Kapitel 55: Geschwächt
Ich starrte an die Decke unseres Holzzeltes. Diese Vision... sie hatte mich verwirrt. Sehr verwirrt. Wer war Phyria? Woher kannte ich sie? Ich konnte mich an keinen einzigen Moment erinnern, in dem sie vorkam. Nicht einmal diese Vision, die ohne Zweifel eine Erinnerung war, konnte ich zuordnen. In meinem Kopf herrschte ein einziges Chaos.
Neben mir lag Féamo, und er atmete tief und gleichmäßig. Zum Glück war er nicht aufgewacht, denn ich wollte nicht über das reden, was ich gesehen hatte. Zu sehr brachte diese Vision mich aus dem Konzept.
Anscheinend war meine Mutter in mehr Sachen verwickelt gewesen, als ich geahnt hatte. Schon die Tatsache, dass sie Ranajea persönlich gekannt hatte, hatte mich nachdenklich gestimmt, aber das hier... ich verstand rein gar nichts mehr. Phyria, sie war äußerst mächtig und gefährlich, das hatte ich gespürt. Aber was hatte sie vor? Wer war Tian? Wer war diese Person, von der meine Mutter gesprochen hatte? Und was hatte meine Mutter mit Phyria zu tun?
Meine Gedanken kreisten immer wilder in meinem Kopf, bis ich die Augen schließen musste. Zittrig atmete ich tief ein und aus und versuchte, mich zu beruhigen. Was auch immer damals passiert war, ich konnte mich nicht daran erinnern. Das war Fakt. Aber vielleicht würden meine Visionen mir noch mehr offenbaren, auch wenn ich nicht beeinflussen konnte, was ich im Schlaf sah.
Ich rieb mir über die Augen. Es machte mich wahnsinnig, nicht zu wissen, was los war.
Ich drehte mich zur Seite und betrachtete Féamo. Ihn anzusehen lenkte mich ab.
Bevor ich genauer überlegen konnte, was ich gerade tat, streckte ich die Hand aus und berührte mit den Fingerspitzen sein Gesicht. Ich strich sanft über die Konturen seiner Oberlippe und in meinem Bauch breitete sich ein wohliges, flatterndes Gefühl aus.
Ich schob mein Gesicht näher an seins. Meine Visionen, meine Mutter, Phyria, in diesem Moment waren sie vergessen.
Mein Herz schien zu flattern, wie die Flügel eines Vogelküken.
Doch bevor ich irgendetwas tun konnte, das möglicherweise weder besonders fair ihm gegenüber, noch wirklich richtig im moralischen Sinne war, drehte ich mich abrupt um und stand auf.
Ich ging auf den Eingang des Holzzeltes zu und spähte nach draußen. Wie immer herrschte dämmriges Zwielicht und die Oberfläche des Teiches war so glatt, wie ein Spiegel.
Ich ließ mich auf den Boden fallen und wickelte den Stoff von meinem Bein ab. Die Wunden waren dick verkrustet und die Ränder waren immer noch rot von der Entzündung, aber ich war mir sicher, dass ich so weitergehen konnte.
Leise ging ich auf meinen Begleiter zu und setzte mich neben ihn. Bei dem Gedanken, was ich zuvor hatte tun wollen, wurde mein Gesicht heiß. Wie hatte ich nur daran denken können?
Vorsichtig stupste ich ihn an, aber er reagierte nicht. Er schlummerte wie ein Baby. Ich schüttelte mit dem Kopf und rüttelte an ihm. Verschlafen schreckte er auf und sah sich hektisch um, die Hand an der Tasche, in der er das schlanke Messer aufbewahrte.
„Alles gut", sagte ich beruhigend. „Ich wollte dich nur wecken, weil wir weitergehen können. Meinem Bein geht es besser."
Féamo nickte und gähnte. Seine schwarzen Haare standen ihm wild von Kopf ab und ich musste lächeln.
„Was ist?", fragte er und lachte.
„Deine Haare", antwortete ich und deutete auf seinen Kopf.
Er fuhr sich mit den Finger durch den schwarzen Schopf, bis er schließlich aufstand und mir die Hand reichte.
„Am besten gehen wir direkt los. Wir wollen ja keine Zeit verschwenden." Er zog mich auf die Füße und begann, meinen mittlerweile trockenen Rucksack wieder einzupacken.
Nachdem er fertig war, schulterte er ihn und wir traten aus dem Holzzelt hinaus. Auch wenn die Luft hier modrig roch, war sie nicht so abgestanden wie im Inneren unserer Holzunterkunft, und ich sog sie gierig ein. Irgendwie war es ein schönes Gefühl, diese frische Luft zu atmen.
Wir machten uns auf den Weg und ließen den Teich mit den ganzen Ungeheuern mit jedem Schritt weiter hinter uns. Ich war froh darüber, denn ich hatte mich in unmittelbarer Nähe zu diesen Viechern unterbewusst immer unwohl gefühlt. Dieses Gefühl wich immer mehr, so lange, bis der Teich aus unserem Sichtfeld verschwunden war.
Wie auch auf dem Rest des Weges, war der Boden matschig und schlammig und wir versanken mit den Schuhen in der nassen Pampe. Als wir an den umgestürzten Kalvabaum angelangt waren, blieben wir stehen und Féamo schnitt ein paar Streifen aus dem hellen Holz, die er während des Gehens in Stücke schnitt, damit wir den süßen Geschmack auskauen konnten.
Dafür, dass wir relativ geschwächt waren durch den Nahrungsmangel und meine Verletzung, kamen wir ziemlich gut voran. Der Weg war sehr unregelmäßig breit, mal war er so schmal, dass wir hintereinander laufen mussten, dann gab es Teile, wo gar kein Weg zu erkennen war und schließlich gab es auch die Stücke, wo der Weg so breit war, dass wir zu fünft bequem nebeneinander laufen könnten.
Der Gedanke an meine Freunde stimmte mich etwas traurig. Wo sie wohl gerade waren? Ging es ihnen gut? Konnten sie den Weg, den sie gewählt hatten, ohne Probleme meistern?
Wir blieben kurz stehen, um etwas Wasser aus den Kuhlen der Blätter am Wegesrand zu trinken, doch wir rasteten nicht lange, sondern gingen zügig weiter.
Mit der Zeit merkte ich, wie meine Kräfte rapide nachließen. Dass wir seit so langer Zeit nichts mehr zu Essen gefunden hatten, machte uns schwer zu schaffen. Ich konnte es Féamo ansehen, in der Art, wie sich tiefblaue Augenringe unter seine Augen gruben, wie seine Wangen eingefallen waren. Als ich ihn genauer betrachtete, fiel mir auf, wie dünn er geworden war. Und auch mir rutschte die Hose ständig über die Hüfte, weil nicht mal die kleinste einstellbare Größe an meinem dünn gewordenen Körper hielt.
Es war noch nicht ganz dunkel geworden, da mussten wir anhalten, weil wir nicht mehr weiterkonnten. In meinem Bauch krampfte sich alles zusammen und mir war schlecht.
Ohne viel zu sagen, packte ich die Decken aus, gab meinem stillen Begleiter eine davon, und dann legten wir uns eng beinander.
Beinahe sofort driftete ich in den Schlaf davon.
•••
Ich sah Mama. Sie umarmte lächelnd eine Frau, die noch jung wirkte und stark geschminkt war. Sali.
Sali kam auf mich zu und hockte sich vor mich, ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht.
„Na du? Wie geht es dir, Süße?"
Ich lachte. Ich mochte sie auf Anhieb.
Sali lachte ebenfalls und nahm mich auf die Arme.
Meine Mutter gesellte sich zu uns und lächelte. Doch dann wurde ihre Miene ernst.
„Was denkst du über über das Mädchen?", fragte sie leise.
„Du meinst Phyria?"
„Nicht so laut", zischte Mama und sah sich um. „Aber ja. Ich meine Phyria."
„Was soll schon mit ihr sein? Sie ist ein Mädchen von weit her."
„Ich traue ihr nicht. Sie hat etwas... an sich."
„Du traust den wenigstens Leuten", lachte Sali, und zwinkerte mir zu.
„Dieses Mal ist es anders. Ich habe... sie gesehen."
„Mit deiner Gabe?" Nun wirkte auch Sali ernst und sie musterte meine Mutter aufmerksam.
„Ja."
„Das ist nicht gut."
„Habe ich doch gesagt." Mama versucht, genervt zu klingen, aber ihre Stimme ist voller Erleichterung. „Wir müssen sie im Auge behalten."
Sali nickte langsam.
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