01 || THE WAY SHE SMILES
REVERIE
Was würde wohl passieren, wenn der sündhaft teure Kronleuchter von der Decke fällt? Ob jemand vorher um die Ecke kommt und von ihm getroffen wird?
Er würde einfach fallen. Niemand könnte ihn aufhalten.
Laut lasse ich die Kaugummiblase zwischen meinen Lippen platzen. Der Aufprall wäre sicherlich zehnmal so laut.
Der arme Boden. Mein Vater würde das gewiss nicht gutheißen. Doch die wenigen Dollars würden ihm auch nicht das Genick brechen. Da bin ich mir sicher.
Und meine Mutter würde sich freuen, die Eingangshalle endlich neu gestalten zu können. Die Bank, auf der ich gerade sitze, könnte genauso gut ausgetauscht werden. Sie steht schon ziemlich lange dort. Also für die Verhältnisse des Haushaltes, denn sonst werden hier regelmäßig die Möbelstücke gegen andere ersetzt, wenn sie plötzlich meiner Mutter überhaupt nicht mehr gefallen. Das kam nicht selten vor.
Gelangweilt verschaffe ich mir einen genaueren Überblick über unsere Einrichtung, die meiner Meinung nach viel zu viel gekostet hat. Alles ist farblich perfekt aufeinander abgestimmt und der weiße, glänzende Marmorboden spiegelt das grelle Leuchten des Kronleuchters, der den Raum mit Licht erfüllt, wider.
Ich fand den Kronleuchter schon hässlich, als ich noch ein Kind war und lachend die breite Treppe auf und ab gerannt bin. An dieser Meinung hat sich bis heute nicht viel geändert. Ich weiß noch immer nicht wirklich, was meine Eltern je an diesem Teil gefunden haben. Und obwohl hier ständig Dinge ausgetauscht werden, blieb der Kronleuchter bisher leider immer dort oben hängen. Vielleicht hofft gerade deswegen ein kleiner Teil von mir, dass er einfach von der Decke fällt und ein neuer her muss. Eine Zeit lang habe ich regelmäßig darum gebettelt, dass dieses Monstrum abgehängt wird. Aber natürlich wird das eine Teil, das ich nicht leiden kann, nicht ersetzt. So war es doch schon immer und es wird sich so schnell nicht ändern.
»Reverie, wärst du so gut und holst du meine Tasche aus dem Auto?«, bittet Mutter mich, die aus dem Flur kommt und gleich, ohne auf eine Antwort zu warten, die linke Treppe hinaufgeht.
Der Kronleuchter bleibt hängen.
Er wackelt nicht einmal.
»Liebling?«, ertönt erneut ihre laute Stimme, als ich ihr nicht gleich antworte. Alles muss immer sofort geschehen, wenn sie etwas verlangt.
»Natürlich«, antworte ich seufzend, obwohl mir bewusst ist, dass niemand es hören wird, denn sie ist schon längst wieder außer Hörweite. Jetzt geht sie davon aus, dass ich ihrer Bitte, es ist eigentlich eher eine Forderung, nachgehe, obwohl sie auch beim zweiten Mal keine hörbare Antwort von mir erhalten hat.
Ich verlasse die, nach der Definition meiner Mom, alte Bank und begebe mich nach draußen ins Freie. Meine Absätze hinterlassen ein hallendes Geräusch auf dem hellen makellosen Boden.
Unsere Haustür hat nach dem Eintreten meiner Mutter niemand geschlossen, sodass sie noch sperrangelweit offen steht, und jeder x-Beliebige hätte hereinspazieren können. Das tat hier allerdings niemand. In dieser Gegend hat jeder genügend Geld, und sollte sich doch jemand in hierher verirren, der hier nicht hergehört, Zitat unseres Nachbarn, würde man dies gleich erkennen und der Nachbarschaftswache Bescheid geben.
Gott, manchmal hasse ich diese Menschen in dieser Gegend.
Von hier oben, oberhalb der Treppe zu unserem Haus, kann ich die gesamte Einfahrt überblicken, doch das Tor zur Freiheit befindet sich erst hinter den großen Bäumen. Das Auto parkt gleich am unteren Ende der Treppe. Meine Füße tragen mich zum Auto und für einen kurzen Moment überlege ich, ins Auto einzusteigen und auf der Stelle wegzufahren. Einfach die Realität und das Leben hier hinter mir lassen, doch als ich nach der Tasche greife und die kleine Packung Tabletten herausfällt, wird mir klar, dass das nichts bringen würde. Irgendwie finde ich immer den Weg hierhin zurück. Ich werde hier gebraucht. Wenn auch auf eine verdrehte Art und Weise.
Mom hat Migräne. Dafür sind die Tabletten, sagt sie. Ich glaube, sie hat Probleme. Mehr als nur Migräne. Doch über so etwas redet man in diesem Haus nicht. Sie ist über das Wochenende mit ihren Freundinnen verreist. Das tut sie manchmal, wenn sie wieder Zeit für sich braucht.
Dad muss arbeiten. Ihn sehe ich also ebenso am Wochenende kaum. Er hätte genauso gut mit ihr dort sein können. Einmal im Monat, an einem Wochenende, es ist immer das Gleiche.
Meine Eltern sind zu diesem Zeitpunkt nicht da und nicht erreichbar. Weder für jemand Fremden noch für mich. Abgeschottet von der restlichen Welt. Er in seinen Meetings und sie mit ihren Freundinnen in unserem Haus an der Küste. Definitiv haben sie ein Problem, vermutlich auch mehrere, aber laut zugeben will es keiner. Doch wissen tun wir es insgeheim alle.
Manchmal kommt Grandma mit einem ihrer neuen Freunde vorbei. Oder Tante May kommt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern. Drei Jungs. Der älteste fühlt sich mir überlegen, weil er beinahe ein ganzes Jahr älter ist als ich, und die beiden jüngeren können nichts anderes, außer das Haus völlig auf den Kopf zu stellen.
Mein Bruder kommt nur noch selten vorbei, seitdem er seine eigene Familie hat. Theodore ist und bleibt dennoch der Liebling des Hauses.
Ich trete mit der Tasche in unser Haus ein und sehe an die Decke, wobei ich die Tür hinter mir mit dem Rücken schließe. Habe ich erwähnt, dass ich diesen Kronleuchter abscheulich finde? Ja? Ich werde es trotzdem immer und immer wieder sagen, bis er nicht mehr an seinem Platz hängt.
»Reverie«, erklingt erneut die Stimme meiner Mutter. »Hast du meine Tabletten gesehen?« Sie lehnt an dem Geländer der oberen Etage, sodass ich den Kopf wiederholt etwas heben muss.
Ich halte ihre Tasche ein Stück in die Luft, damit sie einen Blick darauf werfen kann. »In deiner Tasche, Mom.«
»Du bist ein Engel, weißt du das? Kannst du mir die Tasche auf den Esszimmertisch legen?«
Ich nicke. Natürlich.
»Ach, Reverie«, werde ich aufgehalten zu gehen. »Soll ich dir ein Bad einlassen? Dir ist sicher kalt, wenn du ohne eine Jacke hinausgehst. Nicht, dass du noch krank wirst.«
Ich war keine zehn Minuten draußen. Dennoch nicke ich. »Das wäre nett.«
Erfreut lächelt Mom mir zu. Sie ist keine schlechte Mutter. Ständig macht sie sich Sorgen um mich, nur zwischendurch braucht sie halt eine kleine Auszeit. Wir sind auch nicht immer der gleichen Meinung – nein, das gewiss nicht –, aber ich bin ihr trotzdem wichtig. Manchmal kann sie es zeigen, manchmal nicht.
Jetzt verschwindet sie durch die gläserne Tür, die auf den Flur führt und zu einer Reihe von weiteren Räumen. Mein Zimmer befindet sich am Ende des Ganges, womit es über einen kleinen Balkon in Richtung des Gartens verfügt, auf dem ich meine Abende verbringe, wenn an Schlaf mal wieder nicht zu denken ist und die lauten Stimmen meiner Eltern bis in mein Zimmer dringen.
Gedankenverloren laufe ich durch den schmalen Flur zu dem Esszimmer und der Küche, wo man durch die breite Fensterfront die Sonne beobachten kann, wie sie langsam ihren Weg nach unten findet und es draußen allmählich immer dunkler wird.
Wieder ist ein Tag verstrichen und morgen beginnt alles von vorne.
Ich muss weg von hier. Irgendwann und keine Ahnung wohin. Nur weg von hier, das ist sicher.
Bloß weiß ich nicht wie.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top