Kapitel 39: Wunder

Mein Atem ging flach und ich fühlte mich eingesperrt. Das Knurren war unmittelbar neben uns zu hören gewesen, und es war so dunkel, dass wir nicht sehen konnten, in welche Richtung wir fliehen sollten.

Unwohlsein ergriff mich. Ich flehte, dass dieses Wesen einfach weitergehen würde, uns nicht weiter beachten würde. Doch ich wusste, dass das Wunschdenken war. So, wie eigentlich immer, wenn eine Gefahr bevorstand.

„Deine Streichhölzer", flüsterte Terimano plötzlich.

Ich wandte den Kopf. „Was?!"

„Du hast doch noch Streichhölzer, oder? Zünde eins an, damit wir was sehen können."

Ich schluckte schwer, als ich meine Finger vorsichtig aus Venelias Hand löste und das gleiche auch bei Féamo versuchte. Ich fühlte mich unsagbar verletzlich.

Doch Féamo gab meine Hand nicht frei.

„Ich lasse dich auf gar keinen Fall los", hauchte er kaum hörbar.

Ich warf ihm einen dankbaren Blick zu, den er in der Finsternis wahrscheinlich nicht sehen konnte, und öffnete mit zitternden Fingern meinen Rucksack. Blind tastete ich nach den Streichhölzern und sog jedes Mal scharf die Luft ein, wenn ich versehentlich ein Geräusch machte.

Endlich hatte ich eins gefunden, als das Knurren erneut ertönte. Dieses Tier wusste, dass wir in der Falle saßen und wehrlos waren, es bemühte sich nicht einmal, leise zu sein. Sachte atmete ich aus und begann, nach den Streifen zu suchen, mit denen ich die Hölzer anzünden konnte. Meine Freunde sagten nichts, doch ich konnte ihre Unruhe und Anspannung spüren, als wären sie meine eigenen Gefühle.

Was vermutlich nicht einmal ganz falsch war.

Ich brauchte drei Anläufe, bis ich es schaffte, das Streichholz anzuzünden. Das Licht, das daraufhin erschien, war überraschend trostspendend. Es erhellte schwach die Umgebung und die Gesichter meiner Reisegefährten, in denen die Angst die Züge zu Grimassen erstarren ließ.

Ich schwenkte das Hölzchen herum- und hätte es beinahe fallengelassen. Zwei Meter von uns entfernt, hockte die Kreatur und beobachtete uns interessiert.

Selbst im Liegen war das Vieh doppelt so groß wie Benau. Der Körper war ausgemergelt und die Knochen stachen scharf zwischen sehnigen Muskelsträngen unter rosiger Haut hervor. Der Kopf des Wesens war grobschlächtig, die schwarzen Augen lagen in tiefen Höhlen. Es öffnete sein Maul, als ob es unseren Geruch auf der spitzen Zunge schmecken wollte und entblößte dabei scharfe, schwarzglänzende Reißzähne.

Grauen packte mich. Mein Körper hätte vor Panik fast jegliche Funktion aufgegeben.

Das Tier streckte sich und demonstrierte Krallen, die den Zähnen in nichts nachstanden. Féamo schüttelte in einer verzweifelten Geste den Kopf. Wenn wir auch dieses Wesen überlebten, hatten wir definitiv mehr Glück, als Verstand.

„Scheiße." Das war Benau. „Scheiße, Scheiße, Scheiße."

Das Wesen erhob sich, langsam und gemächlich, streckte den Körper, der zum Laufen, Jagen und Töten wie geschaffen schien.

Plötzlich fiel mir etwas ins Auge und ich runzelte die Stirn. Ich hielt das brennende Stöckchen näher und sah mir die Kreatur genauer an, die sich grade zu ihrer imposanten Größe aufrichtete. Das Ding war wirklich riesig.

Die fahle, rosige Haut glänzte, als würde eine Schicht aus schleimigem Wasser sie bedecken. Dieses Tier war es gewohnt, in feuchter Umgebung zu leben. Ich fragte mich, ob es ohne diese Schutzschicht austrocknen würde.

Terimano schien meine Gedankengänge zu teilen.

„Es sieht so aus, als würde es eine Schutzschicht auf der Haut haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie zur Verteidigung ist, aber irgendwas muss sie bedeuten." Seine Stimmte zitterte, doch er bemühte sich krampfhaft, ruhig zu bleiben.

Ich betrachte das Wesen erneut. Es beleckte die Zähne, als wollte es über uns lachen.

Und dann schnellte es vor, und schlug sein Gebiss in einem lauten Knall zu, und verfehlte mich damit nur um Haaresbreite. Warum es mich verfehlte? Weil ich das dümmste und klügste zugleich getan hatte; Aus einem Reflex heraus handelnd, bewarf ich das Wesen mit dem brennenden Streichholz.

Dann passierten viele Dinge auf einmal. Féamo und Venelia brüllten gleichzeitig meinen Namen, während Benau nach vorne hechtete und mich an der Hüfte zurück riss. Währenddessen fing das Ungeheuer vor und Feuer. Und zwar buchstäblich.

Die Flamme des Streichholzes hatte beinahe sofort auf die empfindliche Haut des riesigen Tieres übergriffen, und setzte es nun in Sekundenschnelle in Brand. Kreischend schlug das Wesen um sich, ließ kopfgroße Steine durch die Luft fliegen und mähte zwei kleinere Bäume um. Meine Haare standen zu Berge.

Doch davon bekamen wir nicht viel mit. Denn wir rannten bereits um unser Leben.

Wir stolperten und rutschten den Weg entlang. Hinter uns ertönte das Fauchen und Schreien des Ungeheuers und wir hörten das Feuer, das sich zischend durch die Haut des Wesens grub. Die Schutzschicht der Haut war sein Todesurteil gewesen, es hatte angefangen zu brennen, wie bei trockenem Gras. Auch wenn das Wesen uns hatte töten wollen, und dabei mit Sicherheit nicht zimperlich umgegangen wäre, wünschte ich ihm, dass es schnell vorbei war.

Plötzlich erzitterte der Boden und ich hörte riesige Pfoten, die auf weichem Untergrund trommelten. Das Tier mochte dem Tode nahe sein, doch es hatte immer noch eines im Sinn- uns zu töten.

Ich sah mich um und bereute es in dem Augenblick, in dem ich die Bestie erblickte. Einem lebendigen Flammeninferno gleich, lief sie auf uns zu, die schwarzen Augen voller Hass, Schmerz und Zorn.

Ich verlor den Boden unter den Füßen und rutschte einen steilen, schlammigen Hang hinunter. Ich konnte einen Schrei nicht unterdrücken, als ich hart auf dem Boden aufkam und tief in kaltem Matsch landete. Neben mir landeten unsanft meine Freunde.

Ein lautes Rauschen fegte über uns hinweg und Hitze schlug mir entgegen, als die Kreatur den Hang in einem riesigen Satz hinabsprang und vor uns zum stehen kam.

Mit Entsetzen wurde mir klar, dass wir in der Falle saßen. Hier würde niemand von uns diesem Vieh entkommen.

Es kauerte sich nieder und starrte uns an. Die Augen spiegelten das Licht des Feuers, das es zerfraß. Doch es machte keine Anstalten, uns anzufallen. In einer plötzlichen, müden Geste, fiel es in den Matsch. Es legte den Kopf ab und sah uns an, starrte uns in die Augen und wir sahen zu, wie es starb, aufgefressen von Flammen.

Dies war zuerst eine kleine Flamme gewesen, die uns in einer dunklen Situation Licht verschafft hatte. Und jetzt war sie das traurige Todesurteil einer bösen Kreatur.

Wir sahen zu, wie das Wesen die Augen schloss  und sich dem Feuer hingab. Ich starrte es an, unfähig, den Blick abzuwenden. Nach wenigen Minuten war von dem einstigen Ungeheuer nicht mehr übrig geblieben, als Asche, Rauch und ein verkohltes Gerippe. Es hatte wenige Augenblicke, nachdem es sich vor uns hingelegt hatte und somit gezwungen hatte, zuzusehen, das Bewusstsein verloren.

Eine ganze Weile saßen wir dort, und konnten uns nicht rühren. Zu tief steckte der Schock in unseren Knochen.

Mit einem Mal stürmten zwei kleine Gestalten aus den Tiefen des Dschungels. Klein war übertrieben, sie waren etwa so groß wie ich, mit schwarzen Krallen und Augen und rosiger Haut. Sie gaben klagende Geräusche von sich und umrundeten die verbrannte Gestalt. Mir blieb kurz das Herz stehen. Es hatte Junge gehabt?

Eines der beiden blickte auf und sah zu uns hinüber. Ich setzte mich grader hin und tastete nach meinem Rucksack, doch ich fand ihn nicht. Mein Herz schlug schneller. Wo war er? Bei dem Sturz musste ich ihn verloren haben.

Das Junge kam näher und senkte neugierig den Kopf. Ich erstarrte und blickte es an, sah in die tiefschwarzen Augen. Ich konnte nichts in ihnen erkennen. Das andere Junge gab ein kratziges Geräusch von sich, das sich anhörte, wie ein Fauchen. Das andere, das vor mir stand, wandte den Kopf und schnappte drohend in die Luft.

Ich hielt den Atem an. Würden sie uns angreifen und töten, wie die Mutter es zuvor versucht hatte?

Dann drehte es sich wieder zu mir um. Die schwarzen, unergründlichen Augen bohrten sich in die meinen, dann leckte es sich über die Schnauze, trat zurück, wandte sich um und rannte davon. Das andere folgte ihm, nicht ohne uns leise anzuknurren und schon bald waren wir wieder ganz alleine.

In diesem Moment fühlte ich mich, als hätte ich ein Wunder erlebt. Ein echtes. Dieses Wesen, dessen Natur es war, zu morden und zu jagen, hatte uns gehen lassen. Vielleicht waren diese Raubtiere doch nicht unfähig, zu fühlen und sich zu entwickeln.

Venelia hockte sich vor mich hin und sah mir in die Augen. Sie war schlammverschmiert und ihre Haare waren verklebt. Sie musterte mich prüfend. „Ist alles in Ordnung?"

Ich nickte nur und rappelte mich auf. Die anderen folgten meinem Beispiel. Wir verloren kein Wort über das, was passiert war. Wie so oft gab es nichts zu sagen.

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