Kapitel 48: Unter Kontrolle

Wir blieben noch einen Tag im Nest der Vogelkönigin, bevor wir beschlossen, weiterzuziehen. Durch den Sturz und die darauffolgende Heilung hatten wir ein paar Tage Zeit verloren, und auch wenn es kein Limit gab, wollten wir nicht länger als nötig im Seelenreich bleiben.

Terimano und Benau waren bereits wieder vollkommen auf den Beinen. Beide konnten es, nachdem sie wieder in der Lage waren, klar zu denken, nicht fassen, dass wir alle lebten. Leben war ein kostbares Gut. Das war uns jetzt allen deutlich bewusst geworden.

Wir suchten unsere Sachen zusammen, die verstreut im Nest lagen und packten sie ein. Unsere Ausrüstung hatte sich deutlich dezimiert, aber die Gedanken daran schob ich zur Seite. Sich Sorgen zu machen, nützte rein gar nichts. Ich konnte sowieso nichts daran ändern.

Als wir alles verstaut hatten und bereit zum Aufbruch waren, verabschiedeten wir uns von der Vogelkönigin. Sie hatte uns hier in ihrem Nest willkommen geheißen, trotz anfänglicher Komplikationen bei unserer ersten Begegnung, und dafür würden wir ihr wahrscheinlich immer dankbar sein. Außerdem hatte sie uns geheilt und Féamo ein neues Leben geschenkt. Etwas so wertvolles könnten wir niemals vergessen.

Einer nach dem anderen traten wir vor und verneigten uns vor dem majestätischen und magischen weißen Vogel. Sie schien zu verstehen, was vor sich ging, denn sie neigte den eleganten Kopf und berührte uns mit dem Schnabel. Als ich dran war und die Vogelkönigin mein Haupt berührte, schloss ich die Augen. Es war, als würde ein sanfter Strom Magie durch mich hindurchfließen und mich stärken. Dankbar lächelte ich das Geschöpf an und trat zur Seite.

Venelias Gesicht war traurig verzogen, als sie auf das Wesen zuschritt und beide Hände an den Schnabel legte, mit dem die Vogeldame ihre Stirn berührte. Ein tiefer Laut drang aus der Kehle des Vogels und es klang so traurig, dass sich mir die Kehle zuschnürte. Was auch immer zwischen den beiden geschehen war, es würde sie ewig verbinden. Ein bisschen so, wie ich mit den Véners verbunden war.

Instinktiv fuhr meine Hand an das schimmernde Mal unter meinem Schlüsselbein. Ein Kribbeln entstand unter meinen Fingerspitzen. Ich erinnerte mich als wäre es gestern, als das Véner mich mit seinem Horn berührt hatte. Das Zeichen sollte mir Glück bringen. Vielleicht hatte ich das auch gehabt.

Ich warf einen letzten Blick auf den schönen, weißen Vogel mit den Augen aus Bernstein, dann wandte ich mich um und folgte Venelia, die bereits den hohen Gang ansteuerte, aus dem wir die Vogelkönigin das erste Mal hatten auftauchen sehen.

Nach wenigen Schritten hatte die Dunkelheit uns bereits wieder vollkommen umgeben. Mir war nicht bewusst gewesen, wie viel Licht die Löcher im Höhlendach und die weißen, sanft schimmernden Federn der Vogelkönigin gespendet hatten. Es war nicht einfach, sich zu orientieren, doch Venelia bewegte sich so zielstrebig, als würde sie die Gänge schon ewig kennen.

Der Gang war erstaunlich gewunden und so breit, dass wir zu fünft problemlos nebeneinander gehen konnten. Venelia lief rechts ein Stückchen vor mir, den Blick starr nach vorne gerichtet. Links lief Féamo.

Beinahe beiläufig streifte sein Arm beim Gehen den meinen. Doch dafür war es zu oft. Aber es störte mich nicht, vielleicht weniger, als es sollte.

Nach ein paar Minuten stieg der Weg an und führte immer weiter nach oben. Irgendwann war der Weg zu Ende und wir standen vor einer Wand aus dunkelgrünen Pflanzen.

Wir blieben stehen und ich atmete tief ein. Bald würden wir wieder draußen sein, in der Wildnis. Der Frieden war vorbei. Ab jetzt waren wir nicht mehr in Sicherheit. Ein leises Gefühl der Wehmut kam in mir hoch, doch ich unterdrückte es und schluckte schwer. Das hier würden wir auch noch schaffen.

Venelia trat einen Schritt vor und schob mit einer Hand die Ranken beiseite. Kühle Luft schlug uns entgegen, folglich musste die Nacht grade hereingebrochen sein. Einer nach dem anderen kletterten wir aus dem Ausgang hinaus und traten ins Freie.

Das Licht, das und spärlich empfing, war für unsere, an die Dunkelheit gewöhnte Augen, ein richtiger Angriff. Geblendet kniff ich die Augen zusammen. Mir war nicht bewusst gewesen, wie dunkel es wirklich in der Höhle gewesen war.

Als wir alle draußen waren, ließ Venelia die Ranken los und wir traten einen Schritt zurück. Wenn man es nicht wusste, konnte man nicht einmal erahnen, dass unter uns das Nest eines riesigen Vogels lauerte.

„Also dann...", sagte ich und lächelte leicht. „Gehen wir."

Und wir machten uns auf den Weg. Es fühlte sich so an, als ob wir niemals auf die Vogelkönigin getroffen wären, als wäre Féamo nie gestorben, als hätten wir niemals einen Sturz in die Tiefe erlebt. All das kam mir unwirklich vor, und bei den Gedanken daran schüttelte ich den Kopf.

Der Weg war wie gewohnt matschig und schon bald waren wir wieder vollkommen durchnässt. Ich seufzte leise, als ich versehentlich in eine Pfütze trat und das Wasser in meine Schuhe schwappte. Das hatte ich im Nest wahrlich nicht vermisst.

Wir liefen lange, schweigend und ausdauernd. Wir waren uns einig, dass wir so viel wie möglich heute noch schaffen mussten.

Nach mehreren Stunden mussten wir Rast machen. Mittlerweile war es so dunkel, dass wir nicht mehr sehen konnten, wohin wir traten, und wir wollten nicht riskieren, dass noch etwas passierte. Bei dem Gedanken daran machte sich ein mulmiges Gefühl in mir breit.

Weil rings um uns herum nur niedrige Pflanzen wuchsen, mussten wir uns ohne Schutz auf den matschigen Boden setzen. Die Kälte kroch bis in meine Knochen und ich begann, zu zittern. Wortlos rutschte Féamo näher zu mir, bis mir Seite an Seite nebeneinandersaßen, um uns gegenseitig zu wärmen.

Sachte, damit er es nicht bemerkte, atmete ich ein. Sein typischer, bittersüßer Duft erfüllte die Luft und Ruhe breitete sich in mir aus. Ich fragte mich, ob nur ich seinen Geruch so intensiv wahrnahm- oder ob er generell einen sehr ausgeprägten Duft hatte.

Langsam wandte ich den Kopf und sah ihn an. Seine Augen leuchteten so grün, wie die Wiesen in Belvêo.

Bevor ich es verhindern konnte, sprach ich die Worte aus, die mir durch den Kopf gingen.

„Du weißt gar nicht, wie froh ich bin, dass du hier bist."

Ich biss mir auf die Unterlippe und senkte den Blick. Eigentlich hatte ich nicht so direkt sein wollen.

Er schwieg eine ganze Zeit und ich dachte schon, dass ich ihn mit meinen Worten überfordert hatte. Innerlich verpasste ich mir selber einen Tritt in den Hintern. Das hier war nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt gewesen.

„Ich bin auch froh, dass du da bist. Bei mir", sagte er und seine Stimme war so leise, dass nur ich ihn verstehen konnte.

Ich hob den Blick und sah ihn an. Sein Blick, der nach seiner Wiederbelebung immer etwas desorientiert gewirkt hatte, lag sanft auf mir.

Am liebsten hätte ich ihn die ganze Zeit so angesehen, doch nach einer Weile senkte ich in einer ungewohnt schüchternen Geste den Kopf und besah den schlammigen Boden.

Mir wurde klar, was passiert war. Ich hatte mir dieses Gefühl nie vorstellen können, doch jetzt erschien es mir, als ob ich gar nicht ich war, wenn ich es nicht hatte. Und gleichzeitig wusste ich nicht, ob ich mir selbst trauen konnte.

Ich hatte mich verliebt. Dieser Junge mit seinen schönen, grünen Augen und der samtigen, dunklen Stimme hatte sich in mein Herz geschlichen und brachte es dazu, schneller zu schlagen. Es war ein seltsam angenehmes Gefühl. Ich hatte mich nie so sicher und gleichzeitig so verletzlich gefühlt.

Mein Blick ging ins Leere und mein Kopf füllte sich mit Gedanken. Doch eine Stimme war am lautesten.

Sie sagte mir, dass der Junge, der mich so fühlen ließ, mein Herz zum Stillstand bringen konnte, es zerbrechen konnte, bis ich blutete. Und er würde es tun. Denn die Herrscherin hatte es befohlen.

Und obwohl ich dieses Gefühl nicht missen wollte, obwohl ich nicht auf ihn verzichten wollte, machte der Gedanke mir Angst, wie sehr er mich nun unter Kontrolle hatte.

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