Kapitel 54: Phyria

Ich schlief relativ lange und als ich aufwachte, war Féamo verschwunden. Ich setzte mich auf und rieb mir den Schlaf aus den Augen. Nachdem ich mir sicher war, dass ich wieder richtig wach war, sah ich nach meinem Bein. Es war unverändert, aber was hatte ich erwartet? So viel würde sich in den nächsten Stunden nicht tun.

Der Hunger meldet sich in einem dumpfen Schmerz zurück und ich krümme mich zusammen. Wie ich es hasste, dieses nagende Gefühl.

Langsam, damit ich mein Bein so wenig wie möglich belastete, stand ich auf und humpelte zu dem Eingang unseres Holzzeltes. Draußen war es schummerig und der Modergeruch war hier sogar noch stärker. Ich rümpfte die Nase, zog den Kopf aber nicht zurück. Wo war Féamo? Vermutlich wollte er nach etwas zu essen suchen.

Mein Blick glitt über den Teich. Mittlerweile war die Oberfläche wieder spiegelglatt und nichts deutete darauf hin, dass dort diese blutrünstigen Monster hausten. Als Bilder von den roten Augen der Bestien in meinem Kopf auftauchten, erschauderte ich.

Schnell kehrte ich nun doch zurück in das sichere Innere unserer Unterkunft und ließ mich schwerfällig auf den Boden neben dem Inhalt meines Rucksacks nieder, der begonnen hatte, zu trocknen.

Meine Finger sortierten die ganzen Streichhölzer, und legten sie in eine ordentliche Reihe. Hoffentlich würden sie danach noch funktionieren.

Grade als ich mit meiner Arbeit fertig geworden war, kam Féamo zurück. In der einen Hand hielt er sein schlankes Messer, in der anderen einige Streifen Holz. Skeptisch musterte ich ihn. Er steckte das Messer weg und setzte mich neben mich in den Schneidersitz, die Holzstreifen legte er vor mich hin.

„Was ist das?", fragte ich und nahm einen der Streifen in die Hand. Prüfend strichen meine Fingerspitzen über die feinen Fasern.

„Das ist Kalvaholz. Ich bin ein bisschen weiter weggegangen und habe einen umgestürzten Kalvabaum gefunden. Die Fasern schmecken süßlich, zwar kann man sie nicht essen, weil sie zu zäh sind, aber man kann darauf herum kauen. Das ist besser, als nichts."

Fasziniert betrachtete ich das Holz genauer, dessen helle Fasern sich weich anfühlten.

Féamo nahm einen der dünnen Streifen und säbelte ein kleines Stück ab, das er mir reichte. Ermutigend nickte er, als ich zögerte, doch dann überwand ich mich und steckte es mir in den Mund.

Zaghaft begann ich, an dem Stück Holz zu kauen und tatsächlich schmeckte es süß. Ein verwunderter Ausdruck huschte über mein Gesicht und Féamo lächelte.

Er griff nach einem Streifen Holz und zerteilte ihn in mehrere Stücke, wobei er sich eins nahm und es sich ebenfalls in den Mund steckte.

Nach einer Weile begann das Holz fad zu schmecken und ich spuckte es aus. Ich nahm mir ein weiteres Stückchen. Irgendwie machte das ein bisschen süchtig.

Ich wusste nicht, wie lange wir so dasaßen, und einfach nichts taten, außer an dem süßen Holz zu kauen. Es vertrieb den Hunger zwar nicht, aber es machte ihn erträglicher.

Zwischendurch ging Féamo noch einmal nach draußen, um mehr von dem Holz und etwas Wasser zu holen. Währenddessen sah ich mir meine Wunden noch einmal an und stellte zufrieden fest, dass sie trocken waren und langsam begannen, Schorf zu bilden.

An diesem Abend legten wir uns früh hin, um zu schlafen. Die Decken waren bereits vollständig getrocknet und wir wickelten uns darin ein, obwohl das die Kälte nicht ganz abzuhalten vermochte. Wortlos rutschte Féamo wieder näher zu mir heran, bis ich die angenehme Wärme seines Körpers spüren konnte.

Es dauerte nicht sehr lange und ich war eingeschlafen.

•••

Ich blickte einer jungen Frau ins Gesicht. Sie hatte einen kleinen, vollen Mund und leicht mandelförmige, rauchig blaue Augen, die mich ansahen. Die schwarzen Haare hatte sie an ihrem Hinterkopf zusammengedreht und sie wurden von zwei filigranen Holzstäben gehalten, die mit blau glitzernden Edelsteinen besetzt waren.

Fasziniert betrachtete ich die Frau. Irgendetwas geheimnisvolles ging von ihr aus...

Mein Blick wanderte weiter und ich erkannte, dass sie in eine lange, dunkelblaue Tunika gehüllt war, dessen Stoff so glatt wie Glas war.

Als ich meine Hand ausstreckte, um sie zu berühren, verzogen sich ihre Lippen zu einem Lächeln, aber anders als bei Mama erreichte es nicht ihre Augen.

Mit einem Mal wurde ich von jemand anderem weggerissen und ich sah Mama ins Gesicht, ihre braunen Augen lagen sorgenvoll auf mir.

„Was hast du mit ihr gemacht, Phyria?" Eine Spur Schärfe, aber auch Angst schwang in ihrer Stimme mit und ich wurde unruhig.

Was war hier los?

„Ich habe gar nichts gemacht. Deine Kleine ist wirklich niedlich."

Mama verengte die Augen zu Schlitzen. „Wenn du sie auch nur anfasst, dann-"

„Was dann?", unterbrach die Frau namens Phyria sie und stellte sich vor uns. „Du weißt, dass du nichts gegen mich ausrichten kannst." Zum Ende hin war ihre Stimme kaum mehr als ein bedrohliches Hauchen.

Unwohl wand ich mich in Mamas Armen, doch sie hielt mich fest, als müsste sie mich vor etwas beschützen.

Bestürzt stellte ich fest, dass Mama Tränen in den Augen hatte.

„Nicht weinen", sagte ich, wischte mit einem Finger über ihre Augen und drückte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Wange.

Mama lächelte mich liebevoll an.

„Weißt du Evenia, ich mag jünger sein als du- ganze vierzehn Jahre- aber ich bin weitaus mächtiger. Meine Gabe ist mächtiger."

Die Frau sah uns an und in ihren Augen lag eine unausgesprochene Warnung.

„Ich dachte... ich dachte wir könnten Freunde sein. Ich dachte wirklich, ich könnte dir vertrauen." Meine Mutter geht einen Schritt zurück, dann noch einen, und noch einen.

Wieder lächelte Phyria, doch dieses Mal war es regelrecht grausam.

„Wegen dir wird sie verrückt. Wegen dir wird sie die falschen Entscheidungen treffen."

„Oh nein. Sie wird genau das richtige tun. Mit uns werden Himmel und Erde vereint sein- und wir beide werden regieren."

„Was ist mit Tian? Bedeutet er dir gar nichts?" Die Stimme meiner Mutter klang ungläubig, als könnte sie nicht fassen, was geschah.

„Tian? Er ist ein Narr. Und leicht um den Finger zu wickeln. Wenn wir erst einmal geheiratet haben... was noch Jahre dauern kann, dieser verdammte Idiot... aber es wird passieren, irgendwann, das weiß ich... dann steht uns nichts mehr im Wege. Es wird so einfach sein..." Phyria schnippte mit dem Finger und Mama zuckte zusammen.

„Wenn ich du wäre, Evenia, würde ich aufpassen, was ich sage. Noch werde ich ihrer Bitte Folge leisten, weil sie mir wirklich etwas bedeutet, aber solltest du es zu weit treiben, werde ich nicht zurückschrecken, meine Gabe einzusetzen. Vergiss das nicht."

„Mir bedeutet sie auch etwas", flüsterte Mama und ich sah den Schmerz in ihren Augen. „Mehr, als du dir vorstellen kannst. Aber wenn ihr das wirklich tut, dann..."

„Wie gesagt: Vergiss es nicht."

Mit diesen Worten wandte Phyria sich schwungvoll ab und ließ uns zurück. Vollkommen alleine.

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