43. Neue Realität


Noch bevor ich aufwachte, wusste ich, dass mir meine neue Realität nicht gefallen würde. Am liebsten wollte ich in meiner sicheren Dunkelheit bleiben und mich weigern, mich dem echten Leben zu stellen, aber es würde nichts vereinfachen. Es würde nichts daran ändern, was wirklich war.

Blinzelnd kam ich zu Bewusstsein und verfiel in Schock, als ich sah, dass ich in meinem Zimmer war. Mein Kinderzimmer. Trotz der vielen Jahre, die vergangen war, erkannte ich es sofort. Ich würde es immer wiedererkennen.

Die Gewissheit hier zu sein, im Wayne-Manor zu sein, sie traf mich mit voller Wucht, so dass ich beinahe sofort hysterisch zu Weinen anfing und mich auf dem Bett zusammenrollte, versuchte nicht zu zerfallen.

„Ella."

Ich sah aus verschleierter Sicht zu Bruce, der von meinem Weinen angelockt eingetreten war, und ich wusste nicht, ob ich ihn umarmen oder schlagen wollte. Ich war ganz überwältigt.

„Wieso?", schluchzte ich deswegen einfach nur und mit einem schweren Seufzen lief er zu mir, setzte sich auf mein Bett und zog mich in seine Arme.

„Du bist jetzt in Sicherheit."
„Ich will zurück."
„Ist schon gut. Du hast viel durchgemacht. Er wird dir niemals wieder wehtun, verstanden? Ich lasse nicht zu, dass er dir jemals wieder was antun kann."
Seine Worte drangen nicht wirklich zu mir durch. Er würde mir nie wieder etwas antun. Wieso? Ich verstand es nicht. Wo war der Joker? Ich wollte zu ihm. Ich musste zu ihm. Das alles hier war nicht richtig. Ich durfte nicht hier sein. Er würde so wütend werden.

„Kann ich irgendwie helfen?" Beim Ertönen von Alfreds Stimme, sah ich auf und musste nur noch stärker weinen. Da war er. Da war er wirklich. Das war alles zu viel. Ich streckte meine Arme nach dem Mann aus, der mir mehr Vater gewesen war als irgendwer sonst, und ohne zu zögern lief Alfred zu mir, setzte sich auf meine andere Seite und umarmte mich so fest wie ich es ihm gar nicht zugetraut hätte.

„Ella", sagte er und ich hörte aus seiner Stimme heraus, dass er auch weinen musste.

Das alles war zu emotional für mich. Mein Körper, mein Kopf, nichts von mir verkraftete das alles und so war es weniger verwunderlich, das sich nach vielen weiteren Tränen einfach in den Armen Alfreds eingeschlafen war.

Ich hatte in den letzten Tagen beim Joker oft daran gedacht, wie es wäre, zurück nach Hause zu gehen. Ich hatte nie geglaubt, wirklich jemals zurückzukommen. Vor allem nicht so.

Alfred, Nina und Bruce zu sehen, mein Haus zu sehen und mit den vielen Erinnerungen an ein anderes Leben konfrontiert zu werden, zerstörte mich. Getrennt vom Joker zu sein, zerstörte mich. Ich war ein Wrack. Ich konnte mit dieser drastischen Änderung nicht umgehen und verbrachte die nächsten paar Tage nur mit Weinen, Schlafen und mich von den anderen beruhigen zu lassen.

Ich hatte sie vermisst. So sehr, dass es regelrecht schmerzte sie nun zu sehen. Den Joker vermisste ich jedoch auch und das auf eine Weise, die es mir unmöglich machte, noch richtig zu funktionieren. Ich verstand nicht, was mit mir los war. Es war, als ob ein Damm an Gefühlen in mir durchgebrochen war. Da war zum einen das Trauma der Vergangenheit, verbunden mit dem Glück der Zeit, die ich mit dem Joker haben durfte, und nun das. Ich war ganz verwirrt.

Das war einer der Gründe, weshalb Bruce mir jemanden zum Reden besorgt hatte.

Dr. Campbell war höchstens 15 Jahre älter als ich und überaus freundlich. Sie konnte in meinen Augen jedoch noch so freundlich sein, wie sie wollte, es würde nichts daran ändern, dass ich nicht reden wollte. Ich wusste, was sie hören wollte. Alles. Von meiner Entführung, wie es mir in den letzten Jahren ergangen war bis hin zu meiner Beziehung zum Joker. Wie sollte ich darüber reden können? Ich wollte mit niemandem darüber reden. Das war privat und viele Erinnerungen waren so schrecklich, dass mir schlecht wurde, wenn ich mir nur vorstellte, das wieder in meinen Kopf zu lassen.

„Ich weiß über die Dinge zu reden ist schwer, aber wir sollten unsere gemeinsame Zeit nutzen, dir zu helfen. Du hast viel erlebt und du willst vieles nicht erneut durchleben müssen, was passiert, wenn du darüber sprichst. Ich werde dich deswegen zu nichts drängen, Ella", sagte Dr. Campbell einfühlsam.

Zusammen saßen wir in einer der vielen Zimmer des Anwesens, das dazu diente, Tee zu trinken und in der gemütlichen Sitzecke zu Plaudern. Damals wurde der Raum nie genutzt, was gut war. Es war wie neutraler Boden für mich. So konnte ich wenigstens ein bisschen in meinem Sessel entspannen.

„Wieso sind Sie dann hier? Ich will nicht reden, also gehen Sie!", sagte ich beinahe wie ein beleidigtes Kleinkind.

„Du fragst nach dem Joker, du willst zu diesem zurück und das ist etwas, das uns allen Sorgen bereitet. Deine Bindung zu ihm ist ungesund für dich und erst wenn du das einsiehst und akzeptieren kannst, kann der Heilungsprozess beginnen."

Heilungsprozess? Was für ein Unsinn. Vor dem Joker war ich zerbrochen und kaputt. Erst durch ihn konnte es mir besser gehen. Er hatte mir geholfen.

„Ich will ihn sehen." Besser ich finde ihn, anstatt dass er mich findet. Ich befürchte, er würde den Leuten, die ich liebe, schaden, wenn er mich befreien will. Dass er für mich kommt, war klar. Er würde mich niemals hier versauern lassen.

„Das geht nicht."

„Er wird kommen, um mich zu holen", sagte ich und sie lächelte mich leicht an.

„Er wird dir nicht mehr schaden können, Ella. Er ist sicher weggesperrt und-"
„WAS?", fragte ich und sprang auf. Panik machte sich in mir breit. Er war eingesperrt? Nein, das konnte nicht sein. Er konnte nicht im Gefängnis sein. Das war unmöglich. Den Joker konnte man nicht einsperren.

„Beruhige dich, Ella. Es ist alles gut. Du bist in Sicherheit."
„Ich muss ihm helfen", sagte ich hysterisch. Wie sollte ich ihn befreien? Wie sollte ich ihn aus dem Gefängnis ausbrechen? Ich wusste gar nicht, wo ich anfangen sollte.

„Was ist los?", fragte Alfred, der ins Zimmer platzte, alarmiert von meinem Ruf.

„Ist es wahr? Ist er eingesperrt?", fragte ich Alfred. Dieser Frau wollte ich nicht glauben müssen.

„Ella, es wird alles gut. Er wird so schnell nicht aus dem Gefängnis herauskommen und..." Mehr interessierte mich nicht. Es war die Wahrheit. Er war fort. Er würde nicht kommen, um mich zu holen, weil er es gar nicht könnte. Die letzten Tage hatte ich gewartet. Ich hatte gewartet, dass er kommen würde.

Ich sank zu Boden und weinte. Mal wieder.

Sofort war Alfred bei mir, der mich beruhigend bei sich hielt, während Dr. Campbell irgendwelche Dinge schwafelte darüber, dass ich sicher wäre. Wieso wiederholte das jeder? Ich war sicher gewesen. Beim Joker. Er hatte mich auf eine Weise beschützt, wie keiner es je geschafft hatte, und nun war er fort und ich kam mir so einsam vor.



Die nächste Woche war wie eine einzige Tortur. Jeden Tag, wenn ich aufwachte, war ich wie gelähmt. Ich verstand nicht, was mit mir los war. Dr. Campbell lieferte zahlreiche Erklärungen für meinen Zustand. Sie warf mit Fachbegriffen um sich von Stockholm-Syndrom bis hin zu Posttraumatischer Belastungsstörung. Das stimmte alles nicht. Ich war einfach nur... verwirrt. Ich war verwirrt und vermisste den Joker. Ich war so überwältigt, dass ich nicht mehr aß, nur gesüßten Tee trank, den Nina mir liebevoll zubereitete und den ich auch nur trank, damit ich nicht vor Übelkeit und Nahrungsmangel zusammenbrach. Wie ein Wrack lag ich in meinem Bett. Mich zu bewegen war zu schwer und ich wusste auch gar nicht, wo ich hingehen sollte, was ich machen sollte. Ich benahm mich albern. Ich hatte mir ja gewünscht, zurück zu dürfen, aber irgendwie hatte ich es mir wohl anders vorgestellt. Nicht so plötzlich, nicht so getrennt vom Joker, der sonst wo in einer Zelle festsaß. Was war mit allen anderen? Waren sie auch eingesperrt? Ich fühlte mich ahnungslos und hilflos und ich wusste gar nicht mehr, wer ich bin, wer ich sein soll und was nun geschehen wird.

„Wie geht es dir?", fragte Bruce mich fürsorglich, als er sich zu mir aufs Bett setzte. Er berührte dabei meine Stirn, als befürchtete er, mein Zustand würde mir nun Fieber bescheren.

„Ich weiß es nicht", flüsterte ich. „Ich weiß nicht mehr, wer ich bin, Bruce."
„Das ist vollkommen normal. Dr. Campbell meinte, es wird etwas dauern, bis du wieder zu dir findest. Deswegen ist es so wichtig, dass du dir helfen lässt. Wir alle können dir helfen."
„Ich will ihn sehen." Flehend sah ich meinen Bruder an. Ich musste den Joker sehen, seine Stimme hören. Ich wollte wissen, wie es ihm ging. Mir würde es besser damit gehen. Ich wusste, dass es helfen würde. Es würde mich beruhigen.

„Ella, er hat dich festgehalten!"
„Hat er nicht!"
„Du bist weinend in meine Arme geflohen, bei strömendem Regen in nichts als einem Schlafanzug. Du hast nicht einmal Schuhe getragen."
„Das war ein Missverständnis."
„Ein Missverständnis?", fragte Bruce zornig, bemühte sich gleich darauf jedoch ruhig zu werden. „Ich habe gesehen, was er tut. Er ist gefährlich. Er ist ein Mörder-"
„Ich habe auch getötet", unterbrach ich ihn leise.

„Alfred hat es mir erzählt, aber das war Notwehr, Ella. Du hattest Angst, du warst ein Kind und-"
„Danach. Ich habe auch danach getötet", stammelte ich. Ich hatte Angst, was er von mir denken könnte, wie sehr ihn mein Geständnis anwidern würde. Das tat es nicht. Er wirkte nur überrascht.

„Wieso?"
„Weil der Mann mir schaden wollte." Bei der Erinnerung an Roberto, den Auktionsraum, die Fesseln, kamen mir neue Tränen. Bruce hielt mich, während ich weinen musste.

„Ich werde dich zu ihm bringen", sagte er und ich sah ihn irritiert an.

„Was?"
„Zum Joker. Ich werde dich zu ihm bringen."
„Wirklich?" Ich konnte es kaum glauben.

„Nicht direkt. Ich will dir die Möglichkeit geben, selbst zu realisieren, was er ist und was er getan hat. Dr. Campbell wird uns begleiten und ich will, dass du weißt, dass das nicht einfach werden wird."
„Danke. Danke, danke, danke"; sagte ich. Mir war es egal, weswegen er sich sorgte. Ich war überglücklich. Ich war unglaublich dankbar und wollte am liebsten sofort los, um den Joker zu sehen.

Leider musste ich noch bis zum nächsten Tag warten und Bruces Bedingungen vorher erfüllen. Diese bestanden daraus, dass ich was esse, trinke und mit Dr. Campbell spreche, die mir wiederholt Ansagen machte, dass ich traumatisiert sei, dass ich vom Joker manipuliert wurde, dass er mich gefügig gemacht hatte, ich mir helfen lassen soll. Ich versuchte alles auszublenden. Wenn ich den Joker sehe, würde es schon gut werden.

Er saß im Arkham und nur weil Bruce so gute Kontakte besaß und wir auch alles andere als arm waren, wurde es uns überhaupt erlaubt hier einfach herzukommen.

Ganz nervös klebte ich regelrecht an Bruces Seite und sah mich in dem erschreckenden Gefängnis um, das aussah wie ein Albtraum. Und hier war er? Wie ertrug er das? Ich hörte Schreie im ganzen Gebäude, ständig ging irgendwo ein Alarm an und die Wachen hier waren schwer bewaffnet. Ich hatte Schauermärchen über das Arkham gehört und nun verstand ich auch, woher diese kamen. Dieses Gebäude war ein furchtbarer Ort. Dass er hier war, zerbrach mein Herz.

Wir wurden in einen Raum geführt, der wohl genutzt wurde, um durch eine gläserne Wand, die auf der anderen Seite einen Spiegel darstellte, ein Verhör zu belauschen. Natürlich würde man mich nicht direkt zu ihm lassen, aber immerhin würde ich ihn sehen können, auch wenn ich gern mit ihm gesprochen hätte, ihn berührt hätte.

„Er kann euch nicht sehen oder hören. Wir müssen ein kleines Verhör durchführen, bei dem ihr zuschauen könnt. Wenn es zu viel für die Lady wird, könnt ihr jederzeit gehen", sagte eine der Wachen, aber mir war es gleich, was er sagte. Mir würde das nicht zu viel werden. Ich musste ihn sehen, sonst vergehe ich.

„Also gut. Du musst versuchen diesen Moment wie den ersten Schritt zu deinem neuen Leben anzusehen", sagte Dr. Campbell und ich verdrehte die Augen von ihren dämlichen Worten. Ich wurde abgelenkt, als sich was in dem Raum hinter der Scheibe tat. Der Joker trat in Begleitung von sechs Wachen ein und sofort klebte ich an der Scheibe. Ihn zu sehen, erschütterte und beflügelte mich gleichzeitig. Er trug fürchterliche Sträflingskleidung, die lächerlich an ihm aussahen. Ohne dem vielen Schmuck, ohne die funkelnden Kleidungsstücke wirkte er so anders. Immer noch gefährlich und hinreißend, aber anders. Er wurde zu einer der Stühle geführt und an diesem festgeschnallt, als ob er eine gefährliche Bestie wäre. Jede Wache in dem Raum war vor Angst wie gelähmt, während er wie die Ruhe selbst wirkte. Er war unversehrt. Das war das Wichtigste. Keine Wunden, er wirkte stark und so standhaft wie immer. Gut.

„Ich hätte ein paar Fragen bezüglich der Entführung zu Ella Wayne", sagte die Wache, die wohl das meiste Sagen hatte und sich gegenüber vom Joker an den Tisch setzte.

„Ella", sagte der Joker, sprach meinen Namen aus, als ob es ein kostbares Wort wäre. Mein Herz hüpfte.

„Wieso hast du sie entführt? Zu welchem Sinn und Zweck, wenn du kein Lösegeld forderst? Was waren deine Absichten mit dem Mädchen?"
„Was kann ich von Geld schon wollen? Es war viel unterhaltender Ella Wayne, die Schwester des großen Bruce Wayne, bei mir zu haben und sie war gern bei mir."
„Also hat ihre Anwesenheit nur zu deinem perversen Vergnügen gedient?"
„Und ihrem eigenen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ihr der Aufenthalt bei mir nicht gefallen hätte. Sicher würde sie auch jetzt noch gern zu mir kommen. Sie ist ganz vernarrt in mich, müsst ihr wissen." Ich wurde rot von seinen Worten.
„Du hast ein Kind entführt und-"
„Sie war kein Kind und ich habe sie nicht entführt", stellte der Joker beinahe gereizt klar. „Als sie zu mir kam war sie 22. Vorher wurde sie von anderen entführt, ich habe sie gerettet und als kleine Gegenleistung für meine gnädige Tat dachte ich mir, dass ich ein Anrecht besitze, sie nach meinen Vorstellungen zu formen."
Zu formen? Was meinte er damit?

Der Mann war genauso verwirrt. „Formen?"
„Ich habe aus einem unschuldigen, reinen Mädchen mein perfektes Spielzeug gemacht. Sie hört auf mich, sie liebt mich, sie will mich. Würde ich ihr sagen, sie soll für mich töten, würde sie es. Würde ich ihr sagen, geh auf die Knie und nimm meinen Schw-"
„Ok, Ok, wir haben es kapiert", sagte die Wache, die einen kurzen nervösen Blick zu uns warf und sich wohl fragte, wie wir darauf reagieren.

Wie erstarrt stand ich da. Seine Worte waren... verletzend. Wie er mich betrachtete und über mich sprach, war verletzend. Aber was erwartete ich schon? So sah er mich eben. Wie eine Puppe, die ihm gehört. Gehörte. Ich war ja nicht bei ihm.

„Was soll ich sagen? Sie hat mich angebettelt, mich um sie zu kümmern. Ich habe ihr ein Leben geschenkt und sie hat mein Bett warmgehalten", sprach der Joker vergnügt weiter, darauf aus, die Wache zu reizen, und ich wusste gar nicht, was ich denken oder fühlen sollte. Selbst wenn er sie nur provozierte, war es schmerzhaft, ihn so reden zu hören. Als ob ihm alles egal gewesen wäre. Als ob alles immer noch nur ein Spiel war.

„Lass uns gehen", sagte Bruce, der meine Hand nahm und mich mit sich zog. Ich ließ ihn gewähren. Ich war zu perplex, um mich zu wehren.



Selbst zurück im Haus schwirrte mein Kopf noch von den Worten des Jokers und den Worten Dr. Campbells, die während der Fahrt weiter mit ihren Fachbegriffen um sich warf, die Worte des Jokers wiederholte, versuchte mir begreiflich zu machen, was er von mir hielt, wie er mich sah.

So stand ich nun auch in meinem Badezimmer, nackt, wo ich mich in dem großen Spiegel neben der Dusche musterte und entsetzt war. Ich glaubte mich das erste Mal richtig zu sehen. Mich richtig mit klarem Verstand wahrzunehmen. Ich versuchte mich an eine Version von mir zu erinnern, die es mal gegeben hatte. Eine, in der ich gesunde Rundungen besaß, in der ich glücklich war, unverletzt und mein Körper mir gehörte. Das war ich nicht mehr. Ich war eindeutig dünner geworden in der Anwesenheit des Jokers. Woran das lag, wusste ich nicht. Ich aß immerhin, nur vielleicht nicht so viel wie ich es sollte. Das war jedoch nicht so besorgniserregend, das wirklich schlimme war eher der Zustand meines Körpers, den ich vorher sehr gut übersehen konnte, den ich einfach nicht wahrhaben wollte. Ich war übersät mit blauen Flecken, die nach den paar Tagen getrennt vom Joker mittlerweile gelblich verfärbt waren. Meine Handgelenke, Oberschenkel, meine Hüfte, mein Po, meine Brüste und mein Hals waren wie ein buntes Kunstwerk von seinen festen Griffen, Fesseln und seinem harschen Umgang mit meinem Körper. Abgesehen davon waren da die Narben. Da gab es die zwei, die ich mir gewünscht hatte. Das Kreuz und der Vogel. Neben ihnen existierten so viele weitere. Von seinen Versuchen, mir die Kleidung vom Leib zu schneiden, von der Langeweile, die er hatte. An den unterschiedlichsten Stellen hatte er seinen Namen, den Buchstaben J oder einfach Smileys in meine Haut geritzt. Ich sah einfach nur zerschunden aus. Als mir klar wurde, was er mit mir gemacht hatte, als ich wirklich begriff, mit was für einer Freude er meinen Körper nach seinen Wünschen zerschnitten hatte, wurde mir schlecht. Ich rannte zum Klo und musste meinen sowieso ziemlich leeren Magen noch weiter ausleeren, in dem ich mich übergab. Ich schnappte angestrengt nach Luft, während Tränen über mein Gesicht kullerten und mich wie ein Häufchen Elend an dem Klo festklammerte, das alles nicht wahrhaben wollte. Mein Kopf platzte von den vielen Dingen, die ich verarbeiten musste. Den psychologischen Ratschlägen von meiner Ärztin, den Aussagen des Jokers, was ich an mir sah und fühlte und wie ich mich nicht mehr wiedererkennen konnte. Vor einigen Monaten war ich noch anders gewesen. Traumatisiert von Gregorio, aber ich war ganz anders gewesen. Mein Köper war heile gewesen. Er hatte mir alles genommen... nein, ich hatte ihm alles von mir geschenkt. Wirklich alles. Sogar mein Herz. Und was bedeutete ihm das? Vermutlich nichts. Wie hatte ich das nur mit mir machen lassen können?

Als ich fertig damit war, meinen Magen zu leeren, verkroch ich mich unter meinem Bett, wo ich wie eine Kugel lag und mein Leben noch einmal durchging. Ich war nie sonderlich glücklich gewesen in diesem goldenen Käfig, aber ich hatte alles gehabt, was ich wollte... abgesehen von einer richtigen Familie. Bruce war ja nie da gewesen und Alfred und Nina hatten mich zwar mit Liebe überschüttet, aber es hatte immer etwas gefehlt. Ich war immer sehr einsam gewesen.

Ich dachte an den Moment des Einbruchs zurück, wie ich den Joker gesehen hatte, wie er mein Leben selbst da schon zerrüttet hatte. Plötzlich war ich nicht mehr in Sicherheit gewesen. Plötzlich war ich umgeben vom Tod gewesen, ich hatte töten müssen und meine Seele verdorben. Dieser schwarze Fleck, den ich mir selbst auferlegt hatte, hatte mich in die Arme von Gregorio getrieben, wo ich mich selbst verloren hatte. Eingesperrt in einem neuen Käfig, nur dieses Mal ganz ohne die Liebe anderer. Ich hatte Fiona gehabt, ich hatte geglaubt auch Leute wie Demetri würden mich auf irgendeine Weise lieben, aber ich war nur wieder allein gewesen. Wenn ich so darüber nachdachte, war ich tatsächlich ein sehr leichtes Opfer für den Joker gewesen. Ich war ein verlorenes Mädchen, das nur die Freiheit wollte und geliebt werden wollte. Er hatte mich glauben lassen, ich sei frei und er hatte mir das Gefühl gegeben, er würde nichts auf der Welt mehr lieben und begehren als mich. Nun lag ich hier und ich wusste nicht mehr, woran ich glauben sollte. Ich wusste nicht, wie ich das alles jemals verarbeiten sollte und einfach weitermachen könnte. Wie sollte es denn weitergehen? Ich hatte keine Ziele und Träume. Da war nichts.

Als mir das klar wurde, fühlte ich mich erdrückt in meinem Zimmer. Ich kroch unter dem Bett hervor und rannte los. Ich wollte raus, nur der Garten reichte nicht. Ich öffnete also die Türe, hinter der sich die Leiter zum Dach befand. Ich war nur einmal dort oben gewesen, da war ich zehn oder elf Jahre alt gewesen. Alfred war so wütend gewesen, dass ich mich seitdem nie wieder dort hinauf gewagt hatte. Nun war es mir gleich. Das Dach des Anwesens war flach, so dass man problemlos auf diesem herumlaufen konnte. Dennoch war es gefährlich. Es besaß keine Abtrennung. Würde ich zum Rand gehen und das Gleichgewicht verlieren, wäre da nichts, das mich halten würde. Dennoch wollte ich hinauf. Ich wollte das Gefühl der Freiheit, ich wollte sehen können.

Als ich oben ins Freie trat, glaubte ich kurz atmen zu könne, freier atmen zu können. Ich sah über das ganze Grundstück des Anwesens, sah in der Ferne die Stadt. Im Gegensatz zu dem blühenden, grünen Stück Natur hier wirkte Gotham um uns herum so trostlos und grau und depressiv. Irgendwo dort außen war der Joker in seiner Zelle. Irgendwo dort außen war ich für viele Jahre eine Gefangene gewesen. Ich hatte beide Welten kennen gelernt. Die der Reichen in ihren edlen Häusern und unbeschwerten Leben. Und dann die Welt dort drüben in der Großstadt, wo es Tod und Leid gab. Drogen und das schnelle Geld. Wo Armut so eng mit den Gefahren verknüpft war.

Ich trat zum Rand des Dachs und breitete die Arme aus, als sei ich ein Vogel, der fliegen könnten. Ich wollte so frei sein wie die Narbe, die der Joker mir verpasst hatte. Ich wollte ein Vogel sein.

„Ella!" Ich sah verschreckt zu Alfred hinab. „Komm sofort da herunter! Was denkst du dir eigentlich? Weg vom Rand! Runter vom Dach!"

Er dachte, ich wollte springen. Er dachte, ich wollte sterben. Wenn ich so darüber nachdachte, wirkte der Tod für einen Moment verlockend. Ich falle und es wäre vorbei. Gut, ich könnte den Sturz von der Höhe auch überleben, mit vielen gebrochenen Knochen. Der Schmerz klang nur aber auch gleich wieder verlockend. Es erinnerte mich an den Schmerz, den der Joker mir zugefügt hatte, den ich zu sehr mit Lust verband. Und wieder fiel mir auf, was er mir angetan hatte. Ich verband Schmerz mit Lust. War das nicht krank?

Ich ignorierte Alfreds Worte, schloss die Augen und dachte einfach nur einen Schritt nach vorne machen zu müssen. Einfach loslassen zu müssen, aber da schlang sich ein starker Arm von hinten um mich und ich wurde vom Rand fortgezogen.

„Mach das nie wieder!", sagte Bruce, der mich zu sich drehte, zwang, ihn anzusehen. „Nie wieder! Verstanden?"

Etwas verloren sah ich ihn an, sah, wie viel Angst er um mich hatte, wie besorgt er um mich war.

„Es tut mir leid", schniefte ich und schmiegte mich an ihn. Vielleicht hatten sie alle ja recht. Ich musste mir helfen lassen. Ich brauchte die Hilfe von ihnen allen. Selbst von Dr. Campbell. Allein würde ich das nicht schaffen. Ich war so lange allein gewesen, und am Ende hatte es mich ruiniert.


Aloha :) Ich hoffe es hat euch gefallen. Ella muss sich ihrer neuen Freiheit stellen und wohl akzeptieren, dass ihre Beziehung zum Joker nicht unbedingt ganz so gesund war. Eure Meinung interessiert mich sehr xx


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