Kapitel 40: In die Tiefe

Es brauchte etwas, bis wir uns orientiert hatten, und uns für einen Weg entschieden. Die Luft war kalt und roch faulig, gemischt mit einem Hauch verbranntem Fleisch. Das Gerippe der Bestie ragte über all dem empor, wie ein grausiges Denkmal.

Ich schüttelte mich und wandte den Blick von den verkohlten Knochen ab. Ich wollte es mir nicht länger ansehen, als unbedingt nötig.

Den Weg, den wir gewählt hatten, verfluchte ich im stillen nach bereits zwei Minuten. Weil wir in eine tiefe Bodenkuhle gelangt waren, war der einzige Weg hinaus, die steilen Hänge.

Immer wieder rutschte ich weg und konnte mich so grade an irgendwelchen hervorstehenden Wurzeln festhalten. Es war mühsam, und nach kurzer Zeit begannen meine Fingerspitzen, weh zu tun. Doch ich klagte nicht. Wieder einmal hatte ich etwas überlebt, das mir unmöglich erschienen war.

Ich fragte mich, ob die Seelensucher vor uns den gleichen Gefahren ausgesetzt gewesen waren, wie wir. Wenn ja... konnten die Hindernisse wirklich so gefährlich sein, wie alle immer sagten?

Meine Gedanken wurden unterbrochen, als ich ein weiteres Mal ausrutschte, und mir bei dem Versuch, mich festzuhalten, die Fingerspitzen aufschürfte. Ich seufzte und blieb im Schlamm liegen. So erschöpft wie ich war, würde ich nicht weit kommen, bis ich das nächste Mal ausrutschen würde.

Eine Gestalt rutschte neben mich, sodass wir beide am Hang lagen. Féamo.

Ich wandte den Kopf und sah ihm ins Gesicht.
„Ich kann nicht mehr", sagte ich.

„Ich weiß", antwortete er. „Wir auch nicht. Wir machen eine Pause."

„Was ist, wenn wir wieder angegriffen werden? Von irgendeinem Vieh, das hier in der Nähe lebt?"

Er zuckte mit den Schultern. „Es bringt uns nichts, wenn wir völlig übermüdet sind. Dann können wir uns nicht wehren.

Ich schwieg. Er hatte recht, trotzdem war es wahnsinnig. Doch ich sagte nichts dagegen, denn dafür war ich zu erschöpft.

Wasser landete auf meiner Wange. Dann noch ein Tropfen. Und noch einer. Es wurden immer mehr und bald darauf goss es in Strömen. Der Matsch wurde weicher und flüssiger und ich rutschte langsam ein Stück nach unten, und mit mir zusammen meine Stimmung.

Terimano schlitterte den Hang hinunter, bis er bei mir angelangt war und streckte mir die Hand entgegen. „Komm", sagte er. „Wir suchen uns Unterschlupf und dann essen wir was. Du hast doch bestimmt Hunger."

Ich nickte und ergriff seine Hand. Féamo rappelte sich neben mir umständlich auf und gemeinsam krochen wir nach oben zu Benau und Venelia, die dort am Rand knieten und uns helfend ihre Hände entgegenstreckten.

Als wir alle oben angekommen waren, gingen wir weiter. Der Regen hatte mich bereits völlig durchnässt und ich trottete mit gesenktem Kopf hinter Terimano her, der uns einen Weg durch den Schlamm schlug. Ich fühlte mich äußerst unwohl und dachte sehnsüchtig an die riesige Badewanne im Regierungsgebäude. Ich stellte mir vor, wie ich heißes Wasser einließ und wohlduftende Badeöle dazugab. Ein Traum.

Und das hier war harte Realität.

Terimano machte halt und wir verkrochen uns zu fünft unter den weit ausladenden Blätter einer Pflanze. Dann holte er aus seinem Rucksack diese komischen Blüten-Körner-Kekse und gab jedem einen.

„Das ist das letzte, was ich habe", sagte er, seine Stimme klang dünn in Zusammenspiel mit dem prasselnden Regen und der Tatsache, dass er verkündet hatte, dass wir sobald nichts mehr zu essen haben würden.

Meine Kehle schnürte sich zu, als ich in den durchweichten Keks biss. Ich versuchte, es zu genießen, doch die Körner waren mittlerweile ranzig geworden und ich musste mich zwingen, jeden kleinen Bissen zu schlucken.

Zum ersten Mal in dieser Reise wünschte ich mir, ich wäre wieder zu Hause. Zu Hause bei meinem Vater, bei Demurì, bei meinen Freunden.

Doch dann dachte ich an meine Schwester und empfand schon wieder ein schlechtes Gewissen. Wie hatte ich dabei nicht an sie denken können, meine kleine Katie? Ich machte es für sie.

Nein, das tat ich nicht. Ich machte diese Sache für mich. Ich wollte sie wiedersehen.

Ich legte meinen Kopf auf die nächstbeste Schulter. Es war Féamo. Er lehnte seine Wange an meine nassen Haare und ich machte die Augen zu. Ich wollte schlafen.

Nur ein bisschen schlafen.

•••

Ranajea. Sie sah mich an, das falsche Lächeln auf ihrem Gesicht, die Augen kalt und starr auf mich gerichtet.

„Wie heißt du denn?"

Sie ging in die Hocke und nahm mich bei den Ellbogen. Die Geste sollte sanft wirken, doch ihr Griff war zu fest. Ich versuchte, mich aus ihren Händen zu winden, doch sie blieb eisern.

„Wie heißt du, Kleine?"

„Ich bin nicht ,die Kleine'", entgegnete ich trotzig. „Ich bin ,die Große'. Ich heiße Limeana."

„Sehr schön, Limeana. Und wer ist dann ,die Kleine'?"

„Katie. Ich hab sie ganz doll lieb."

Das Lächeln der Herrscherin wurde breiter.

„Das kann ich mir vorstellen", sagte sie sanft.

•••

Wild schlagend kam ich wieder zu mir. Ich spürte, wie jemand meine Handgelenke packte und mich festhielt.

„Es ist gut. Hörst du? Beruhige dich." Féamos Stimme.

Ich atmete tief ein und versuchte, mein wild schlagendes Herz zu beruhigen. Seit zwei Tagen hatte ich keine Vision mehr gehabt, dennoch hätte mir klar sein müssen, dass das nicht von Dauer war. Wie hatte ich denken können, sie würden mich in Ruhe lassen?

Ich setzte mich auf und wischte mir Dreck und Regenwasser aus dem Gesicht. Féamo starrte mich an, doch ich ignorierte ihn. Mein Blick fiel auf Terimano, der mich mit vor Schreck geweiteten Augen ansah.

„Was war das?", fragte er flüsternd.

„Ich..." Ich rieb mir ein weiteres Mal über das Gesicht, als könnte ich die Bilder, die ich gesehen hatte, aus meinen Gedanken streichen. „Es ist schwer zu erklären."

Venelia hob die Augenbrauen. „Du hast dich angehört, als würdest du von diesem Riesenvieh angegriffen werden", sagte sie.

Ich wandte den Blick ab. Ich wollte nicht erklären müssen, was ich jedes Mal sah, wenn ich einschlief. Nicht mal ich selber wurde schlau daraus. Zum Glück fragten meine Freunde nicht weiter nach sondern machten sich zum Aufbruch bereit. Es brachte uns nichts, wenn wir weiter hier hockten. Wir mussten so schnell wie nur irgendwie möglich, das erste Hindernis verlassen.

Schweigend stapften wir weiter. Der Boden war so aufgeweicht, dass ich bis zu den Knöcheln im Schlamm versank und ich verzog bei jedem Schritt das Gesicht. Den Dreck würde ich wahrscheinlich nie wieder loswerden.

Je weiter wir gingen, desto mehr Kälte kroch meinen Körper empor. Nach zwei Stunden konnte ich meine Füße nicht mehr spüren, meine Schritte waren nicht mehr als monotone Bewegungen. Eins, zwei, drei, vier. Eins, zwei, drei, vier.

Ich hielt den Blick gesenkt, als würde dort die Antwort auf all meine Fragen liegen. Dabei wusste ich nicht einmal wirklich, welche Fragen das waren. Wahrscheinlich waren es einfach zu viele.

Mit einem Mal konnte ich mir nicht mehr vorstellen, je wieder mein Leben so weiterzuleben, wie ich es vor der Suche getan hatte. Sicher, ich wollte meinen Vater wiedersehen, mein kleines Kitz, meine Freunde. Ich vermisste sie schmerzlich. Und doch... ich könnte nie wieder einfach normal leben. Irgendwie kam mir schon die Vorstellung unmöglich vor.

Plötzlich riss etwas schmerzhaft an meinem rechten Arm. Venelia. Ich fiel hin und riss Féamo mit mir. Venelia schrie und klammerte sich an meinem Arm fest. Zuerst verstand ich nicht, was los war, doch dann sah ich die Ursache ihrer Panik.

Zwischen uns tat sich ein tiefes Erdloch auf. Es einen Meter breit und so tief, dass ich den Boden nicht ausmachen konnte. Und Venelia hing dort drinnen, einzig und alleine gehalten von mir.

Ich erwachte aus meiner Starre und schlang beide Hände um Venelias Arme. Tränen liefen ihr über die Wangen und unsagbare Angst lag in ihren aufgerissenen Augen. Féamos Hände schlossen sich fest um meine Knöchel, damit ich nicht mit unserer Freundin in die Tiefe gerissen wurde.

Benau fluchte und warf sich bäuchlings auf die Erde, seine Hände streckten sich zu Venelia.

„Nimm... meine... Hand", presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Terimano packte Benaus Knöchel und hielt ihn krampfhaft fest.

Meine Hände waren schwitzig und Venelia drohte, aus meinem Griff wegzurutschen.

„Nein", keuchte ich und packte sie fester „Nein."

Ich würde sie nicht loslassen. Ich durfte es nicht.

Venelia sah mich an. Ihre Augen schwammen in Tränen.

Sie wurde von einer unsichtbaren Kraft aus meinen Händen gezogen. Ich stieß einen lautlosen Schrei aus. Benau lehnte sich vor, versuchte, Venelia zu erreichen, doch seine Fingerspitzen glitten an ihrer Hand vorbei.

Und sie stürzte schreiend in die Tiefe, so lange, bis wir sie nicht mehr hören konnten.

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