahren Königs aus Castrhys vertrieben und auf die Südinsel gebannt. Doch die Geschichte wird von den Siegern geschrieben – kaum jemand wusste heutzutage noch, dass nicht Ruaidhrí XIII der wahre König war.
Ruaidhrí hatte seine Fühler auch auf die Südinsel ausgestreckt. Einst hatte das Volk von Ren Lhar, die Nachkommen der Verlierer des Hundertjährigen Krieges, die Insel dominiert. Sie hatten Hafenstädte an den Küsten erbaut und an den Flussläufen und Oasen waren Siedlungen erblüht. Aber bald schickte der damalige König, Ruaidhrí IV, seine eigenen Männer in den Süden. Zwei Lager waren entstanden – Sympathisanten des neuen Königs und Getreue des alten. Mit den Soldaten Ruaidhrís im Rücken gewannen die Sympathisanten an Land und Macht und gründeten ihren eigenen Staat, der die Vorherrschaft über die Südinsel übernahm: Dess Noydor. Das Volk von Ren Lhar kämpfte seit jeher um sein Überleben, doch da sie die letzten waren, die sich an den wahren König erinnerten, klammerten sie sich mit Verbissenheit an das Leben – trotz der schrecklichen Tatsache, dass die Soldaten von Dess Noydor sie von fast allen Wasserquellen abgeriegelt hatten.
So waren all die Gebiete in Castrhys entstanden: Ocrioll und Zaarlos, die Eisinseln; Thaelind und die unbewohnten kleineren Felseninseln; Fenharia auf dem Festland und Dess Noydor und Ren Lhar auf der Südinsel. So unterschiedlich sie auch sind, sie alle haben eine Gemeinsamkeit: sie leiden unter der Herrschaft des Niederen, eines Menschen mit verkümmertem Charakter, der sich selbst als Gott bezeichnet.
Doch Thulai und Iarest und Austre und K'avak haben Castrhys noch nicht aufgegeben. Ihre Macht ist nicht gänzlich aus der Reichweite der Menschen verschwunden, denn in vier Objekten ist die Magie noch gespeichert. Und eines Tages wird es Menschen geben, in denen ein Funke der Göttlichkeit pocht, und die diese Objekte zusammenführen und Castrhys befreien werden.
Vier sind es, die Zauber weben.
Vier, die gegen den Roten stehen.
Vier sind vorhergesehen,
Vier werden leben.
Ein Ring der Toten,
Ein Ring der Lebenden.
Ein Ring der Wachenden,
Ein Ring der Träumenden.
Wehe dem, der sie trägt.
~3600 Worte
Ja, ich habe mich in dieser Challenge endlich mal darangesetzt, meine Götter auszuarbeiten. Ich habe versucht, den Übergang zwischen Narviks Sicht und dem Runterrasseln von Fakten über die Hintergrundgeschichte so sanft wie möglich zu machen, aber ich fürchte, anders kann ich die Götter und die Wahrheit über den Hundertjährigen Krieg nicht erklären. Zumindest nicht mit einem Wortlimit. Es kann gut sein, dass ich vergessen habe, einen Punkt zu erklären, also weist mich gerne auf Löcher hin und fragt nach! Das würde mir sehr helfen.
Und was die Prophezeiung ganz am Ende betrifft: Ich habe viel zu lang vor mir hergeschoben, sie zu schreiben, denn Prophezeiungen sind schwerer in Worte zu fassen, als ich dachte. Also würde mich ein Feedback gerade zu diesem Teil sehr freuen! (Übrigens weiß der Leser noch absolut nicht, was sie bedeutet, wenn sie zum ersten Mal vorkommt. Verwirrung ist also erwünscht.)
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