02 || THE WAY SHE SMILES

REVERIE

Während ich eine Stufe nach der anderen nach unten nehme, binde ich meine hellen Haare zu einem lockeren, unordentlichen Zopf zusammen.

In der Küche sitzt bereits Dad am Küchentisch. Eine aufgeschlagene Zeitung verdeckt sein Gesicht. Ich habe eigentlich sowieso nichts anderes erwartet.

»Guten Morgen«, mache ich mich bemerkbar, ehe ich zum Kühlschrank gehe und dessen Inhalt begutachte.

»Morgen«, erwidert die Zeitung.

Die Kuchenreste von vor zwei Tagen ziehen meine volle Aufmerksamkeit auf sich. Ob man das noch essen kann? Bestimmt.

Mit einem Stück Schokoladentorte und einer Gabel in den Händen begebe ich mich zu dem Tisch, an dem auch Dad sitzt, und nehme schließlich am anderen Ende des Tisches Platz.

Ich schiebe mir eine beladene Gabel in den Mund und blicke zu der Zeitung auf der anderen Seite des Tisches. Der Kuchen ist noch einwandfrei, und die Titelseite der Zeitung ziert das Bild einer glücklichen Familie.

Ein Bild von unserer Familie. Mom, Dad und ich.

Unsere Lächeln sind makellos, die Kleidung ist frisch gebügelt und knitterfrei, und die Haare liegen dort, wo sie liegen sollen. Es macht den Schein, als wären wir die perfekte Familie. Trotz Dads erfolgreicher Firma, in die er all seine Energie steckt, hat er noch genügend Zeit für seine wundervolle Familie.

Pure Perfektion. Das denkt man zumindest, wenn man uns von außen betrachtet. Von außen perfekt, wie fast alle Menschen hier.

Doch vieles wirkt nach außen hin anders, als es eigentlich ist.

Vielleicht will ich gar nicht so perfekt sein, wie es in der Zeitung den Eindruck macht. Aber muss ich es nicht sein, um hier glücklich zu sein? Ist es nicht das, was uns alle Türen in der Zukunft öffnet? Das ist es doch, was man uns schon als Kind beigebracht hat.

Perfektion bedeutet Erfolg, Macht und Zufriedenheit.

»Reverie, iss das nicht.« Mom tritt auf ihren hohen Schuhen in die Küche ein. »Du verdirbst dir noch den Magen damit.«

Ich verdrehe genervt die Augen, selbst wenn sie es eigentlich gut meint. Sie sieht es glücklicherweise nicht. »Der ist noch einwandfrei, Mom. Willst du etwas?« Ich halte ihr den Teller mit meiner Gabel und dem Kuchen entgegen.

Sie nimmt den Teller an sich und lässt den Kuchen dann einfach in den Müll fallen. Auch die letzten Reste aus dem Kühlschrank landen bei meinem bereits angegessenen Stück des Kuchens. Okay, das habe ich jetzt tatsächlich nicht erwartet.

»Hallo, ich wollte das noch essen«, rufe ich empört, als ich das traurige Geschehen mitansehen muss.

»Du wirst von deinen Essgewohnheiten noch krank«, bekomme ich die Antwort auf ihr Handeln.

Aber natürlich doch.

»Der Kuchen war doch noch gut«, sage ich. »Wir müssen doch nicht immer alles wegschmeißen, wenn du meinst, dass es abgelaufen ist.«

Mom geht zu der Kaffeemaschine. »Auf der Verpackung steht nicht umsonst ein Haltbarkeitsdatum.«

»Das heißt aber nicht, dass man es fünf Tage vorher entsorgen muss und dann neu kauft, um es dann wieder wegzuschmeißen. Das ist dann doch die totale Verschwendung, Mom.«

Ohne auf eine weitere Aussage, die eh überflüssig sein würde, stehe ich auf. Ich habe keine Lust auf eine weitere Diskussion, denn ich weiß, wie das ausgehen würde. Ich würde sehr sicher irgendwann einknicken, weil sie so auf mich einreden würde, dass ich mich schlecht fühle, überhaupt eine Diskussion gestartet zu haben. Ein vorzeitiger Abbruch ist also eine hervorragende Lösung, nicht wahr?

»Rede doch bitte nicht so mit deiner Mutter.« Die Zeitung liegt mittlerweile auf dem Tisch, und Dad blickt mich mit ernster Miene an.

»Ich gehe joggen«, informiere ich meine liebreizenden Eltern, um zumindest eine Weile vor ihnen flüchten zu können.

»Seit wann?« Dad zieht kritisch eine Augenbraue hoch. »Du gehst doch sonst nie joggen.«

»Du sagst doch immer, ich soll mir ein Beispiel an Theo nehmen und ein bisschen mehr wie er sein. Also gehe ich jetzt joggen.« Theodore ist das bessere Kind von uns beiden. Sagen Mom und Dad.

Die beiden wechseln einen Blick miteinander, den ich nicht ganz deuten kann, doch bevor einer der beiden etwas dazu sagen kann, verlasse ich eilig die Küche und anschließend unser Anwesen.

Ich muss schleunigst aus diesem Haus verschwinden. Zumindest für eine Stunde. Das reicht mir erst einmal. Für heute.

Meine Beine tragen mich über das Grundstück bis hin zu dem Tor, das mich noch von der Freiheit trennt. Sobald ich auf der anderen Seite des Tores bin, bin ich endlich frei. Es hat nur ein paar Schritte gebraucht, um mich besser zu fühlen. Augenblicklich fällt so auch die Anspannung von meinen Schultern, die sich beinahe unbemerkt in jede Faser meines Körpers geschlichen hat.

Um diese Uhrzeit sind die Straßen wie leergefegt. Mir begegnet nicht ein Mensch, was zu erwarten war. Erst in einer guten Stunde wird es auf den Straßen allmählich voller, wenn alle zur Arbeit fahren.

So habe ich jetzt aber wenigstens noch meine Ruhe und muss niemanden höflich grüßen, obwohl ich, wenn es nach mir gehen würde, ihnen nicht mal einen höflichen Blick zuwerfen würde.

Aber das schickt sich nicht für eine Lancaster.

Die Leute sind doch hier alle gleich. Was hier zählt, ist, wer hat das meiste Geld, die neuesten Sachen und die beste Familie.

Mit seinem Geld zu prahlen, gehört schließlich dazu, wenn man hier wohnt. Das ist nichts Neues. Mit dieser Tatsache wachsen wir hier alle auf.

Am Haus der Bensons bleibe ich schwer atmend stehen, um meinen Atem wieder etwas unter Kontrolle zu bringen. Dass ich die Ferien über nicht regelmäßig Sport gemacht habe, besser gar keinen Sport, macht sich jetzt mehr als bemerkbar. Eventuell sollte ich doch nochmal überlegen, ob ich nicht lieber öfter auf den Rat meiner besten Freundin Kara hören sollte. Sie hat mir mehr als einmal gesagt, dass ich es spätestens nach den Ferien bereuen würde. Was soll ich sagen, sie hatte wieder einmal recht.

Mein Blick wandert zu dem offenen Fenster am Haus und dann bleibe ich mit diesem irritiert an etwas anderem hängen.

Sie müssten eigentlich verreist sein. Eigentlich sind die Bensons noch bis Ende der Woche im Urlaub.

Und dennoch steht dort eine Leiter an der Hauswand.

Eine Leiter, die zu einem offenen Fenster führt, welches wiederum zum Inneren eines Hauses führt, das momentan eigentlich nicht bewohnt sein sollte.

In meinen Gedanken taucht eine offensichtliche Tatsache auf, an die sehr wahrscheinlich jeder sofort gedacht hätte. Vor meinen Augen könnte sich also ein Einbruch abspielen. Andererseits ist hier einiges eigenartig, was in dieser Nachbarschaft geschieht.

Gerade als ich näher herantreten will, tritt jemand an das Fenster, zu welchem die Leiter führt.

Ich kneife meine Augen konzentriert zusammen, um die Person besser sehen zu können. Ich kann zwar nur Umrisse erkennen, aber er ist definitiv kein Benson.

Dann liege ich mit meiner Vermutung wohl richtig.

»Kann ich weiterhelfen?«, ertönt plötzlich die dunkle Stimme des Unbekannten, sodass ich erschrocken zusammenzucke.

Als ich mich wieder gesammelt habe, lege ich die Hand als Sonnenschutz über die Augen und blicke ihm entgegen. »Hat das einen Grund, warum diese Leiter hier steht?«, rufe ich ihm zu. Wollen wir doch mal sehen, was er zu sagen hat.

»Natürlich.« Ist klar.

Ich lege den Kopf schief. »Und du tust da gerade auch nicht das, was ich denke?«

»Selbstverständlich nicht«, antwortet er direkt, doch stockt dann wieder kurz, ehe er fortfährt. »Was denkst du denn, was ich hier gerade mache, wenn ich fragen darf?«

»Ich könnte einfach die Polizei rufen.«

»Stimmt, könntest du. Du hast es aber noch nicht getan«, entgegnet er gelassen, und ich meine zu erkennen, dass sein Mund sich zu einem Grinsen verzieht. Der hat ja die Ruhe weg. »Wenn du mich jetzt entschuldigst, ich habe hier noch etwas zu erledigen.« Und dann verschwindet er einfach wieder vom Fenster und wendet sich wieder seinem Einbruch zu.

Er hat tatsächlich das Gespräch beendet.

Ich könnte die Polizei rufen, wenn ich wieder in meinem Zimmer bin, da sich dort noch mein Handy befindet.

Der Typ ist ziemlich dreist.

Die Bensons sind allerdings selbst nicht gerade ohne. Sie würden es vermutlich nicht einmal merken, dass dort jemand eingebrochen ist.

Aber vielleicht sollte ich erst herausfinden, ob ich ihn oder die Bensons weniger leiden kann.

Und es gibt auch nur einen bestimmten Weg, um herauszufinden, wie meine Entscheidung letztendlich ausfallen wird.

Ich werde dem Fremden jetzt wohl einen kleinen Besuch abstatten. 

ENDE DER LESEPROBE

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