Kapitel 42: Schmerz

„Das erklärt rein gar nichts."

„Du musst es nicht verstehen. Du bist noch jung, dir fehlt die Erfahrung."

„Das hat nichts mit Erfahrung zu tun. Wie können Sie dieses Vorhaben nur in Erwägung gezogen haben?"

„Sie ist unberechenbar. Und sehr stark. Wir müssen diese mögliche Gefahr bannen. Es gibt Geheimnisse, von denen ich nicht will, dass sie entdeckt werden."

„Unberechenbar? Wovor haben sie Angst, Ranajea? Wenn Sie nichts zu verbergen haben, wird sie nichts entdecken."

„Wie ich bereits sagte, du musst das nicht verstehen. Noch ist nichts geschehen und solange das so bleibt, wird nichts passieren. Sollte sie Probleme machen, erwarte ich, dass du dich darum kümmerst."

„Wie können Sie so etwas tun?"

„Ich beschütze die Welt lediglich vor etwas, das so schlimm ist, dass du es dir nicht mal vorstellen kannst."

„Hast du Angst?", fragte er.

„Nein", antwortete ich.

•••

Ich öffnete meine Augen. Dunkelheit umgab mich, Schmerz pochte in mir. So hatte ich mir mein Dasein als Seele nicht vorgestellt.

Und dann erst verstand ich, was los war. Ich war nicht tot.

Fast konnte ich es nicht glauben. Es war nahezu unmöglich, dass ich noch lebte. Das konnte nicht wahr sein. Probehalber atmete ich tief ein und zuckte zusammen, als ich mich dabei bewegte, was mich dazu veranlasste, vor Schmerz aufzustöhnen. Ich fühlte mich wie verbrannt, gefressen und halbverdaut. Und das alles gleichzeitig.

Eine Weile blieb ich liegen und versuchte, wieder zu mir selbst zu finden. Meine Gedanken schwirrten ziellos umher und es war mühsam, sie wieder einzusammeln und fest in meinem Kopf zu verschließen.

Als ich glaubte, dass ich mich einigermaßen gesammelt hatte, setzte ich mich in Zeitlupe auf. Schmerz schoss durch die Finger meiner linken Hand und pochte aggressiv in meinem Schädel. Ich stieß die Luft zwischen meinen Zähnen hervor und kniff die Augen zusammen. Erst, als die Schmerzwelle abgeebbt war, wagte ich, meine Augen wieder zu öffnen.

Es war nicht so dunkel, wie ich gedacht hatte. Schwach konnte ich Umrisse erkennen, ein paar Details, die mein Auge erfassen konnte.

Ich ließ vorsichtig meinen Kopf kreisen. Der Schmerz pochte unablässig und ich presste die Lippen aufeinander. Meine Hand wanderte instinktiv zu meinem Kopf und ich hätte fast aufgeschrien, als der Schmerz meine Finger durchfuhr. Hoffentlich hatte ich mir sie nicht gebrochen.

Ich hob die andere Hand und betastete meinen Kopf. Zuerst fühlte ich nichts, doch dann benetzte warme Flüssigkeit meine wunden Fingerspitzen und ich knirschte mit den Zähnen. Das war eine dicke Platzwunde.

Ich wischte meine Finger an der Hose ab und sah mich ein weiteres Mal um. Meine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt und ich konnte drei leblose Gestalten entdecken, die verteilt neben mir lagen, als wären sie Spielzeug, dass man achtlos weggeworfen hatte.

Mein Herz stockte und ich hielt die Luft an. Bitte nicht. Ich wollte nicht, dass ich die Einzige war, die das hier überlebt hatte. Doch ich wusste, dass es kaum möglich war, dass die anderen noch lebten.

Langsam kroch ich zu der nächstbesten Gestalt, trotz des dröhnenden Schmerzes in meinem Kopf. Vermutlich hatte ich eine Gehirnerschütterung, denn bei der nächsten Bewegung wurde mir speiübel und ich sank zusammen. Es dauerte etwas, bis ich den Würgereiz vollständig unterdrückt hatte und richtete mich erst dann sehr langsam auf, und kroch vorsichtig, fast schon behutsam, weiter.

Es war Féamo. Er lag auf der Seite, sein Gesicht von mir abgewandt. Ich wusste nicht, ob ich für das bereit war, was ich sehen würde.

Langsam drehte ich seinen schweren Körper um. Seine Augen waren geschlossen und tiefe Schürfwunden bedeckten sein gesamtes Gesicht. Es sah aus, als hätte er mit dem Gesicht seinen Fall gebremst, nach dem wir aufgeschlagen waren. Dreck klebte in den blutenden Wunden und seine Augen waren fast zu geschwollen. Meine Unterlippe begann, zu zittern und mir wurde kurz schwarz vor Augen. Ich war am Ende meiner Kräfte und die Verletzungen taten ihr Übriges.

Auch meine Finger zitterten, als ich die Hand hob und ihm die schwarzen Haare aus dem Gesicht schob. Ich betrachtete den Rest seines Körpers, doch ich konnte nichts offensichtliches erkennen. Langsam beugte ich mich vor, ignorierte das Pochen in meinem Schädel und legte mein Ohr an seine Brust. Ich hörte mein Blut, das in meinen Adern rauschte, hörte mein Herz, das wie wild im Gleichtakt mit dem Pochen meines Schmerzes schlug, doch ansonsten war- Stille. Erdrückende Stille.

Das Zittern erfasste meinen ganzen Körper und ließ mich unkontrolliert Zucken. Ich sank zu Boden und legte mich kraftlos hin, ergab mich den Schmerzen, der Trauer, dem Leid. Meine Gedanken kreisten unaufhörlich und schwindelerregend um mich, um meine Freunde, den Sturz. Tränen brannten heiß in meinen Augen, doch ich konnte nicht weinen, und in diesem Moment verfluchte ich mich dafür. Wieso konnte ich meine Trauer nicht zeigen und meinen Tränen freien Lauf lassen, selbst wenn es niemanden gab, der sie hätte sehen können?

Es verging einiges an Zeit, in der ich nichts weiter tat, als stumpf vor mich hinzustarren und auf das Dröhnen und Pochen meines Blutes zu lauschen. Der Schmerz brandete immer wieder auf, wie die Wellen von Wasser an stürmischen Tagen. Meine Finger ballten sich kraftlos zu einer Faust- und ließen mich stocken. Meine Hand hatte etwas gestreift, das so weich war, dass es mich an mein Bett zu Hause erinnerte. Noch einmal öffnete ich meine Handfläche, dann strich ich vorsichtig über den Boden.

Er bestand aus diesem weichen Zeug. Es erinnerte mich an riesige Federn, die zart meine Haut streiften. Ich richtete mich erneut auf, fuhr mit den Fingern meiner unverletzten Hand über den Boden. Deshalb war ich nicht gestorben. Ich war auf Terimano und Benau gelandet, von ihnen hinuntergerollt und auf diesem weichen Untergrund gelandet. Doch ich verstand immer noch nicht. Wieso war Féamo dann... nicht mehr am Leben?

Ich schüttelte den Kopf und zischte auf, als der Schmerz einer Warnung gleich, plötzlich aufblitzte. Ich wollte nicht an ihn denken. Ich wollte nicht daran erinnert werden, was ich mit ihm verloren hatte.

Mühsam begab ich mich zu den anderen Gestalten, die dort lagen. Sie hatten sich in der ganzen Zeit nicht gerührt und ich hatte Angst davor, dass sie es womöglich nie wieder tun würden. Doch das konnte ich nur wissen, wenn ich es überprüfte. Also robbte ich zu Terimano, der, alle viere von sich gestreckt, inmitten der weichen Dinger lag, die Augen geschlossen.

Mein Blick wanderte an seiner Gestalt hinauf und hinab, immer mit der Angst, eine Leiche anzublicken. Als meine Augen an seinen Beinen angelangt waren, schloss ich entsetzt die Lider. Blut strömte aus einer langen Wunde und benässte den Boden, färbte ihn rot. Krampfhaft versuchte ich, jetzt nicht an meine Schwester zu denken. Diese Bilder hatte ich niemals aus meinem Kopf bekommen.

Ich öffnete meine Augen und versuchte, nachzudenken. Tief atmete ich ein und aus. Es roch staubig und modrig, gleichzeitig durchdringend metallisch, was an dem Blut liegen musste. Woher hatte Terimano diese Wunde? Wie hatte er sich so sehr verletzen können? Ich ließ meinen Blick schweifen, immer darauf bedacht, meinen Kopf nicht allzu hektisch zu bewegen.

Mir fiel etwas ins Auge und ich sah genauer hin. Es glich einer eingedellten Scheibe, die matt weißrosa gefärbt war und an den Rändern scharfe Zacken und Kanten hatte. Sie war größer als mein Kopf und ich konnte bei bestem Willen nicht identifizieren, was das für ein Teil war. Doch jetzt wusste ich zweifelsohne, woran Terimano sich verletzt hatte, denn an den scharfen Kanten klebte Blut. Er musste sich dort aufgeschlitzt haben.

Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Gesicht des Jungen zu. Es war blass und fühlte sich kalt an, doch ich hoffte, dass das nur an dem Blut lag, dass er verlor. Dass er auch tot war, wagte ich nicht einmal zu denken. Ich strich ihm übers Gesicht, dann wiederholte ich meine Prozedur und lauschte auf ein Lebenszeichen.

Erleichtert keuchte ich auf, als ich das schwache Klopfen seines Herzens hörte. Er lebte. Aber das würde nicht mehr lange so bleiben, wenn ich nicht sofort etwas gegen den Strom aus Blut tat, der nur so aus der Wunde hinausfloss. Ich sah mich nach Dingen um, die ich auf die Wunde pressen konnte, doch es gab nichts, was dafür geeignet wäre. Kurzentschlossen riss ich mein ohnehin zerschlissenes Oberteil auseinander. Dabei beachtete ich nicht den unsagbaren Schmerz, durch meine Hand schoss.

Schnell befreite ich die Wunde von groben, nicht zu deutenden Partikeln und presste den Stoff auf die Quelle der roten Körperflüssigkeit. Ich musste mit meiner rechten Hand alle Kraft aufwenden, die mir blieb, denn meine linke hatte sich in ein unbrauchbares, schmerzendes Stück Fleisch verwandelt und ich wagte nicht, sie zu bewegen. Vermutlich hatte ich mir wirklich alle Finger gebrochen.

Schneller als mir lieb war, hatte sich der Stoff vollgesogen und meine Hand wurde mit warmem Blut beschmutzt. Ich biss die Zähne zusammen und versuchte, den Stoff fester auf den tiefen Schnitt zu pressen, aber mittlerweile quoll das Blut daran vorbei, als wollte es um jeden Preis aus dem Körper hinaus.

Die Rucksäcke. Irgendwo hier mussten sie liegen. Hektisch wandte ich den Kopf und verfluchte mich im Stillen, weil ich meine eigene Verletzung vergessen hatte. Nur langsam konnte ich mich aufrichten, und nach dem wertvollen Gut suchen, doch im Halbdunkeln war es äußerst schwierig, etwas zu erkennen. Zwei Mal stolperte ich mühsam auf irgendwelche Erhebungen zu, die sich schlussendlich als große Steine entpuppten, bis ich schließlich doch einen der Rucksäcke fand. Es war der von Venelia.

Meine Kehle schnürte sich zu. Dass sie nicht lebte, war so klar, wie Wasser. Und es machte mich unendlich traurig. Ich wusste nicht, womit ich es verdient hatte, so viele geliebte Menschen zu verlieren.

Ich schnappte mir die Tasche und ging zurück zu Terimano, der nach wie vor bewusstlos dort lag. Bildete ich es mir ein, oder war er noch blasser geworden?

Schnell öffnete ich den Verschluss und suchte nach etwas, womit ich Terimano notdürftig versorgen konnte. Ich entdeckte ein paar Oberteile, die ich beiseite legte, außerdem die Schnüre, mit denen Venelia sich immer die Haare zusammengebunden hatte.

Ich packte den Stoff zusammen und legte ihn in mehreren Lagen über die Beinwunde. Jetzt kam der fiese Teil. Irgendwie musste ich die Bänder zusammenbinden, und die Stoffe an dem Bein befestigen. Und dazu musste ich beide Hände benutzen. Mir wurde schon schwindelig, wenn ich nur an den Schmerz dachte.

Doch es nützte nichts. Ich biss meine Zähne zusammen und begann, Terimano zu verarzten.

Mehrmals konnte ich nur geradeso einen Schrei unterdrücken, wenn meine Finger Schmerzwellen bis in mein Gehirn schickten, und oft genug konnte ich es nicht. Doch ich machte trotzdem weiter.

Ich wollte nicht in dieser Welt alleine sein.

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